Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 29.05.2007, Az.: 2 A 204/06

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
29.05.2007
Aktenzeichen
2 A 204/06
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2007, 62077
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2007:0529.2A204.06.0A

Tenor:

  1. Aus dem Entscheidungstext

Tatbestand

1

Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und moslemischen Glaubensbekenntnisses.

2

Im Rahmen der Anhörung zu seinen Asylgründen hatte der Kläger vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge u.a. angegeben, im September 2001 von Sicherheitskräften abgeholt und ca. 35 Tage in Haft gehalten worden zu sein. Während dieser Zeit sei er auch gefoltert worden. Er sei schließlich aus einem Krankenhaus, in das er mit Hilfe von Bestechung verlegt worden sei, nachdem er eine Zertrümmerung eines Oberarmes im Rahmen der Folter erlitten habe. geflüchtet und aus dem Irak geflohen.

3

Mit Bescheid vom 20.03.2002 stellte das Bundesamt, das die Wahrheit des vom Kläger geschilderten Verfolgungsschicksals nicht in Zweifel gezogen hatte, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG für ihn (und seine Familie) fest. Hiergegen klagte der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten erfolgreich. Das VG Oldenburg hob den Bescheid vom 20.03.2002 mit Urteil vom 18.08.2005 (3 A 1406/02) auf, ohne dass es sich mit der Frage des Vorliegens von Abschiebungshindernissen nach dem damals noch geltenden § 53 AuslG zu beschäftigen hatte.

4

Daraufhin eröffnete das Bundesamt zugunsten der Kläger im Oktober 2005 ein neues Verwaltungsverfahren und prüfte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG -), lehnte dies schließlich mit Bescheid vom 02.01.2006 ab.

5

Hiergegen hat der Kläger am 17.01.2006 Klage erhoben, zu deren Begründung er sich zunächst auf sein Vorbringen im Rahmen der Anhörung im Asylerstverfahren beruft.

6

Überdies sei er - wie sich aus den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen, die das Vorliegen einer schweren Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) belegen würden, ergebe - psychisch wegen der Erlebnisse im Irak so schwer erkrankt, dass er einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG habe.

7

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 02.01.2006 zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

8

sowie,

9

die Beklagte unter Aufhebung der Ziff. 2 des Bescheides vom 02.01.2006 zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich des Iraks vorliegt.

10

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

11

Sie tritt der Klage entgegen, verteidigt den angefochtenen Bescheid und meint, dass der Kläger das Vorliegen einer im Rahmen der Prüfung des § 60 Abs 7 AufenthG erheblichen PTBS nicht nachgewiesen habe.

12

Das Gericht hat zunächst in der mündlichen Verhandlung am 11.05.2006 durch Vernehmung des den Kläger behandelnden Arztes für Neurologie und Psychiatrie F. G. Beweis über den Gesundheitszustand des Klägers erhoben.

13

Im Rahmen der Beweisaufnahme wurde sodann ein schriftliches fachärztliches Gutachten des Arztes für Neurologie Dr. med. H. I. über die Fragen eingeholt, ob der Kläger aufgrund von im Irak vor seiner Ausreise nach Deutschland erlittenen Misshandlungen und / oder Erlebnissen an behandlungsbedürftigen psychischen Krankheiten oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Krankheitswert leide. Falls die Beweisfrage mit "ja" zu beantworten sei, um welche Erkrankungen oder Beeinträchtigungen es sich handele und wie und über welchen Zeitraum diese Erkrankungen oder Beeinträchtigungen nach ärztlicher Fachkunde zu behandeln seien. Schließlich wurde die Beweisfrage gestellt, ob diese Erkrankungen oder Beeinträchtigungen lebensbedrohliche Gefahren für die Gesundheit oder das Leben des Klägers auslösen würden, wenn sie nicht oder fachlich nur unzureichend behandelt würden.

14

Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 11.05.2006 und im Übrigen auf das Sachverständigengutachten vom 18.09.2006 Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten dieses Verfahrens, des Verfahrens 3 A 406/02 des VG Oldenburg sowie auf die beigezogenen Akten des Bundesamtes und des Landkreises J. (Beiakten A bis D) verwiesen. Diese Unterlagen sind ebenso wie die aus der den Beteiligten mit der Ladung übersandten Liste ersichtlichen Erkenntnismittel Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage, über die der Einzelrichter im Einverständnis der Beteiligten gem. § 102 Abs. 2 VwGO im schriftlichen Verfahren entscheidet, hat nur im tenorierten Umfang Erfolg.

16

Das Gericht hat im Hinblick auf den Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 23.02.2007 erwogen, von einer teilweisen Klagerücknahme - hinsichtlich einer Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 As. 1 AufenthG - auszugehen. Denn der dort eingangs formulierte Antrag bezieht sich nur noch auf eine Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Im Hinblick auf die eingangs im Schriftsatz gewählte Formulierung, dass "der Unterzeichner sich dem Antrag der bisherigen Bevollmächtigten an(schließt)", ist der Einzelrichter jedoch zur Überzeugung gelangt, dass das mit der Klage in den Blick genommene Rechtsschutzziel unverändert verfolgt werden soll.

17

Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1. Dafür, dass ihm bei einer Rückkehr in den Irak politische Verfolgung drohen könnte, wurde nichts geltend gemacht und ist auch nach Aktenlage nichts ersichtlich. Dies hat das Bundesamt im angefochtenen Bescheid zutreffend dargestellt; hierauf wird gem. § 77 Abs. 2 AsylVfG Bezug genommen.

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Allerdings drohen dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak landesweit Gefahren, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG begründen. Gemäß dieser Vorschrift, die hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzungen inhaltlich dem früheren § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG entspricht (siehe auch die Gesetzesbegründung in BT-Drucks. 15/420 zu § 60 AufenthG), soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine individuelle und erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Für die Annahme einer solchen Gefahr genügt nicht die lediglich denkbare Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in die genannten Rechtsgüter zu werden. Gefordert ist vielmehr die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines derartigen Eingriffs. Die Annahme einer "konkreten" Gefahr setzt - wie durch Satz 2 des § 60 Abs. 7 AufenthG deutlich wird - eine einzelfallbezogene, individuell bestimmte und erhebliche Gefährdungssituation voraus, ohne dass es darauf ankommt, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zugerechnet werden muss (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324, 330 -, Urt. v. 12.7.2001 - 1 C 5.01 - BVerwGE 115, 1, 7 ff., jeweils zu § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG). Ein hiernach erhebliches zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne kann sich auch aus einer Krankheit im Sine des ICD10 - zum Beispiel einer PTBS - eines Ausländers ergeben. Gleichwohl folgt aus der Feststellung des Vorliegens einer PTBS nicht - quasi automatisch - als Rechtsfolge die Verpflichtung des Bundesamtes zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes. Vielmehr muss es infolge der Erkrankung zu einer wesentlichen, lebensbedrohlichen Verschlechterung der gesundheitlichen Situation des Ausländers kommen (VGL: BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1.02 -, AuAS 2003, 106 = DVBl. 2003, 463, siehe auch: Wolff, Krankheit als zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, Asylmagazin 2004, S. 16; BVerwG, Urt. v. 25.11.1997 - 9 C 58.96 - InfAuslR 1998, 189). Konkret ist eine solche Gefahr, wenn sie alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat drohen würde (BVerwG, Urt. v. 25.11.1997, a.a.O.).

19

Eine derartige konkrete, lebensbedrohliche Gefährdungssituation liegt bei dem Kläger vor.

20

Das Gericht ist zunächst davon überzeugt, dass der Kläger seinerzeit den Irak vorverfolgt verlassen hat, dass er nämlich von den Sicherheitsdiensten gefoltert wurde, wobei er unter anderem eine Trümmerfraktur am rechten Oberarm erlitten hatte. Diese Erkenntnis wird vom Bundesamt wohl auch nicht ernsthaft in Frage gestellt. So bestätigt bereits der ursprüngliche "anerkennende" Bundesamtsbescheid vom 20.03.2002, der ausdrücklich darauf abstellt, dass dem Kläger wegen des von ihm geschilderten Sachverhalts (zusätzlich aber auch wegen illegaler Ausreise und der Asylantragstellung) politische Verfolgung drohen würde, incidenter die Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers. Die Frage der Glaubwürdigkeit des Klägers war indessen nicht Gegenstand des aufgrund der Beanstandungsklage des Bundesbeauftragten stattgebenden Urteils des VG Oldenburg vom 18.08.2005, das gegen die Richtigkeit der Angaben des Klägers keine Einwände erhebt, nur wegen der geänderten politischen Verhältnisse im Irak den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft des Klägers als rechtmäßig bestätigte und sich ausdrücklich nicht zur Frage des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG äußerte.

21

Ferner ist das Gericht der Auffassung, dass der Kläger aufgrund dieser Folterungen (noch immer) traumatisiert ist, diese Traumatisierungen erheblichen Krankheitswert im Sinne des ICD10 haben und sich im Falle der Rückkehr "reinszenieren" würden, so dass dem Kläger dadurch eine konkrete Lebensgefahr durch Selbsttötung droht. Das Gericht ist zu dieser Überzeugung gelangt durch Auswertung der in der Beweisaufnahme gewonnenen Erkenntnisse. Aufgrund der Auswertung der Aussage des sachverständigen Zeugen G., der den Kläger als Facharzt für Psychiatrie seit Ende April 2005 behandelt und ihn zur Zeit der Vernehmung ca. 20 Mal in seiner Sprechstunde gesehen hatte, und dem Sachverständigengutachten des Dr. I. steht für das Gericht fest, dass der Kläger an einer PTBS leidet. Der Zeuge G. hat den Kläger hinreichend oft in seiner Praxis gesehen und behandelt, um sich ein sicheres Bild von der Erkrankung zu verschaffen. Er hat als ausgebildeter Facharzt für Psychiatrie auch die nötigen fachlichen Kenntnisse, um eine zutreffende Diagnose stellen zu können. dies gilt ebenso für den Sachverständigen Dr. I., der dem erkennenden Einzelrichter aus mehreren Asylprozessen als versierter und zuverlässiger Gutachter bekannt ist. Das Gutachten kommt nach ausführlicher Anamnese und Untersuchung des Klägers zu dem Schluss, dass der Kläger an einer Posttraumatischen Belastungsstörung mit depressiver Stimmungslage und Somatisierungstendenz leidet, vermutlich aufgrund einer asthenischen Persönlichkeitsstruktur. Gegen die Richtigkeit der Anamnese und der Befunderhebung vermag die Beklagte nichts Durchgreifendes einzuwenden. Dass eine PTBS in einigen Fällen auch später als 6 Monate nach dem traumatisierenden Ereignis auftreten kann bzw. beklagt wird, ist medizinisch nicht umstritten (für den sachverständigen Zeugen G. war dies nichts "Ungewöhnliches"). Für eine "kritische" Hinterfragung der Angaben des Kläger durch den Gutachter in Richtung auf andere traumatisierende Ereignisse gab und gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Die Diagnose PTBS ist nicht ohne Anhaltspunkte vergeben worden, so wurden die Erkenntnisse des Hausarztes K. und des Psychiaters G. mit verarbeitet und nicht unkritisch den Angaben des Klägers Glauben geschenkt. Die Beklagte muss sich fragen lassen, warum der Gutachter hier Skepsis an der Glaubwürdigkeit des Klägers hätte walten lassen sollen, wenn diese Bedenken nicht einmal der seinerzeit zuständige Einzelentscheider hatte. Ob die Traumatisierungen allein ursächlich für die psychische Erkrankung des Klägers und die - unzweifelhaft festgestellte konkrete Suizidgefahr - sind. oder ob eine Überlagerung durch eine depressive, asthenische Persönlichkeitsstruktur des Klägers gegeben ist, spielt keine (rechtliche) Rolle.

22

Abschließend weist das Gericht noch einmal darauf hin, dass der Kläger nach sicherer Erkenntnislage sowohl des sachverständigen Zeugen als auch des Sachverständigen kein Simulant ist und der Sachverständige eine klare Aussage dahingehend getroffen hat, dass eine Rückkehr in den Irak vom Kläger derzeit nicht verkraftet würde und mit einem Suizid zu rechnen sei. Fest steht daher zur Überzeugung des Gerichts, dass - zielstaatsbezogen - ein Leben des Kläger im Irak die konkrete Gefahr der Selbsttötung nach sich ziehen würde. Allein hierauf kommt es bei der Prüfung des Vorliegen eines Abschiebungsverbotes an, nicht jedoch darauf, ob bereits die Abschiebung als solche - im sinne eines inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisses - (ebenfalls) ein Suizidrisiko auslösen würde.

23

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.