Arbeitsgericht Göttingen
Urt. v. 07.03.2006, Az.: 1 Ca 289/05

Bibliographie

Gericht
ArbG Göttingen
Datum
07.03.2006
Aktenzeichen
1 Ca 289/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 45408
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:ARBGGOE:2006:0307.1CA289.05.0A

Fundstelle

  • PflR 2006, 479-486 (Volltext mit red. LS u. Anm.)

In dem Rechtsstreit

...

hat die 1. Kammer des Arbeitsgerichts Göttingen auf die mündliche Verhandlung vom 7. März 2006 durch

die Richterin ... als Vorsitzende,

den ehrenamtlichen Richter Herrn ...,

die ehrenamtliche Richterin Frau ... als Beisitzer

für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigungen der Beklagten vom 24., 25. und 31.05.2005 aufgelöst ist, sondern ungekündigt fortbesteht.

  2. 2.

    Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiter zu beschäftigen.

  3. 3.

    Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

  4. 4.

    Der Streitwert wird auf 14 000,00 EUR festgesetzt.

  5. 5.

    Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten um die Rechtmäßigkeit dreier ausserordentlicher, hilfsweise mit sozialer Auslauffrist ausgesprochener Kündigungen. Darüber hinaus macht der Kläger einen Weiterbeschäftigungsanspruch geltend.

2

Der am ... geborene Kläger ist seit dem 01.07.1979 bei der Beklagten als Pfleger auf der Intensivstation tätig. Er ist entsprechend der Vergütungsgruppe KR VIII eingruppiert. Sein monatliches Bruttogehalt beträgt 3 500,00 Euro.

3

In derNacht vom 30.03. auf den 31.03.2005 betreute der Kläger u.a. den Patienten .... Der Patient befand sich nach einer Operation wegen eines Mundbodenkarzinoms auf der Intensivstation. Bei dem Patienten mußte regelmäßig der Schleim abgesaugt werden. In der sogenannten Fieberkurve des Patienten vom 30.03.2005 sind durchgeführte Absaugevorgänge mit "X" eingetragen (Bl. 48 d.A). Wieviele Absaugevorgänge der Kläger bei dem Patienten ... vorgenommen hat, ist zwischen den Parteien streitig. Um 20.00 Uhr, und 22.00 Uhrund um 6.00 Uhr nahm der Kläger bei dem Patienten eine Atemtherapie (Vernebelung) vor, dies ist in der genannten Fieberkurve als "Verneb." eingetragen. In der Krankenakte sind auch die Urinmengen eingetragen, die der Patient in derNacht vom 30.03. auf den 31.03.05 abgegeben hat.

4

Unter "Arztnotizen" auf Seite 3 zur Fieberkurve vom 30.03.05 (Bl. 50 d.A.) heißt es u.a.: "Fühlt sich sehr durch Dk gestört, brennt, womöglich Infekt, evtl. morgen früh entfernen." Um 20.41 Uhr zog der Kläger bei dem Patienten ... den Blasenkatheter, um 4.55 Uhr entfernte er die Magensonde. Beides ist in der Krankenakte für den Kläger unter "Notizen" vermerkt (Seite 3 zur Fieberkurve vom 30.03.05, Bl. 50 d.A.). Eine ausdrückliche ärztliche Anordnung für das Entfernen von Magensonde und Blasenkatheter bestand nicht.

5

Am folgenden Tag bat der Patient um eine andere pflegerische Betreuung für die kommende Nacht. Der zuständige Arzt versuchte, bei dem Patienten die Magensonde neu anzulegen, was nicht gelang. Der Patient begann mit dem oralen Kostaufbau.

6

Mit einem an die Beklagten gerichteten Schreiben vom 29.04.2005 beschwerte sich der Patient ... über das Verhalten des Klägers in derNacht vom 30.03. auf den 31.03.2005. Wegen des Gegenstandes dieser Beschwerden wird auf das genannte Schreiben Bezug genommen (Bl. 11, 12 d.A.). Unter dem 10.05.2005 gab der Kläger eine schriftliche Stellungnahme zu dem Schreiben des Patienten ... ab (Bl. 40 d.A.).

7

MitSchreiben vom 24.05., 25.05. und 31.05.2005 kündigte die Beklagte das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis ausserordentlich mit sofortiger Wirkung und hilfsweise ausserordentlich mit einer Auslauffrist zum 31.12.2005 (Bl. 5 - 10 d.A.).

8

Der Kläger behauptet, er habe inder Nacht 30.03./31.03.05 bei dem Patienten ... um 20.00 Uhr, um 21.00 Uhrsowie um 1.00 Uhr einen Absaugevorgang durchgeführt. Dies ergebe sich auch aus der sogenannten Fieberkurve des Patienten vom 30.03.2005, in die die Absaugevorgänge zu diesen Zeiten eingetragen seien. Ein häufigeres Absaugen von Schleim hätte zu einer vermehrten Schleimbildung bei dem Patienten geführt und respiratorische Störungen verursacht. Sofern der Patient am Morgen des 31.03.05 vermehrt verschleimt gewesen sein sollte, sei dies auf eine vermehrte Sekretbildung nach Entfernen der Magensonde zurückzuführen.

9

Der Kläger behauptet, Blasenkatheter und Magensonden würden in aller Regel durch die Pflegekräfte ohne ausdrückliche ärztliche Anordnung gelegt und entfernt. Dies gelte insbesondere bei Vorliegen entsprechender Indikationen, bei denen die Pflegekräfte von einer stillschweigenden bzw. mußmaßlichen Anordnung eines Arztes ausgingen. In der täglichen Praxis sei es so, dass die Pflegekräfte auch ohne ärztliche Anordnung Blasenkatheter und Magensonden legen und im Bedarfsfall auch entfernen. Der Kläger behauptet, die Ärzte würden sich regelrecht wundern, wenn die Pflegekräfte sie wegen dieser Kleinigkeiten zu Rate ziehen würden.

10

Der Kläger behauptet weiter, die Entfernung der Magensonde und des Blasenkatheters sei bei dem Patienten ... medizinisch erforderlich gewesen. So sei der Blasenkatheter mit Blutkoageln verstopft gewesen. Der Katheter hätte wegen einer Verfärbung des Urins schon am Morgen des 30.03.2005 gezogen werden müssen. Nach Ziehen des Blasenkatheters habe der Patient auch ohne Probleme Urin lassen können. Er habe dem Patienten eine Urinflasche zur Verfügung gestellt, was sich bereits aus den entsprechenden Eintragungen der Urinmengen in die sogenannte Fieberkurve des Patienten vom 30.03.2005 (Bl. 48 d.A.) ergebe. Der Kläger behauptet weiter, die Magensonde sei stark verunreinigt gewesen. Ein Verbleib der Sonde bei dem Patienten hätte zur Vergiftung oder Infektion des Patienten führen können. Blasenkatheter und Magensonde habe er entfernt, um eine Gefahr für den Patienten abzuwähren.

11

Der Kläger meint, die Stellungnahme des Patienten ... vom 29.04.2005 sei unglaubwürdig. Der Patient habe nach seiner schweren Operation starke Beruhigungsmittel erhalten, die durchaus Wahrnehmungsstörungen hervorrufen könnten. Man müsse davon ausgehen, dass der Patient im fraglichen Zeitraum unter erheblichen Wahrnehmungsstörungen gelitten habe.

12

Der Kläger beantragt,

  1. 1)

    festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigungen der Beklagten vom 24., 25 und 31.05.2005 aufgelöst ist, sondern unverändert fortbesteht,

  2. 2)

    im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1) die Beklagte zu verurteilen, ihn zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiterzubeschäftigen.

13

Die Beklagte beantragt,

  1. die Klage abzuweisen.

14

Die Beklagte behauptet, der Kläger habe in derNacht vom 30.03. auf den 31.03.2005 bei dem Patienten ... erst nach dessen mehrfacher Aufforderung den Schleim abgesaugt. Selbst wenn der Kläger den Schleim wie in der Krankenakte vermerkt abgesaugt hätte, wären weitere, darüber hinausgehende Absaugevorgänge erforderlich gewesen, dessen Durchführung der Kläger aber unterlassen habe. Dies sei der Grund dafür, dass die folgende Schicht bei demPatienten um 6.30 Uhr aufgrund der großen Schleimmenge viermal habe absaugen müssen.

15

Die Beklagte behauptet weiter, der Kläger habe es verweigert, dem Patienten ... nach Entfernen des Blasenkatheters eine Urinflasche zu geben. Sie behauptet, der Kläger habe dem Patienten gesagt, "Guck auf die Uhr, esist jetzt 3.00 Uhr, bis 6.00 Uhr will ich nichts mehr von dir hören und sehen.". Der Kläger habe dem Patienten ... gegenüber weiter geäußert "... ist ein Verbrecher und Verbrecher muß man anbinden. Was hampelst du hier so herum? Bleib liegen oder bist du ein Alkoholiker?".

16

Die Beklagte behauptet, die Entscheidung darüber, ob Magensonde oder Blasenkatheter bei einem Patienten entfernt werden können, treffe immer ein Arzt, niemals eine Pflegekraft. Lediglich die Durchführung dieser Maßnahmen übertrügen die Ärzte in Einzelfällen auf das Pflegepersonal. Die Beklagte behauptet, daran würden sich alle ihre Pflegekräfte in der Praxis auch halten. Es entspreche nicht dem üblichen Vorgehen bei der Beklagten, dass Pflegekräfte ohne ärztliche Anordnung Blasenkatheter und Magensonden ziehen.

17

Schließlich behauptet die Beklagte, das Ziehen der Magensonde sei bei dem Patienten ... medizinisch nicht geboten gewesen.

18

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen ..., und .... Wegen des Gegenstands der Beweisaufnahme wird auf den Beweisbeschluss vom 16.02.2006 (Bl. 83 d.A.) und wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 07.03.2006 (Bl. 131 - 140 d.A.) Bezug genommen.

19

Wegen des weiteren Sachvortrages der Parteien, ihrer Rechtsauffassungen im Übrigen, ihrer Beweisantritte und der von ihnen überreichten Unterlagen wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen (§ 313 Abs. 2 ZPO).

Entscheidungsgründe

20

I.

Die zulässige Klage ist begründet. Die außerordentlichen Kündigungen derBeklagten vom 24.05., 25.05. und 31.05.2005 haben das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis weder mit sofortiger Wirkung noch mit einer Auslauffrist zum 31.12.2005 beendet. Die Kündigungen sind rechtsunwirksam.

21

1.

Die Voraussetzungen für eine außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund nach § 626 Abs. 1 BGB liegen nicht vor. Die Beklagte konnte sich bei Ausspruch der Kündigungen nicht auf einen wichtigen Grund im Sinne dieser Vorschrift stützen.

22

a)

Der für die ausserordentliche Kündigung erforderliche wichtige Grund ist gegeben, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile nicht zugemutet werden kann, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur vereinbarten Beendigung fortzusetzen. Sie ist nur zulässig, wenn sie die unausweichlich letzte Maßnahme (ultima ratio) für den Kündigungsberechtigten darstellt (ständige Rechtsprechung, vgl. BAG, Urteil vom 09.07.1998 - 2 AZR 201/98 - EzA § 626 BGB Krankheit Nr. 1).

23

Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt eine außerordentliche Kündigung nur dann in Betracht, wenn alle anderen nach den jeweiligen Umständen des konkreten Falles möglichen und angemessenen milderen Mittel erschöpft sind ( BAG, Urteil vom 09.07.1998 - 2 AZR 201/98 - aaO). Für Arbeitsverhältnisse folgt aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip grundsätzlich die Notwendigkeit einer Abmahnung. Pflichtwidrigkeiten im Leistungs- und Verhaltensbereich muss grundsätzlich eine Abmahnung vorausgehen, ehe sie zum Anlass einer fristlosen Kündigung genommen werden können ( BAG, Urteil vom 17.02.1984 - 2 AZR 616/93 - NZA 1994, 656 - 658). Es bedarf einer Abmahnung, wenn der Arbeitnehmer mit vertretbaren Gründen annehmen konnte, sein Verhalten sei nicht vertragswidrig oder werde vom Arbeitgeber zumindest nicht als ein erhebliches, den Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährdendes Fehlverhalten angesehen ( BAG, Urteil vom 07.07.2005 - 2 AZR 581/04 - NZA 2006, 98 [BAG 07.07.2005 - 2 AZR 581/04]-101; Urteil vom 25.03. 2004 - 2 AZR 341/03 - AP BGB § 626 Nr. 189). Eine Abmahnung ist allerdings entbehrlich, wenn sie keinen Erfolg verspricht (vgl. BAG, Urteil vom 17.02.1994 - 2 AZR 616/93 - DB 1994, 1477 [BAG 17.02.1994 - 2 AZR 616/93] - 1479). Dies kann bei ständigen hartnäckigen oder uneinsichtigen bewussten Vertragsverletzungen, die sich über einen längeren Zeitraum hinziehen, der Fall sein. Ebenso kann eine Abmahnung verzichtbar sein, wenn der Arbeitnehmer von vornherein zu erkennen gibt, dass ihn nur eine Kündigung von einem bestimmten Verhalten abbringen kann (vgl. Küttner, Personalhandbuch, 12. A., 2005, Abmahnung Randnr. 18).

24

Die Prüfung des Vorliegens eines wichtigen Grundes erfolgt in zwei Stufen (z.B. BAG, Urteil vom 07.07.2005 - 2 AZR 581/04 - aaO). In der ersten Stufe ist zu prüfen, ob objektiv Tatsachen vorliegen, die an sich geeignet sind, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar zu machen. Auf der zweiten Stufe ist eine umfassende Interessenabwägung durchzuführen, in der alle vernünftigerweise in Betracht zu ziehenden Umstände des Einzelfalls Berücksichtigung zu finden haben. Zu den regelmäßig im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Umständen werden insbesondere Lebensalter, Dauer der Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers und die wirtschaftliche Lage des Unternehmens gezählt (KR-Fischermeyer, 7.A., § 626 BGB Rdnr. 236).

25

Der Kündigende trägt für alle Umstände des wichtigen Grundes die Darlegungs- und Beweislast. Er muss in vollem Umfamg auch die Voraussetzungen für die Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung darlegen und beweisen (KR-Fischermeier, 7.A., § 626 BGB Rdnr. 380).

26

b)

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist das Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass das Verhalten des Klägers gegenüber dem Patienten ... keinen wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB darstellt.

27

Die Beklagte hat die fristlosen Kündigungen auf das Verhalten des Klägers gegenüber dem Patienten ... inder Nacht 30.03./31.03.2005 gestützt. Sie hat dem Kläger vorgeworfen, bei dem Patienten Blasenkatheter und Magensonde ohne ärztliche Anordnung und ohne medizinische Notwendigkeit gezogen zu haben, erst nach dessen mehrfacher Aufforderung und auch nur unzureichend Schleim abgesaugt, ihm die zur Verfügungstellung einer Urinflasche verweigert und ihn massiv verbal beleidigt zu haben. Keiner dieser Vorwürfe stellt jedoch im Ergbnis einen wichtigen Grund dar, der die ausgesprochenen Kündigungen stützen könnte.

28

aa)

Soweit die Beklagte die Kündigung darauf stützt, dass der Kläger den Blasenkatheter und die Magensonde bei dem Patienten ... ohne ärztliche Anordnung und ohne medizinische Notwendigkeit entfernt hat, ist das Gericht von Folgendem ausgegangen:

29

Das diesbezügliche Verhalten des Klägers kann einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung schon deshalb nicht begründen, weil die Beklagte die Vorgehensweise im Zusammenhang mit dem Entfernen von Blasenkathetern und Magensonden in der Praxis nicht einheitlich und nicht ohne Hinnahme von Ausnahmen handhabt. Es steht nicht fest, dass in der täglichen Praxis den Ärzten die Entscheidung über die Entfernung von Blasenkathetern und Magensonden tatsächlich und ausnahmslos vorbehalten bleibt, wie die Beklagte behauptet hat. Vielmehr hat die Beweisaufnahme ergeben, dass diese Maßnahmen in der Praxis durchaus unterschiedlich gehandhabt werden und jedenfalls in Einzel - oder Ausnahmefällen auch das Pflegepersonal die Entscheidung trifft, Blasenkatheter oder Magensonde bei einem Patienten zu entfernen. Die unterschiedliche Handhabung in der Praxis sowie die dadurch bestehenden Unklarheiten führen aber dazu, dass das Verhalten des Klägers keine derart gravierende Pflichtverletzung darstellt, die das Gewicht hätte, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar erscheinen zu lassen.

30

Nach der Beweisaufnahme steht nicht fest, dass bei der Beklagten das Entfernen von Magensonden und Blasenkathetern ausnahmslos und ausschließlich auf ärztliche Anordnung erfolgt. Das Gericht hat nach der Beweisaufnahme erhebliche Zweifel daran, dass die Behauptung der Beklagten, ihre Pflegekräfte würden in keinem Fall ohne ärztliche Anordnung diese Maßnahmen durchführen, der täglichen Praxis auf den Stationen entspricht.

31

(1)

Der von der Beklagten benannte Zeuge ... hat die Behauptung der Beklagten bestätigt, dass die Pflegekräfte Blasenkatheter und Magensonden nur auf ärztliche Anordnung legen und ziehen und es Ausnahmen hiervon nicht gebe. Der Zeuge ... hat auch ausgesagt, in der Vergangenheit noch nie erlebt zu haben, dass das Krankenpflegepersonal ohne ärztliche Anordnung Blasenkatheter oder Magensonden zieht. Er hat weiter ausgesagt, dass die Pflegekraft immer einen Arzt fragen kann, wenn ein Patient Probleme mit der Magensonde oder dem Blasenkatheter habe. Die Ärzte seien immer in Rufnähe, d.h. das Pflegepersonal könne die Ärzte anpiepen oder anrufen.

32

Der ebenfalls von der Beklagten benannte Zeuge ... hat ausgesagt, dass die Anordnungsverantwortung für die Diagnostik und Therapie eindeutig bei den Ärzten liege, dies sei eindeutig im Krankenpflegegesetz geregelt. Das Legen und Entfernen von Magensonden und Blasenkathetern sei nur auf ärztliche Anordnung durchzuführen, dies gehöre nicht zu Aufgabenbereich examinierter Pflegekräfte oder einer pflegerischen Fachkraft für Intensivmedizin und Anästäsiologie. Der Zeuge hat auch bekundet, dass es hiervon keine Ausnahmen geben dürfte, da jeder Pflegekraft klar und deutlich bekannt sei, wie die Regelungen im Krankenpflegegesetz lauteten. Nach Auffassung des Gerichts hat der Zeuge ... mit seiner Aussage die Behauptung der Beklagten nur bedingt nachbestätigt. Der Zeuge ... hat in erster Linie Aussagen zu dem Sollzustand auf den Stationen gemacht, wenn er sich auf die Regelungen im Krankenpflegegesetz bezieht und auf die "in Deutschland übliche" Unterscheidung zwischen Anordnungsverantwortung und der Durchführung der Grundpflege verweist. Die Aussage des Zeugen ... ist im Hinblick auf den Istzustand, d.h. die tatsächlichen Gegebenheiten in der täglichen Praxis, nur eingeschränkt ergiebig. Der Zeuge ... hat zwar bekundet, noch nie Kenntnis davon erlangt zu haben, dass die Realität auf den Stationen anders aussehen könne und Krankenpfleger ohne ärztliche Anordnung Magensonden oder Blasenkatheter entfernen. Der Aussage lässt sich aber letztlich nicht entnehmen, dass die tägliche Praxis auf den Stationen auch dem Sollzustand entspricht, wonach die Anordnungsverantwortung ausschließlich bei den Ärzten liegt und ausschließlich diese Entscheidungen über die Entfernung von Magensonden und Blasenkathetern treffen und die Pflegekräfte hiervon bei keiner Fallgestaltung und unter keinen Umständen abweichen.

33

(2)

Soweit der Hauptbeweis durch die Aussagen der Zeugen ... und ... als erbracht anzusehen ist, ist es dem Kläger jedenfalls gelungen, den Gegenbeweis zu erbringen.

34

Durch den Gegenbeweis versucht die nicht beweisbelastete Partei, die Unwahrheit der streitigen Tatsachen darzutun. Der Gegenbeweis ist bereits dann geglückt, wenn die Überzeugung des Gerichts von der zu beweisenden Tatsache erschüttert wird, die getroffenen Feststellungen unsicher werden. Dass sie als unwahr erwiesen wird oder sich auch nur eine zwingende Schlussfolgerung gegen sie ergibt, ist nicht nötig ( BGH, Urteil vom 23.03.1983 - IV a. ZR 120/01 - NJW 83, 1740).

35

Dies ist hier der Fall. Es ist dem Kläger gelungen, die Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit der Behauptung der Beklagten, in der Praxis würden die Pflegekräfte Magensonden und Blasenkatheter ausschließlich und ausnahmslos auf ärztliche Anordnung entfernen, zu erschüttern. Nach Vernehmung der von dem Kläger als Zeugen benannten Krankenpfleger- und pflegerinnen der Intensivstation hat das Gericht erhebliche Zweifel daran, dass in der täglichen Praxis tatsächlich Magensonden und Blasenkatheter ausnahmslos und ausschließlich auf Anordnung der Ärzte entfernt werden.

36

Der überwiegende Teil der als Zeugen vernommenen Krankenpfleger hat zwar bestätigt, dass eine ärztliche Anordnung für die Durchführung dieser Maßnahmen erforderlich ist, dass sie selbst ohne entsprechende ärztliche Anordnung Magensonden und Blasenkatheter nicht entfernen und auch nicht mitbekommen haben, dass ihre Kollegen diese Maßnahmen ohne ärztliche Anordnung durchführen. Die Aussagen der Zeugen ... pp. stimmen insofern inhaltlich weitestgehend überein.

37

Den Aussagen der Zeuginnen ..., und .... läßt sich aber entnehmen, dass es in der täglichen Praxis auf den Stationen durchaus Abweichungen von dem Sollzustand (Entfernung von Magensonden und Blasenkathetern nur auf ärztliche Anordnung) gibt.

38

So hat die Zeugin ... bekundet, selber immer den Arzt zu fragen, bevor sie eine Magensonde oder einen Blasenkatheter entfernt, es sei auch nicht die Regel, dass ein Krankenpfleger eine Magensonde oder einen Blasenkatheter ohne ärztliche Anordnung zieht, das sei auch nicht gewollt. Die Zeugin hat aber unmissverständlich ausgesagt, dass es schon mal vorgekommen sei, dass ein Krankenpfleger eine Magensonde oder einen Blasenkatheter ohne ärztliche Anordnung gezogen hat. Nach Einschätzung der Zeugin sei dies seit 1998 etwa ein- oder zweimal vorgekommen, wobei diese Vorfälle eher in der Anfangszeit ihrer Tätigkeit bei der Beklagten (seit 1998) stattgefunden hätten. Die diesbezügliche Aussage der Zeugin steht im Widerspruch zu der Behauptung der Beklagten, es komme auf den Stationen schlicht nicht vor, dass ein Krankenpfleger ohne ärztliche Anordnung diese Maßnahmen durchführe. Die Zeugin hat bestätigt, dass es, wenn auch nur in sehr seltenen Fällen, Ausnahmen von der ausschließlichen Anordnungsverantwortung des Arztes gegeben habe.

39

Auch die Zeugin ... hat ausgesagt, dass sie selber grundsätzlich den Arzt frage, bevor sie eine Magensonde oder einen Blasenkatheter bei einem Patienten entfernt. Die Zeugin hat aber auch bekundet, dass es hiervon "allerdings mit Sicherheit" Ausnahmen gebe. Es gebe Fälle, in denen der Arzt erst rückwirkend informiert werde, das komme schon mal vor, wenn auch nicht oft. Die Zeugin hat ausgesagt, dass die Entfernung von Magensonden oder Blasenkathetern ohne ärztliche Anordnung ab und zu, ein- oder zweimal im Jahr vorkomme. Die Zeugin ... hat erläutert, dass es sich in diesen Fällen um Aufwachpatienten handele, die nur ein paar Stunden auf der Intensivstation bleiben. Bei diesen Fällen würden die Pflegekräfte Magensonde oder Blasenkatheter entfernen und den Arzt erst im Nachhinen davon informieren, es komme allerdings auf den Patienten und die medizinischen Gegebenheit an. Auch die Aussage der Zeugin ... hat das Gericht erheblich daran zweifeln lassen, dass die Behauptung der Beklagten, es kämen in der täglichen Praxis keinerlei Ausnahmen vor, zutreffend ist. Der Aussage der Zeugin ... läßt sich unmißverständlich entnehmen, dass in bestimmten Fällen, insbesondere bei medizinisch unproblematischen Aufwachpatienten, die Pflegekräfte Magensonden oder Blasenkatheter entfernen, den Arzt erst im Nachhinein hiervon informieren und die Sache dann mit der Information des Arztes auch erledigt sei. Wenngleich die Zeugin die beschriebenen Ausnahmen offenbar auf unproblematische Patienten beschränkt hat, ist damit die Behauptung der Beklagten, es gebe in keinem Fall eine Ausnahme, erschüttert.

40

Gleiches gilt für die Aussage der Zeugin .... Auch die Zeugin ... hat ausgesagt, dass sie etwa zwei- oder dreimal im Jahr davon gehört habe, dass ein Kollege eine Magensonde oder einen Blasenkatheter ohne ärztliche Anordnung entfernt habe, wenn sie dies selber auch nicht unmittelbar mitbekommen habe. Weiter hat die Zeugin bekundet, dass es Fälle gebe, in denen das Pflegepersonal den Arzt erst im Nachhinein von der Entfernung einer Magensonde oder eines Blasenkatheters informiert. Die Ärzte seien nicht immer greifbar. Wenn sich ein Patient schlecht fühle, er Brennen oder Schmerzen habe, entfernten die Pflegekräfte auch schon mal eine Magensonde oder einen Blasenkatheter. Weiter hat die Zeugin ausgesagt, dass die Krankenpfleger den Blasenkatheter ohne ärztliche Rücksprache ziehen, wenn der Patient auf die normale Station verlegt werden soll, weil das Ziehen sonst ohnehin auf der normalen Station passieren würde. Auch die Aussage der Zeugin ... erschüttert die Behauptung der Beklagten. Den Bekundungen der Zeugin ... läßt sich unmissverständlich entnehmen, dass es entgegen der Behauptung der Beklagten Fälle gibt, in denen Pflegekräfte Magensonde oder Blasenkatheter entfernen und den Arzt erst im Nachhinein davon informieren.

41

Schließlich hat auch die Aussage des Zeugen ... die Zweifel des Gerichts bestätigt, dass die Behauptung der Beklagten mit der Realität auf den Intensivstation vollständig übereinstimmt. Der Zeuge hat zwar ausgesagt, dass es für ihn selber keine Ausnahmen von der Anordnungsverantwortung des Arztes gebe und er selber auch noch nicht mitbekommen habe, dass Kollegen ohne ärztliche Anordnung Magensonde oder Blasenkatheter entfernen. Der weiteren Aussage des Zeugen lässt sich jedoch entnehmen, dass die Entscheidung, einen Blasenkatheter oder eine Magensonde zu entfernen, in der Praxis nicht ausschließlich und ohne jede Ausnahme dem behandelnden Arzt vorbehalten bleibt. Der Zeuge hat bekundet, dass die Anordnung eines Arztes, einen Patienten z.B. nach einer Knieoperation "zur Verlegung fertig machen" zu sollen, im Einzelfall bedeuten könne, dass damit auch das Ziehen der Magensonde gemeint ist. Die Anordnung des Arztes könne man aber nur bei unproblematischen Fällen, die selten vorkämen, so verstehen. Wenngleich der Zeuge die Ausnahme auf einen eng begrenzten Fall beschränkt, wird doch deutlich, dass es im Gegensatz zu der strikten Behauptung der Beklagten in der täglichen Praxis durchaus Ausnahmen gibt.

42

(3)

Die Aussagen der Zeuginnen ..., und ... sowie die Aussage des Zeugen ... sind auch in sich schlüssig und nachvollziehbar. Es gibt im Übrigen keinen Anhaltspunkt, an der Glaubwürdigkeit der Zeugen und der Richtigkeit ihrer Aussagen zu zweifeln. Die Zeugen sind weiterhin als Krankenpfleger bei der Beklagten beschäftigt und haben mit ihrer Aussage letztlich dazu beigetragen, die Behauptung der Beklagten zu erschüttern. Als Angestellte der Beklagten haben die Zeugen gerade kein persönliches Interesse daran, die Behauptung der Beklagten in Frage zu stellen. Der Umstand, dass sich die Zeugen mit ihrer Aussage zum Teil im Widerspruch zu der strikten Behauptung der Beklagten gesetzt haben, spricht vielmehr für deren Glaubwürdigkeit und die Richtigkeit ihrer Bekundungen. Dies gilt insbesondere deshalb, weil sich der pflegerische Leiter der anästäsiologischen Intensivstation der Beklagten ... sowie der Leiter des Pflegedienstes der Beklagten ... während der Beweisaufnahme im Sitzungssaal befunden haben und so die Aussage jedes Krankenpflegers und jeder Krankenpflegerin mitverfolgt haben. Auch dieser Umstand war für das Gericht Anlass, den Inhalt der Aussagen der Zeuginnen ..., und ... sowie des Zeugen ... als inhaltlich richtig anzunehmen.

43

(4)

Das Gericht hat insgesamt den Eindruck gewonnen, dass es in der täglichen Praxis durchaus (Grenz-) Fälle gibt, in denen, ggf. abhängig von dem zuständigen Arzt und der zuständigen Pflegekraft, Ausnahmen von der an sich ausschließlich dem Arzt obliegenden Entscheidungsbefugnis über die Durchführung der fraglichen Maßnahmen vorkommen. Es mag sein, dass dies nicht dem Sollzustand entspricht. Ausschlaggebend ist jedoch, dass es tatsächlich derartige Fallkonstellationen zu geben scheint (Istzustand).

44

bb)

Soweit die Zeuginnen ...,und der Zeuge ... die Ausnahmen, in denen Pflegekräfte ohne ärztliche Anordnung Magensonden und Blasenkatheter entfernen, auf bestimmte Patienten und bestimmte medizinische Gegebenheiten beschränkt haben, der Patient ... aber nicht als medizinisch problemlos einzustufen ist, kann dies einen zur außerordentlichen Kündigung berechtigenden wichtigen Grund nicht begründen.

45

Unstreitig handelte es sich bei dem Patienten ... nicht um einen medizinisch als problemlos zu beurteilenden Aufwachpatienten, der sich nur vorübergehend auf der Intensivstation der Beklagten befand. Der Patient hatte eine mehrstündige Operation wegen eines Mundbodenkarzinoms hinter sich und bedurfte offensichtlich einer besonderen Pflege. Nach Auffassung des Gerichts kann aber dahinstehen, ob die Situation des Patienten ... medizinisch derart problematisch war und jedenfalls in diesem besonderen Fall keine Ausnahme von der grundsätzlich dem Arzt vorbehaltenen Anordnungsentscheidung in Betracht gekommen wäre. Dahinstehen kann auch, ob die Entfernung der Magensonde und des Blasenkatheters medizinisch nicht geboten war, wie die Beklagte behauptet hat. Darauf kommt es letztlich nicht an. Selbst wenn man zugunsten der Beklagten unterstellt, Magensonde und Blasenkatheter hätten für den Patienten ... keine Gefahr dargestellt und hätten problemlos mindestens bis zum nächsten Morgen bei dem Patienten verbleiben können oder müssen, stellte das Entfernen der Magensonde und des Blasenkatheters keinen Verstoß gegen arbeitsvertragliche Verpflichtungen in einem Maße dar, der eine fristlose Kündigung ohne Abmahnung rechtfertigen könnte. Denn auch wenn man unterstellt, der Kläger habe die von dem Blasenkatheter und der Magensonde ausgehende Gefahr zu hoch und damit medizinisch falsch eingeschätzt, wäre der Ausspruch einer fristlosen Kündigung wegen dieses Vorfalls jedenfalls unverhältnismäßig.

46

Die Beklagte hätte dem Kläger wegen seines Verhaltens ggf. eine Abmahnung ausprechen müssen, um ihm dadurch die ggf. unrichtige medizinische Einschätzung vor Augen zu halten und ihn für die Zukunft anzuhalten, in diesen bzw. in allen Fällen den Rat und die Anweisung des behandelnden Arztes einzuholen. Bei einer Beschäftigungsdauer von zum Zeitpunkt der fristlosen Kündigung 26 Jahren, in denen der Kläger beanstandungslos seine Arbeitsleistung als Krankenpfleger für die Beklagte erbracht hat und unter Berücksichtigung seines Lebensalters, wäre es der Beklagten zumutbar gewesen, vor Ausspruch einer ausserordentlichen Kündigung, ob nun fristlos oder mit sozialer Auslauffrist, andere Maßnahmen, wie Abmahnung oder auch Versetzung, in Betracht zu ziehen. Es ist nicht davon auszugehen, dass sich der Kläger nach Erhalt einer entsprechenden Abmahnung, die ihm das Ziehen von Blasenkathetern und Magensonden ohne ärztliche Anordnung ausnahmslos und unmißverständlich untersagt, nicht in Zukunft vertragsgemäß verhalten hätte. Da sowohl der Kläger als auch zum Teil seine Kollegen davon ausgehen, dass es in der täglichen Praxis Ausnahmen von der grundsätzlich dem Arzt obliegenden Entscheidung zum Ziehen von Magensonden und Blasenkathetern gibt, hätte eine Abmahnung für die Zukunft durchaus ihre Wirkung erzielt.

47

cc)

Auch die behauptete Beleidigung des Patienten ... stellt keinen wichtigen Grund für eine ausserordentliche Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB dar.

48

Dabei kann dahinstehen, ob der Kläger den Patienten ... tatsächlich in der beschriebenen Weise beleidigt hat, wie die Beklagte behauptet hat. Selbst wenn man mit der Beklagten davon ausgeht, der Kläger habe dem Patienten ... gegenüber die beschriebenen Äußerungen getätigt, stellt sich die hierauf gestützte fristlose Kündigung ebenfalls als unverhältnismäßig dar. Auch hier ist die langjährige Beschäftigungszeit des Klägers von 26 Jahren und sein Lebensalter zu berücksichtigen. Eine Abmahnung liegt nicht vor. Der Ausspruch der ausserordentlichen Kündigungen war nicht die unausweichlich letzte Maßnahme (ultima ratio) für die Beklagte.

49

dd)

Soweit die Beklagte die Kündigungen weiterhin darauf gestützt hat, der Kläger habe bei dem Patienten ... erst nach dessen mehrfacher Aufforderung und im Übrigen nicht ausreichend Absaugevorgänge durchgeführt und habe zudem verweigert, dem Patienten nach Ziehen des Blasenkatheters eine Urinflasche zur Verfügung zu stellen, können diese Vorwürfe ebenfalls die ausserordentlichen Kündigungen nicht rechtfertigen.

50

Soweit die Beklagte mit Nichtwissen bestritten hat, dass der Kläger um 20.00 Uhr, um 21.00 Uhrund um 1.00 Uhr einen Absaugevorgang bei dem Patienten ... durchgeführt hat, dürfte dies nicht ausreichend sein. Der Kläger hat sich zum Beweis seiner Behauptungen auf die bereits zur Akte gereichte Fieberkurve des Patienten ... vom 30.03.2005 berufen, in die die Absaugevorgänge jeweils mit einem "X" eingetragen seien. In die benannte Krankenakte ist in der Tat zu den von dem Kläger angegebenen Uhrzeiten ein "X" eingetragen (Bl. 48 d.A.). Dem ist die Beklagte auch nicht entgegengetreten, weder hat sie behauptet, die eingetragenen Kreuze bedeuteten in Wahrheit etwa anderes als die Durchführung eines Absaugevorgangs, noch hat sie behauptet, der Kläger hätte jeweils ein "X" in die Krankenakte eingetragen, ohne tatsächlich den Absaugevorgang bei dem Patienten ... durchgeführt zu haben. Wenn die Beklagte hilfsweise behauptet, der Kläger hätte in derNacht vom 30.03. auf den 31.03.2005 jedenfalls mehrere Absaugevorgänge durchführen müssen, als er dies getan habe, stellt auch dies keinen wichtigen Grund dar, der eine fristlose Kündigung ohne Vorliegen einer Abmahnung rechtfertigen kann. Selbst wenn der Kläger tatsächlich nicht aureichend oft den Schleim abgesaugt hätte, hätte die Beklagte den Kläger auf dieses Fehlverhalten bzw. die unrichtige Vorgehensweise aufmerksam machen müssen, damit er sein Verhalten überdenken und in Zukunft ändern kann. Der Vorwurf, der Kläger habe nicht ausreichend Absaugevorgänge durchgeführt, kann zwar einen arbeitsvertraglichen Pflichtenverstoß begründen, jedoch nicht in der Schwere, dass er ohne Abmahnung eine außerordentliche Kündigung nach einer 26-jährigen Betriebszugehörigkeit begründen könnte.

51

Gleiches gilt für die bestrittene Behauptung der Beklagten, der Kläger habe es verweigert, dem Patienten eine Urinflasche zu geben. Aus den Eintragungen in der Krankenakte vom 30.03.2005 (Bl. 48 d.A.) ergibt sich, dass der Patient ... zu den dort genannten Zeiten eine bestimmte Urinmenge abgegeben hat. Insofern steht jedenfalls fest, dass der Kläger dem Patienten nach Ziehen des Blasenkatheters eine Urinflasche zur Verfügung gestellt hat. Wenn der Kläger es tatsächlich zunächst verweigert haben sollte, dem Patienten eine Urinflasche zu geben, so könnte auch dies ggf. einen arbeitsvertraglichen Pflichtenverstoß begründen, jedoch auch hier nicht in dem Maße, dass er einen wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB darstellen könnte. Auch hier wäre z.B. eine Abmahnung das mildere Mittel gewesen, eine außerordentliche Kündigung stellte nicht die unausweislich letzte Maßnahme dar.

52

2.

Der Kläger kann verlangen, dass ihn die Beklagte bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens als Krankenpfleger zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiterbeschäftigt.

53

Nach der Rechtsprechung des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 27.02.1985 (- GS 1/84 - NZA 1985, 702 - 709) hat der gekündigte Arbeitnehmer außerhalb der Regelung der §§ 102 Abs. 5, 79 Abs. 2 BetrVG einen arbeitsvertraglichen Anspruch auf vertragsgemäße Beschäftigung über den Ablauf der Kündigungsfrist oder bei einer fristlosen Kündigung über deren Zugang hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsprozesses, wenn die Kündigung unwirksam ist und überwiegend schutzwerte Interessen des Arbeitgebers einer solchen Beschäftigung nicht entgegenstehen. Ab dem Zeitpunkt, zu dem in dem Kündigungsschutzprozess ein die Unwirksamkeit der Kündigung feststellendes Urteil ergeht, kann die Ungewissheit des Prozessausgangs für sich allein ein überwiegendes Gegeninteresse des Arbeitgebers an einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers nicht begründen. Hinzukommen müssen dann vielmehr zusätzliche Umstände, aus denen sich im Einzelfall ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers ergibt, den Arbeitnehmer nicht zu beschäftigen (BAG, Beschluss vom 27.02.1985, aaO.). Besondere Umstände, aus denen sich ein Interesse der Beklagten an einer Nichtbeschäftigung des Klägers ergeben würde, hat diese nicht vorgetragen.

54

II.

Der Streitwert war gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festzusetzen. Die Streitwertentscheidung beruht auf § 42 Abs. 4 Satz 2 GKG. Das Gericht hat für die Kündigungen insgesamt drei Bruttomonatsgehälter in Höhe von jeweils 3 500,00 Euro und für den Weiterbeschäftigungsanspruch ein weiteres Bruttomonatsgehalt zugrundegelegt.

55

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO in Verbindung mit § 46 Abs. 2 ArbGG. Die Kosten waren vollumfänglich der unterlegenen Beklagten aufzuerlegen.

56

Die Berufung war nicht gesondert zuzulassen, weil Gründe hierfür gemäß § 64 Abs. 3 ArbGG nicht vorlagen.