Landgericht Braunschweig
Beschl. v. 16.05.2011, Az.: 6 T 247/11

Keine Erhöhung des Pfändungsfreibetrags aufgrund Kosten für die Fahrt zur Arbeitsstelle, Miete, Strom, Gas, Internet, Telefon, Kabelfernsehen, GEZ, Handy und Versicherungen; Erhöhung des Pfändungsfreibetrags aufgrund Kosten für die Fahrt zur Arbeitsstelle, Miete, Strom, Gas, Internet, Telefon, Kabelfernsehen, GEZ, Handy und Versicherungen

Bibliographie

Gericht
LG Braunschweig
Datum
16.05.2011
Aktenzeichen
6 T 247/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 21527
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGBRAUN:2011:0516.6T247.11.0A

Fundstelle

  • ZInsO 2011, 1268-1270

Tatbestand

1

Mit Antrag v. 21.10.2008 hat der ledige und kinderlose Schuldner gem. § 305 InsO die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen beantragt. Diesem Antrag war eine Abtretungserklärung nach § 287 Abs. 2 InsO v. 27.10.2008 beigefügt. Am 21.11.2008 eröffnete das AG Braunschweig wegen Zahlungsunfähigkeit das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners und bestellte Rechtsanwalt N zum Treuhänder.

2

Durch Beschl. v. 10.12.2009 kündigte das AG Braunschweig an, dem Schuldner Restschuldbefreiung zu erteilen, wenn er während der Laufzeit der Abtretungserklärung nach § 287 Abs. 2 InsO die ihm gem. § 295 InsO obliegenden Verpflichtungen erfülle und Versagungsgründe nach §§ 297 oder 298 InsO nicht vorlägen. Zum Treuhänder wurde wiederum Rechtsanwalt N bestellt. Es wurde festgestellt, dass die pfändbaren Forderungen des Schuldners auf Bezüge aus einem Dienstverhältnis für die Dauer der Wohlverhaltensperiode von voraussichtlich 6 Jahren nach Maßgabe der Abtretungserklärung auf den Treuhänder übergehen.

3

Am 19.11.2010 nahm der Schuldner eine Arbeit in W auf. Die Entfernung zwischen der Wohnung des Schuldners und seinem Arbeitsplatz beträgt 40 km. Der Schuldner ist im Schichtdienst tätig und kann seinen Arbeitsplatz deshalb nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen. Aus diesem Grunde finanzierte ihm die ARGE einen Pkw. Dieser verbraucht durchschnittlich 9,5 Liter auf 100 km. Der Verdienst des Schuldners betrug im Dezember 2010 1.283,35 EUR netto. Das Gehalt wird jeweils am 15. des Monats ausgezahlt.

4

Aufgrund seiner Arbeitsaufnahme hat der Schuldner gegenüber dem AG Braunschweig die Erhöhung des pfändungsfreien Betrags beantragt. Er müsse ca. 200 EUR monatlich für Treibstoff ausgeben, um seine Arbeitsstelle zu erreichen. Darüber hinaus habe er eine Versicherung für sein Fahrzeug i.H.v. 60 EUR monatlich abschließen müssen, habe Kosten für Strom und Gas, Internet und Telefon, Kabel Deutschland, GEZ, sein Handy, die Autoversicherung und Autorechtsschutzversicherung, seine Hausrat-, Unfall- und Haftpflichtversicherung und den nunmehr anfallenden Gewerkschaftsbeitrag. Außerdem müsse er eine monatliche Rücklage für ggf. anfallende Reparaturen an seinem Auto und für eine Monatsmiete bilden. Er habe mit seinem Vermieter nämlich eine Vereinbarung geschlossen, dass er diese 6 Monate lang erst zum 15. eines Monats zahlen dürfe. Danach müsse er die Miete wieder zum 1. eines Monats entrichten und auf diese Weise über den Zeitraum von 6 Monaten eine Monatsmiete ansparen.

5

Der Treuhänder hat sich gegen eine Erhöhung des Pfändungsfreibetrags ausgesprochen. Die Fahrtkosten für das Erreichen des Arbeitsplatzes seien dem Schuldner wie jedem anderen Arbeitnehmer auch zuzumuten. Er erhalte diese im Rahmen des Lohnsteuerjahresausgleichs teilweise erstattet. Die übrigen angeführten Kosten wie Miete und Nebenkosten habe der Gesetzgeber bereits bei der Bemessung des Pfändungsfreibetrags berücksichtigt.

6

Mit dem angefochtenen Beschl. v. 7.2.2011, der dem Schuldner am 9.2.2011 durch Aufgabe zur Post zugestellt worden ist, hat das AG Braunschweig den Pfändungsfreibetrag von 1.076,95 EUR um 18 EUR für den Gewerkschaftsbeitrag des Schuldners und um weitere 60 EUR für erhöhte Benzinkosten erhöht. Bei der Berechnung dieses Betrags ist es davon ausgegangen, dass ein Anfahrtsweg von 30 km zur Arbeitsstelle aufgrund der heute vorherrschenden Mobilität als völlig normal zu betrachten sei. Aus diesem Grund sei der Pfändungsfreibetrag des Schuldners lediglich um die Treibstoffkosten für zweimal 10 km täglich zu erhöhen. Ausgehend von einem Durchschnittspreis von 1,45 EUR pro Liter Superbenzin und 22 Arbeitstagen monatlich, ergebe sich bei einem Verbrauch des Fahrzeugs des Schuldners von 9,5 Litern pro 100 km ein Betrag von abgerundet 60 EUR pro Monat. Eine Erhöhung des Pfändungsfreibetrags aufgrund der übrigen vom Schuldner angeführten Beträge hat das AG abgelehnt, weil diese Kosten bei der Bestimmung der Pfändungsfreigrenzen bereits berücksichtigt worden seien.

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Mit Schreiben v. 10.2.2011, das am 11.2.2011 beim AG Braunschweig eingegangen ist, widerspricht der Schuldner der Nichterhöhung des pfandfreien Betrags und wiederholt seinen bisherigen Vortrag. Er beantragt, den Pfändungsfreibetrag auf mindestens 1.300 EUR festzusetzen. Darüber hinaus beruft er sich für seine Auffassung, seine gesamten Fahrtkosten seien zu berücksichtigen, auf "§ 6 ALG II-Gesetz".

8

Der Treuhänder wertet das Schreiben des Schuldners als sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des AG Braunschweig, hält diese aber für unzulässig. Auf eine Zahlungsaufforderung seinerseits unter Bezugnahme auf den angefochtenen Beschluss habe der Schuldner mit einer Ratenzahlungsbitte reagiert und damit zum Ausdruck gebracht, dass er diesen akzeptiere. Durch die gleichzeitige Durchführung der sofortigen Beschwerde verhalte sich der Schuldner widersprüchlich.

9

Das AG Braunschweig hat der sofortigen Beschwerde durch Beschl. v. 8.4.2011 nicht abgeholfen und die Sache dem LG Braunschweig zur Entscheidung vorgelegt.

Entscheidungsgründe

10

1.

Das Schreiben des Schuldners v. 10.2.2011 ist als sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des AG Braunschweig v. 7.2.2011 auszulegen. Er widerspricht damit der Nichterhöhung des pfändungsfreien Betrags und bringt auf diese Weise zum Ausdruck, dass er den statthaften Rechtsbehelf gegen diesen Beschluss einlegen möchte. Dies ist gem. § 11 Abs. 1 RPflG, §§ 567 Abs. 1 Nr. 1, 793 ZPO die sofortige Beschwerde. Da das Insolvenzgericht bei seiner Entscheidung aufgrund der Zuweisung der §§ 292 Abs. 1 Satz 3, 36 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 InsO als Vollstreckungsgericht tätig geworden ist, richtet sich der Rechtsmittelzug nach den allgemeinen vollstreckungsrechtlichen Vorschriften (vgl. BGH, Beschl. v. 5.4.2006 - IX ZB 169/04, BeckRS 2006, 05542).

11

Die sofortige Beschwerde des Schuldners ist zulässig. Insbesondere kann die Ratenzahlungsbitte des Schuldners auf das auf den angefochtenen Beschluss gestützte Zahlungsverlangen des Treuhänders nicht als Verzicht auf das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde aufgefasst werden. Da die sofortige Beschwerde gem. § 570 Abs. 1 ZPO keine aufschiebende Wirkung hat, ist dieses Ratenzahlungsverlangen auch beim Einlegen einer Beschwerde sinnvoll. Ihm ist deshalb im Hinblick auf eine Akzeptanz des angefochtenen Beschlusses kein Erklärungswert beizumessen.

12

2.

Die sofortige Beschwerde des Schuldners ist aber unbegründet. Das AG Braunschweig hat eine weitere Erhöhung des Pfändungsfreibetrags zu Recht abgelehnt.

13

Die vom Schuldner geltend gemachten Kosten für Miete, Strom, Gas, Internet, Telefon, Kabelfernsehen, GEZ, Handy und Versicherungen konnten schon deshalb nicht zu einer Erhöhung des Pfändungsfreibetrags führen, weil es sich um übliche Lebenshaltungskosten handelt. Gem. §§ 293 Abs. 1 Satz 3, 36 Abs. 1 Satz 2 InsO, § 850f Abs. 1b ZPO findet eine Erhöhung des pfändungsfreien Teils des Arbeitseinkommens des Schuldners aber nur statt, wenn besondere Bedürfnisse des Schuldners aus persönlichen oder beruflichen Gründen vorliegen. Dies sind nur außergewöhnliche Belastungen des Schuldners, die bei den meisten Menschen in vergleichbarer Lage nicht auftreten, da üblicherweise auftretende Belastungen bei der Bemessung der Pfändungsfreibeträge bereits berücksichtigt wurden (vgl. Musielak/ Becker, ZPO, 8. Aufl. 2011, § 850f Rn. 5).

14

Aus demselben Grund konnte auch die Notwendigkeit einer Mietzahlung zum 1. eines Monats trotz Erhalt des Arbeitseinkommens erst am 15. eines Monats keine Berücksichtigung finden. Einer solchen Konstellation sieht sich eine Vielzahl von Arbeitnehmern gegenüber, weshalb sie als übliche Belastung einer erwerbstätigen Person anzusehen ist.

15

Mit dem AG Braunschweig ist entgegen einer teilweise vertretenen Auffassung (vgl. OLG Köln, Beschl. v. 16.5.1989 - 2 W 80/89, FamRZ 1989, 996; LG Marburg, Beschl. v. 16.7.1999 - 3 T 127/99, JurBüro 1999, 661, 662) auch davon auszugehen, dass Fahrtkosten zur Arbeitsstelle bis zu einer Entfernung von 30 km als gewöhnliche Belastung eines berufstätigen Arbeitnehmers anzusehen sind. Die Mobilität der Arbeitnehmer ist in der Vergangenheit derart gestiegen, dass nur noch ein kleiner Teil der Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz ohne Inanspruchnahme von öffentlichen Verkehrsmitteln oder eines eigenen Fahrzeugs erreicht. Für einen Großteil der Arbeitnehmer fallen Fahrtkosten zur Arbeitsstelle für eine Strecke bis zu 30 km an, sodass diese Kosten als gewöhnliche Belastung eines erwerbstätigen Arbeitnehmers anzusehen sind (vgl. LG Halle/Saale, Beschl. v. 7.2.2000 - 14 T 33/00, RPfleger 2000, 285; LG Duisburg, Beschl. v. 14.3.2007 - 7 T 15/07, zit. nach [...]). Dem steht auch nicht entgegen, dass im Rahmen der Bestimmung des auf Arbeitslosengeld II anrechenbaren Einkommens nach § 6 Abs. 1 Nr. 3b ALG-II-V die Fahrtkosten für die gesamte Fahrtstrecke zur Arbeit berücksichtigungsfähig sind. Eine Übertragung des dortigen Rechtsgedankens ist nicht möglich, weil der Ausgangspunkt der Regelung ein anderer ist. Im Rahmen der Bestimmung des pfändungsfreien Teils des Arbeitseinkommens in § 850c ZPO sind bereits die üblicherweise anfallenden Ausgaben im Rahmen einer Berufstätigkeit berücksichtigt, darunter auch Fahrtkosten. Dies ist beim wesentlich geringeren Arbeitslosengeld II, dessen Empfänger i.d.R. nicht arbeiten, nicht der Fall.

16

Dem AG Braunschweig ist auch darin zu folgen, dass es lediglich die dem Schuldner über das übliche Maß hinaus entstehenden Benzinkosten berücksichtigt hat. Der Ansatz einer Kilometerpauschale von bspw. 0,30 EUR pro km, die auch die Kosten für die Unterhaltung des Pkw abdeckt (so LG Halle/Saale, a.a.O.; LG Duisburg, a.a.O.), wäre nicht sachgerecht. Die Kosten für die Unterhaltung des Pkw würden zu großen Teilen auch bei einer rein privaten Nutzung des Pkw oder der Nutzung des Pkw für eine Fahrtstrecke zur Arbeit von bis zu 30 km entstehen und sind deshalb als üblich anzusehen (vgl. LG Bonn, Beschl. v. 2.4.2009 - 6 T 321/08, zit. nach [...]).

17

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.

18

Die Rechtsbeschwerde war nach § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die Frage, ob, in welchem Umfang und auf welche Weise Fahrtkosten für die Fahrt zur Arbeit den pfändungsfreien Betrag gem. § 850f Abs. 1b ZPO erhöhen, wird in der Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet und ist obergerichtlich noch nicht geklärt. Sie stellt sich in einer Vielzahl vergleichbarer Fälle. Insofern besteht ein Bedürfnis nach einer Vereinheitlichung der Rechtsprechung.