Verwaltungsgericht Osnabrück
Urt. v. 31.07.2002, Az.: 3 B 64/02

Anordnung; Anordnungsanspruch; Anordnungsgrund; Aufnahmekapazität; Auswahlverfahren; Bildungsauftrag; Bildungseinrichtung; Bildungsgang; Ermessen; Funktionsfähigkeit; Gymnasium; Hauptsache; Kapazitätsengpass; Kapazitätsgrenze; Nachteil; Rechtsverlust; Schulbezirk; Schule; Schulentwicklungsplanung; Schulform; Schulträger; Schulwahl; Standort; Teilhabe; Verwaltungsausschuss; Wahlrecht; Wohnsitz

Bibliographie

Gericht
VG Osnabrück
Datum
31.07.2002
Aktenzeichen
3 B 64/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 43425
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Mit einer Realschulempfehlung der Orientierungsstufe E. beantragten die Erziehungsberechtigten der Antragstellerin deren Aufnahme in eine Klasse 7 des Antragsgegners zum Schuljahr 2002/2003. Durch Satzung vom 19.06.2001 bildete die Stadt F. als Schulträgerin für den Sekundarbereich I ihrer Gymnasien einen gemeinsamen Schulbezirk, der sich auf das gesamte Gebiet der Stadt A. und in Absprache mit dem Landkreis B. in Überschneidung mit den Schulbezirken des Landkreises C. auf die Gemeinden D. und E. erstreckt, für das Angebot „Latein als 1. Fremdsprache“ darüber hinaus auf das gesamte Gebiet des Landkreises F..

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Durch Bescheid vom 10.06.2002 lehnte der Antragsgegner den Antrag mit der Begründung ab, es seien mehr als 150 Aufnahmeanträge gestellt worden. Dagegen legte die Antragstellerin, vertreten durch ihre Erziehungsberechtigten, Widerspruch ein, den die Bezirksregierung mit Bescheid vom 04.07.2002 im Wesentlichen aus folgenden Gründen zurückwies: Der Antragsgegner sei zur Aufnahme von Schülerinnen und Schülern nur im Rahmen seiner Aufnahmekapazität verpflichtet. Der Schulträger habe beschlossen, den Antragsgegner am Standort Innenstadt als höchstens fünfzügige Schule zu führen. Die Obergrenze für eine Klasse im Sekundarbereich I eines Gymnasiums liege bei 30 Schülerinnen und Schülern. Deshalb habe der Antragsgegner nur insgesamt 150 Schülerinnen und Schüler aufnehmen können. Er habe unter den insgesamt 174 Aufnahmebewerbern nach folgenden Kriterien eine Auswahl getroffen: Mit Rücksicht auf den altsprachlichen Bildungsschwerpunkt des Antragsgegners seien nur Schülerinnen und Schüler abgelehnt worden, die als zweite Fremdsprache „Französisch“ angegeben hätten; im Übrigen sei auf die Art des Schulweges, die Verkehrsanbindung an die Schule und den bisherigen schulischen Werdegang abgestellt worden. Dabei handele es sich um sachgerechte Kriterien, die nicht hinter die von der Antragstellerin angeführten Abwägungsgesichtspunkten (Erhalt von Kinderfreundschaften und günstigere Verkehrverbindung als beim Besuch eines anderen Gymnasiums) zurückzustellen seien.

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Die Antragstellerin hat Klage erhoben (3 A 133/02). Sie begehrt vorläufigen Rechtsschutz und trägt im Wesentlichen vor: Der Antragsgegner habe ein fehlerhafte Auswahl unter den Bewerberinnen und Bewerbern durchgeführt. Außer ihr habe er alle Bewerberinnen und Bewerber aus der Orientierungsstufe G. aufgenommen. Sie sei kontaktarm. Deshalb sei es pädagogisch notwendig, sie in ihrem bisherigen Freundeskreis zu belassen (wird ausgeführt).

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Die Antragstellerin beantragt,

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den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie zum Schuljahr 2002/2003 vorläufig in eine Klasse 7 am Schulstandort Innenstadt auszunehmen.

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Die Antragsgegnerin beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

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Er trägt vor: Das Wahlrecht der Erziehungsberechtigten aus § 59 Abs. 1 NSchG erfasse nur die Bildungsgänge und Schulformen, begründe aber keine Anspruch auf Zugang zu einer bestimmten Schule. Ein unbeschränktes Recht auf Auswahl der Ausbildungsstätte bestehe nicht und sei auch nicht sachgerecht, weil andernfalls schulorganisatorische und pädagogische Missstände zu befürchten seien. Das Wahlrecht der Eltern und Schüler sei deshalb der schulaufsichtsrechtlichen Gestaltungsbefugnis des Staates unterworfen. Soweit nach Maßgabe des § 63 Abs. 3 Satz 3 NSchG innerhalb eines gemeinsamen Schulbezirks ein Wahlrecht zwischen den einzelnen Schulen bestehe, sei dieses Wahlrecht durch die vom Schulträger festgesetzte Kapazität begrenzt. Letzteres treffe hier zu. Der Verwaltungsausschuss der Stadt H. habe im Jahr 1991 beschlossen, den Antragsgegner nur 5-zügig zu führen. Es könne nicht sein, dass Land und Schulträger einem kaum vorauszusehenden Elternwillen in letzter Konsequenz durch Schaffung von Schulraum und Bereitstellung von Lehrerstunden auch dann Rechnung tragen müssten, wenn andere Schulen derselben Schulform innerhalb des gemeinsamen Schulbezirks nicht ausgelastet seien. Der Antragsgegner habe zum Schuljahr 2002/2003 für den 7. Schuljahrgang 5 Klassen mit insgesamt 148 Schülern gebildet und sei deshalb nach Maßgabe des Erlasses des MK über die Klassenbildung und Lehrerstundenzuweisung an allgemeinbildenden Schulen v. 28.02.1995 - 307 - 84001/3 - ausgelastet, wonach im Gymnasium bis Klasse 10 die Klassen mit einer Bandbreite von 24 bis 30 Schülerinnen und Schülern zu bilden seien.

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Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Der Antrag ist zulässig und begründet. Die Antragstellerin hat (1) einen Anordnungsgrund und (2) einen Anspruch auf Aufnahme in eine 7. Klasse am Standort Innenstadt des Antragsgegners glaubhaft gemacht.

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(1) Im Streit um die Aufnahme in eine bestimmte Schule hält die Kammer regelmäßig - sehr hohe Erfolgsaussichten in der Hauptsache vorausgesetzt - den Erlass einer die Hauptsache vorwegnehmenden einstweiligen Anordnung für geboten, weil andernfalls dem Rechtsschutzsuchenden erhebliche Nachteile drohen, die durch die Hauptsacheentscheidung nicht mehr beseitigt werden können (vgl. B. v. 30.08.1996 - 3 B 38/96). Erfahrungsgemäß erschöpfen sich diese Nachteile nicht darin, dass die Schülerin oder der Schüler für einen überschaubaren Zeitraum nicht wunschgerecht aber immerhin gleichwertig beschult wird und dabei einen anderen Schulweg mit unter Umständen ungünstigen Verkehrsverbindungen in Kauf nehmen muss. Auch bei einer Gleichheit der Bildungsgänge der fraglichen Schulen werden die Schülerinnen und Schüler durch den Besuch einer bestimmten Schule geprägt, nicht nur in fachlicher und pädagogischer Hinsicht etwa durch besondere Angebote der Schule auf sportlichem oder musischem Gebiet, durch die Art, wie die Schule ihren Bildungsauftrag wahrnimmt und das pädagogische Zusammenwirken von Eltern und Lehren pflegt (der „Geist“ der Schule oder die „Corporate Identity“) oder durch spezielle Beziehungen der Schule zu anderen in- oder ausländischen Bildungseinrichtungen, sondern in erheblichem Maße auch in ihren sozialen Beziehungen. Deshalb erscheint die Annahme gerechtfertigt, dass nach einem Obsiegen in einem gegebenenfalls durch mehrere Instanzen geführten Hauptsacheverfahren ein Schulwechsel - wenn er überhaupt noch ernsthaft in Betracht kommt - den erlittenen Rechtsverlust nicht ausgleichen kann.

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(2) Die Antragstellerin erfüllt - unstreitig - die Voraussetzungen für die Aufnahme in eine 7. Klasse eines Gymnasiums. Welches Gymnasium sie besuchen muss oder darf, folgt aus § 63 Abs. 2 und 3 NSchG. Nach § 63 Abs. 2 Satz 1 NSchG legen im Primarbereich und im Sekundarbereich I die Schulträger mit Genehmigung der Schulbehörde unter Berücksichtigung der Ziele des Schulentwicklungsplans für jede Schule, erforderlichenfalls für einzelne Bildungsgänge, jeden Schulzweig oder einzelne Schuljahrgänge gesondert, einen Schulbezirk fest. Dies hat zur Folge, dass die Schülerinnen und Schüler, sofern mehrere Schulen der von ihnen gewählten Schulform bestehen, die Schule zu besuchen haben, in deren Schulbezirk sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben (§ 63 Abs. 3 Satz 1 NSchG). Für mehrere Schulen derselben Schulform, die sich an demselben Standort befinden, kann ein gemeinsamer Schulbezirk festgelegt werden. Bieten mehrere solcher Schulen denselben Bildungsgang an, so kann auch für diesen Bildungsgang ein gemeinsamer Schulbezirk festgelegt werden (§ 63 Abs. 2 S. 3 und 4). Hieran knüpft § 63 Abs. 3 Satz 3 NSchG mit folgender Regelung an: „In den Fällen des Absatzes 2 Sätze 3 und 4 haben die Schülerinnen und Schüler die Wahl zwischen den Schulen, für die ein gemeinsamer Schulbezirk festgelegt worden ist.“ Diese Bestimmung vermittelt der Antragstellerin ein subjektiv-öffentliches Recht, zwischen dem Antragsgegner und einem anderen Gymnasium in dem von der Schulträgerin durch § 8 der Satzung vom 19.06.2001 festgelegten gemeinsamen Schulbezirk zu wählen, in welchem sie ihren Wohnsitz hat. Daran ändert auch die Bestimmung des § 59 Abs. 1 NSchG nichts, wonach den Erziehungsberechtigten bzw. den volljährigen Schülerinnen und Schülern im Rahmen der Regelungen des Bildungsweges eine Wahl nur zwischen den Schulformen und Bildungsgängen, die zur Verfügung stehen, eröffnet ist, nicht dagegen eine Wahl zwischen einzelnen Schulen. Diese das Rechtsverhältnis zur Schule allgemein regelnde Bestimmung wird für schulpflichtige Schülerinnen und Schüler durch den Anwendungsbereich der spezielleren Norm (§ 63 Abs. 3 Satz 3 NSchG) verdrängt.

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Dem Antragsgegner ist darin zuzustimmen, dass dieses Wahlrecht an Grenzen stoßen kann. Die Reichweite des Wahlrechts, bei dem es sich um eine einfach-gesetzliche Ausprägung des aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes abzuleitenden Rechts auf Teilhabe an den (vorhandenen) öffentlichen Bildungseinrichtungen handelt (siehe dazu Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, 3. Aufl., Band 1, Schulrecht, Anm. 364 ff.), gegenüber Kapazitätsengpässen ist jedoch nicht ausschließlich Gegenstand sachgerechter Ermessensausübung der Verwaltung - der Schulleitung als Vertreterin des Schulträgers -, sondern ist normativ zu bestimmen, insbesondere hinsichtlich des Auswahlverfahrens (Niehues, a.a.O. Anm. 320, 370). Als normative Grenzen des Rechts eines Schülers, vom Antragsgegner aufgenommen zu werden, finden sich hier lediglich § 8 der Satzung des Schulträgers vom 19.06.2001 mit der Festlegung des gemeinsamen Schulbezirks und § 3 der Verordnung zur Schulentwicklungsplanung vom 19.10.1994 (Nds. GVBl. S. ), wonach ein Gymnasium im Sekundarbereich I höchstens 6-zügig geführt werden darf. Insbesondere bewirkt der Beschluss des Verwaltungsausschusses der Stadt I. keine normative Einschränkung des Wahlrechts.

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Fehlt es danach an einer den Anspruch des Aufnahmebewerbers ausschließenden rechtssatzförmigen Regelung der Kapazitätsgrenze und des Auswahlverfahrens einschließlich der Auswahlkriterien, so muss der Antragsgegner Schülerinnen und Schüler „bis zur Grenze seiner Funktionsfähigkeit aufnehmen, d. h., bis jede weitere Aufnahme - z. B. wegen Raum- und Platzmangels - offensichtlich zu unerträglichen Zuständen führen würde“ (Niehues, a.a.O., Anm. 369 unter Hinweis auf das „Numerus-clausus-Urteil“ des BVerfG - NJW 1972, 1561 -). In ähnliche Richtung weist § 59 Abs. 6 NSchG, wonach die Aufnahmekapazität einer Schule (erst dann) überschritten ist, wenn nach Ausschöpfung der verfügbaren Mittel unter den personellen, sächlichen und fachspezifischen Gegebenheiten die Erfüllung des Bildungsauftrages der Schule nicht mehr gesichert ist. Ob an anderen gleichwertigen Schulen Kapazitäten in größerem Umfang frei bleiben spielt dabei keine Rolle. Dies gilt auch insoweit, als der Antragsgegner neben dem - größeren - Standort Innenstadt mit einer Außenstelle in Osnabrück-J. eingerichtet ist, die im Verhältnis zur „Stammschule“ in Bezug auf die Rechtsfolgen der Festsetzung von Schulbezirken wie eine selbständig Schule zu behandeln ist (VG Oldenburg, 3. Kammer Osnabrück, B. v. 02.08.1990 - 3 B 59/90).

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Der Antragsgegner hat nicht dargelegt, dass seine Aufnahmekapazität mit der Aufnahme von 148 Schülerinnen und Schülern im vorgenannten Sinne erschöpft ist. Geht man davon aus, dass die Einrichtung von 5 Klassen als faktische Kapazitätsgrenze zu beachten ist, so ist nach dem o.a. Erl. d. MK die Aufnahme von 150 Schülern ohne Weiteres möglich. Gegenteiliges hat der Antragsgegner jedenfalls nicht vorgetragen. Die Kapazitätsgrenze erscheint aber auch dann nicht überschritten, wenn der Antragsgegner nicht nur die Antragstellerin, sondern auch die beiden weiteren Aufnahmebewerber aufnimmt, die in den Verfahren 3 B 63 und 65/02 bei der Kammer ebenfalls vorläufigen Rechtsschutz in Anspruch nehmen. In diesem Fall müsste der Antragsgegner die vorgeschriebene Bandbreite jedenfalls für eine Klasse um „1“ überschreiten. Dass dies eine Gefährdung des Bildungsauftrages des Antragsgegners nach sich zöge, ist nicht substantiiert sichtbar gemacht worden. Dies gilt vor allem mit Blick auf die Regelung zu Nr. 3.5 des Erlasses des MK v. 28.02.1995, wonach u. a. in dem hier zu beurteilenden Eingangsjahrgang (7.) Klassen so gebildet werden können, dass die obere Bandbreite um bis zu 1 Schülerin oder Schüler je Klasse überschritten wird. Eine solche Entscheidung steht nach dem Erlass zwar nur der Schulbehörde zu. Dies ändert aber nichts daran, das die Möglichkeit einer Überschreitung der Obergrenze als Beweiszeichen dafür zu werten ist, dass eine Überschreitung im zulässigen Maße kaum den Bildungsauftrags der Schule gefährden kann.

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Der Antragsgegner kann dem Aufnahmeanspruch der Antragstellerin nicht entgegenhalten, seine Aufnahmekapazität reiche jedenfalls nicht aus, um alle Bewerber aufzunehmen. In welcher Weise die hier angesprochenen drei oder etwa weitere Plätze unter den zurückgewiesenen Schülerinnen und Schülern hätten verteilt werden müssen, wenn weitere oder alle zurückgewiesenen Schülerinnen und Schülern ihren Anspruch rechtzeitig gerichtlich geltend gemacht hätten, ist nach der ständigen Rechtsprechung zum Kapazitätsrecht unerheblich (vgl. OVG Lüneburg, B. v. 26.02.1997 - 13 M 5917/96 -, Zurückweisung der Beschwerde gegen den Beschluss der Kammer vom 30.08.1996 - 3 B 38/96).