Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 17.01.2020, Az.: 3 Ws 291/19 (MVollz)

Abwägungskriterien bei Zweifeln am Verbleib des offenen Vollzugs

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
17.01.2020
Aktenzeichen
3 Ws 291/19 (MVollz)
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 12699
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2020:0117.3WS291.19MVOLLZ.00

Verfahrensgang

vorgehend
LG Oldenburg - 04.09.2019 - AZ: 50 StVK 132/19

Amtlicher Leitsatz

Der Widerruf vollzugsöffnender Maßnahmen richtet sich im niedersächsischen Maßregelvollzug nach § 49 VwVfG.

Eine Ablösung aus einer offenen Vollzugsform setzt auch bei Vorliegen eines neuen Ermittlungsverfahrens eine umfassende Prüfung im Einzelfall unter Berücksichtigung konkreter Bezugspunkte aus dem Ermittlungsverfahren, der Persönlichkeit des Antragstellers sowie dessen vollzuglicher Entwicklung voraus.

Tenor:

Der Beschluss des Landgerichts Oldenburg vom 4. September 2019 wird aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass die am 9. Mai 2019 angeordnete Verlegung des Antragstellers auf eine geschlossene Station sowie der Widerruf der dem Antragsteller bis dahin gewährten Lockerungen rechtswidrig waren.

Die Kosten des Verfahrens sowie dem Antragsteller hierdurch entstanden notwendige Auslagen fallen der Landeskasse zur Last.

Der Verfahrenswert wird auf bis zu 500 € festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller, der zum Vollzug einer Maßregel nach § 64 StGB bei der Antragsgegnerin untergebracht ist, wendet sich in vorliegendem Verfahren gegen seine am 9. Mai 2019 angeordnete Verlegung von einer offen geführten Entlassungsvorbereitungsstation auf eine geschlossene Therapiestation, mit der zugleich sämtliche bis dahin gewährten Lockerungen (u.a. Ausgänge außerhalb des Klinikgeländes) ausgesetzt wurden. Dieser Maßnahme lag ein Anruf der Polizei zu Grunde, demzufolge gegen den Antragsteller ein Ermittlungsverfahren anhängig sei. Näheres zum Inhalt dieses Ermittlungsverfahrens war der Antragsgegnerin jedenfalls zum Zeitpunkt der Ablösung nicht bekannt. Erst etwa sechs Wochen nach der Ablösung konnte in Erfahrung gebracht werden, dass dem Ermittlungsverfahren der Verdacht einer versuchten Urkundenfälschung im Zusammenhang mit einem Rezept zu Grunde gelegen habe. Zwischenzeitlich hat die Antragsgegnerin den Antragsteller auf die Entlassungsvorbereitungsstation zurückverlegt und auch die zuvor bewilligten Lockerungen wieder gewährt. Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, allein die Kenntnis von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens habe die Verlegung auf die geschlossene Station und den Widerruf der bis dahin gewährten Lockerungen gerechtfertigt. Dies sei ein übliches Vorgehen in derartigen Fällen, um zu verhindern, dass ein forensisch untergebrachter Patient eine unbedachte Handlung begeht.

Die Strafvollstreckungskammer hat den gegen diese Maßnahme mit dem Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurückgewiesen und hierzu ausgeführt, die angefochtene Maßnahme habe sich im Rahmen des der Antragsgegnerin zustehenden Beurteilungs- und Ermessensspielraums gehalten und sei vor dem Hintergrund der der Kammer hiernach zustehenden eingeschränkten Prüfungskompetenz nicht zu beanstanden. Die Kenntnis eines neuen Ermittlungsverfahrens habe die frühere günstige Prognose nachträglich als nicht mehr gerechtfertigt erscheinen lassen und die Ablösung aus dem offenen Vollzug sei auf der Grundlage eines bloßen Verdachts möglich, sofern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt sei und der Tatverdacht auf konkreten, im Rahmen der Sachverhaltsaufklärungspflicht der Vollzugsbehörde ermittelten Anhaltspunkten beruhe. Weitreichende Vollzugslockerungen wie die Verlegung auf eine offen geführte Entlassungsvorbereitungsstation wären bei Kenntnis eines neuen Ermittlungsverfahrens zu versagen gewesen, weshalb bezogen auf die Widerrufsentscheidung jedenfalls im Ergebnis von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen sei, sodass auch weitere Ausführungen der Antragsgegnerin zu Ermessensausübung nicht erforderlich gewesen seien.

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Antragsteller mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Rechtsbeschwerde. Die angefochtene Entscheidung lasse schon nicht erkennen, auf welcher gesetzlichen Grundlage der angefochtene Widerruf beruht habe. Vor allem aber fehle es an Feststellungen, von welchen Ermessensüberlegungen und von welchem Sachverhalt die Antragsgegnerin zum Zeitpunkt des Widerrufs der Lockerung ausgegangen sei. Der angefochtene Beschluss genüge daher nicht den an ihn zu stellenden Anforderungen und sei überdies mit der Rechtsprechung des angerufenen Senats zum Widerruf von Lockerungen bei Vorliegen eines neuen Ermittlungsverfahrens nicht in Einklang zu bringen.

Das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung wurde gehört und hat beantragt, die Rechtsbeschwerde zu verwerfen, da die angefochtene Maßnahme aus den vom Landgericht Oldenburg in seinem angefochtenen Beschluss genannten Gründen ermessensfehlerfrei und damit rechtmäßig gewesen sei.

II.

Die Rechtsbeschwerde ist nach Maßgabe von § 116 Abs. 1 StVollzG sowohl zur Rechtsfortbildung als auch zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung zulässig. Der Senat hat sich zur gesetzlichen Grundlage des Widerrufs von Lockerungen im Maßregelvollzug in Niedersachsen zumindest noch nicht tragend geäußert und es gilt der Wiederholung des im nachfolgend aufgezeigten Rechtsfehlers entgegenzuwirken. Die Rechtsbeschwerde ist zumindest mit der Sachrüge auch sonst in zulässiger Form erhoben worden und der Antragsteller hat in zulässiger Weise sein Recht auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der - zwischenzeitlich vollständig erledigten - Maßnahme geltend gemacht.

III.

Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Die angefochtene Entscheidung der Strafvollstreckungskammer konnte keinen Bestand haben, denn die Maßnahme der Antragsgegnerin hat den Antragsteller in seinen Rechten verletzt. Im Einzelnen:

1. Anders als die meisten anderen landesrechtlichen Gesetze enthält das niedersächsische Maßregelvollzugsgesetz (Nds. MVollzG - i.d.F. vom 17.12.2019) keine Regelung über die Rücknahme oder den Widerruf bewilligter Lockerungen, sodass insoweit (§ 1 Abs. 1 und 2 Nds. VwVfG) auf die allgemeinen verwaltungsrechtlichen Vorschriften der §§ 48, 49 VwVfG zurückgegriffen werden muss (vgl. Kammeier/Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 4. Aufl.,F 131). Dies entspricht auch der Intention des Gesetzgebers, der davon ausgeht, dass für den Maßregelvollzug das Verwaltungsverfahrensgesetz - und somit auch die Vorschrift des § 49 VwVfG gilt (Nds. LT-Drucks. 9/2605, S. 38). Allein der Entwurf des Gesetzes zur Änderung des niedersächsischen Maßregelvollzugsgesetzes (in der Fassung des Referentenentwurfs) enthält in § 27 eine Regelung zum Widerruf vollzugsöffnender Maßnahmen, der inhaltlich aber im Wesentlichen der Vorschrift des § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG nachgebildet ist. Diesen Rechtsgedanken hat, wenngleich auch nicht ausdrücklich, aber ersichtlich auch die Strafvollstreckungskammer ihrer Entscheidung zu Grunde gelegt. Da es sich beim Vollzug einer Maßregel dem Grunde nach um das Ausüben von Gesundheitsverwaltung handelt (LT-Drucks. a.a.O.), findet die Vorschrift des § 12 NJVollzG auch aufgrund des abweichenden Regelungsgehalts - auch in entsprechender Anwendung - insoweit keine Anwendung.

2. Gleichwohl kann auch im Hinblick auf den Widerruf bewilligter Vollzugslockerungen im Maßregelvollzug nach Maßgabe von § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG auf die vom Senat für den Strafvollzug bereits aufgestellten Grundsätze zurückgegriffen werden. Dies gilt namentlich auch im Falle einer Ablösung aus einer offenen Unterbringung in Folge eines neuen Ermittlungsverfahrens. Insoweit hat auch die Strafvollstreckungskammer - unter Bezugnahme auf Entscheidungen des erkennenden Senats - in der angefochtenen Entscheidung darauf abgestellt, dass ein neues Ermittlungsverfahren in jedem Fall Anlass für eine besonders sorgfältige Prüfung der Eignung für den offenen Vollzug ist. Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung der Strafvollstreckungskammer indessen nicht gerecht. Entsprechendes gilt für die angefochtene Maßnahme der Antragsgegnerin.

Der Senat hat bereits wiederholt ausgeführt (Beschluss vom 17.09.2004 [NStZ-RR 2005, 29; Beschluss vom 31.10.2008 [NdsRpfl 2009, 15]; Beschluss vom 8.2.2017 [NdsRpfl 2018, 113], dass ein neues Ermittlungsverfahren zwar grundsätzlich geeignet sein kann, eine frühere, für günstig erachtete Prognose nachträglich als nicht mehr gerechtfertigt erscheinen zu lassen, und eine Ablösung aus dem offenen Vollzug hiernach häufig unvermeidbar sein wird, andererseits aber allein die Anhängigkeit eines neuen Ermittlungsverfahrens dem Antragsteller nicht zwingend die Eignung zum offenen Vollzug abspricht, zum Beispiel in Bagatellsachen. Die Vollzugsanstalt hat hiernach ihre Prüfung unter Abwägung der Umstände des Einzelfalls zu treffen. Hierbei ist eine Ablösung aus dem offenen Vollzug auf der Grundlage eines bloßen Verdachts einer neuen strafbaren Handlung zwar möglich, was aber voraussetzt, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt ist und der Tatverdacht auf konkreten, im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung der Vollzugsbehörde ermittelten Anhaltspunkten beruht (vgl. BVerfG vom 12.2.2004 [2 BvR 1709/92]).

Für die Beurteilung, ob ein neues Strafverfahren begründete Zweifel entstehen lässt, der Antragsteller genüge (immer noch) den Anforderungen des offenen Vollzugs, ist hiernach die Ermittlung folgender Umstände grundsätzlich ausreichend, hingegen aber auch erforderlich: Gegenstand des Verfahrens (Sachverhalt im Groben, Tatzeit, Tatort, Schaden); Verfahrensstand (Dauer der Ermittlungen, Zeitpunkt des voraussichtlichen Abschlusses, Wahrscheinlichkeit der Anklageerhebung); Kenntnis des Antragstellers von gegen ihn laufenden Ermittlungen (vgl. nur Beschluss vom 8.2.2017 a.a.O.). Darüber hinaus hat die Vollzugsanstalt aber auch die Kenntnis über die Persönlichkeit des Antragstellers, sein Vollzugsverhalten und seine bisherige kriminelle Entwicklung grundsätzlich mit in ihre Abwägung einzubeziehen.

Die angefochtene Entscheidung lässt nicht erkennen, dass die Vollzugsanstalt ihrer Entscheidung, den Antragsteller von der offenen Vollzugsstation auf eine geschlossene Station zu verlegen, und die übrigen bis dahin gewährten Vollzugslockerungen zu widerrufen, auf der Grundlage eines hinreichend ermittelten Sachverhalts sowie der hiernach gebotenen Abwägung im Einzelfall getroffen hat. Ausweislich der Gründe der angefochtenen Entscheidung hatte die Antragsgegnerin zum Zeitpunkt der angefochtenen Maßnahme lediglich die telefonische Information erhalten, gegen den Antragsteller sei ein neues Ermittlungsverfahren anhängig. Näheres zum Gegenstand des Verfahrens, zur Tatzeit, zum Stand der Ermittlung oder zum Verdachtsgrad) war der Antragsgegnerin schon nicht bekannt. Dem steht nicht entgegen, dass seitens der Antragsgegnerin näheres zum Inhalt des neuen Ermittlungsverfahrens offenbar nicht in Kenntnis gebracht werden konnte, denn die Verpflichtung der Anstalt zur Aufklärung des Sachverhalts im oben beschriebenen Sinne steht nicht entgegen, dass durch den neuen Tatverdacht ein sofortiger Sicherungsbedarf entstehen kann (Senat a.a.O.). Denn diesem kann durch vorläufige Maßnahmen hinreichend Rechnung getragen werden. Dies gilt auch, soweit sich vorliegend nachträglich herausgestellt hat, dass Gegenstand des Ermittlungsverfahrens offensichtlich das Benutzen eines Privatrezepts (durch dritte Personen) war, was gerade bei Vollzug einer Maßregel nach § 64 StGB für die Frage einer Missbrauchsgefahr von nicht unerheblicher Bedeutung sein kann.

Die angefochtene Entscheidung lässt überdies aber auch nicht erkennen, dass die Antragsgegnerin die Persönlichkeit des Antragstellers und sein Vollzugsverhalten in ihre Entscheidung einbezogen hat. Die Strafvollstreckungskammer hat hierzu ausgeführt, bei dem Antragsteller handele es sich den Angaben der Antragsgegnerin zufolge nach einhelliger Auffassung sämtlicher Ärzte und Pfleger um "ein Musterbeispiel für den Erfolg der Maßregel gem. § 64 StGB", der überdies bereits zahlreiche Lockerungen gewährt bekommen habe. Auch die von der Kammer in Bezug genommene Stellungnahme der Antragsgegnerin vom 12. Juli 2019 lässt eine derartige, indessen erforderliche Abwägung im Einzelfall nicht erkennen. Da nach den hier dargelegten Grundsätzen eine Ablösung aus dem offenen Vollzug auch bei Vorliegen eines neuen Ermittlungsverfahrens zwar häufig, indessen nicht regelmäßig und schon gar nicht zwingend zu erfolgen hat, lag auch eine Ermessensreduzierung auf Null nicht vor.

3. Der Senat hat nach § 119 Abs. 4 StVollzG in der Sache abschließend selbst entschieden, weil die Sache spruchreif war. Der Senat, der vorliegend lediglich über die Rechtmäßigkeit der zwischenzeitlich erledigten Maßnahme zu entscheiden hatte, kann bereits auf der Grundlage der im angefochtenen Beschluss getroffenen Feststellungen ausschließen, dass zum Zeitpunkt der Ablösung des Antragstellers aus dem offenen Vollzug der Maßregel ohne Vorliegen näherer Erkenntnisse zum Gegenstand des neuen Ermittlungsverfahrens und unter Berücksichtigung der Persönlichkeit und der vollzuglichen Entwicklung des Antragstellers, der bis dahin sämtliche Lockerungen offenbar beanstandungsfrei absolviert hatte, nicht auch nur vorläufige Maßnahmen zur Sicherung ausreichend gewesen wären, und nicht sogleich - zumal ohne die gebotene Einzelfallentscheidung - ein Widerruf bewilligter Vergünstigungen zwingend war. Dass zwischenzeitlich offenbar sämtliche bislang gewährten Lockerungen nunmehr wieder bewilligt werden, steht dem nicht entgegen. Der Senat hat hiernach die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Maßnahme insgesamt feststellen können.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 4 StVollzG i.V.m. § 467 Abs. 1 StPO in entsprechender Anwendung.

V.

Die Bestimmung des Verfahrenswerts beruht auf §§ 1 Abs. 1 Nr. 8, 52 Abs. 1, 60, 63 Abs. 3 Nr. 2, 65 GKG.

VI.

Gegen diesen Beschluss ist nach § 119 Abs. 5 StVollzG ein Rechtsmittel nicht eröffnet.