Landgericht Osnabrück
Beschl. v. 16.01.2014, Az.: 1 Qs 4/14

Bestehen einer Anhörungspflicht bei Notwendigkeit der Verteidigung durch "unverzügliche" Bestellung des Verteidigers nach Beginn der Vollstreckung

Bibliographie

Gericht
LG Osnabrück
Datum
16.01.2014
Aktenzeichen
1 Qs 4/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 14070
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGOSNAB:2014:0116.1QS4.14.0A

Amtlicher Leitsatz

Die Anhörungspflicht aus § 142 Abs. 1 StPO besteht auch dann, wenn sich die Notwendigkeit der Verteidigung .aus § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ergibt und der Verteidiger in diesem Fall gemäß § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO "unverzüglich' nach Beginn der Vollstreckung zu bestellen ist.

In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.
Staatsangehörigkeit: polnisch,
Verteidiger: Rechtsanwalt A.
Verteidiger: Rechtsanwalt B.
wegen Verdachts des Diebstahls
wird der Beschluss des Amtsgerichts Osnabrück vom 30.12.2013 (Geschäftsnummer: 246 Os <720 Js 36315/13> 242/13) auf die Beschwerde des Beschuldigten aufgehoben.

Tenor:

Der bisherige Pflichtverteidiger, Rechtsanwalt A wird entpflichtet.

Dem Beschuldigten wird Rechtsanwalt B. als Pflichtverteidiger beigeordnet,

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Beschuldigten werden der Landeskasse auferlegt.

Gründe

Gegen den Beschuldigten erging unter dem 21.11.2013 ein Haftbefehl wegen des Vorwurfs, durch 12 Straftaten als Mitglied einer Bande fortgesetzt an Autodiebstählen im Bundesgebiet beteiligt gewesen zu sein. Er wurde am 05.12.2013 um 07.10 Uhr im Zuge von Fahndungsmaßnahmen als Fahrer des in der Nacht zuvor in Düsseldorf entwendeten Audi A 6 mit dem amtlichen Kennzeichen xxxxx auf der BAB 2 irr Bereich Garbsen angehalten und festgenommen (BI. 173, 174 Bd. II d. A.). Am selben Tag wurde er dem Haftrichter beim Amtsgericht Osnabrück vorgeführt. Der Haftbefehl wurde ihm bekanntgegeben und übersetzt. Der Beschuldigte erklärte zur Sache, dass im Haftbefehl "Quatsch" stehe und er an Diebstählen nicht beteiligt gewesen sei. Der Haftbefehl wurde sodann vom Gericht aufrechterhalten. im Protokoll vom 05.12.2013 (BI. 2 ff. Bd. III d, A.) heißt es weiter wie folgt:

"Der Beschuldigte wird darauf hingewiesen, dass ein Pflichtverteidiger unverzüglich zu bestellen ist. Nach Durchsicht der Verteidigerliste äußerte er den Wunsch, dass RA A. bestellt werden möge.

B.u v.

Für den Beschuldigten wird RA A. zum Pflichtverteidiger bestellt," (BI. 4 Bd. HI d. A.)."

Mit Schreiben vom 16.12.2013 meldete sich Rechtsanwalt B. als Verteidiger und beantragte seine Beiordnung als Pflichtverteidiger sowie Akteneinsicht (BI. 66 Bd. III d. A.). Mit einem weiteren Schreiben unter demselben Datum beantragte er, anstelle des Kollegen A. beigeordnet zu werden, und teilte mit, dass die Sache einvernehmlich mit dem Kollegen besprochen worden und zudem ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Kollegen und dem Beschuldigten nicht entstanden sei (BI. 83 Bd. III d. A.). Rechtsanwalt A. erklärte mit Schreiben vorn 23.12.2013, dass der. Beiordnung eines anderen Kollegen nicht widersprochen werde und die bis jetzt entstandenen Kosten der Pflichtverteidigung gegenüber der Landeskasse abgerechnet würden (BI. 106 Bd. 111d. A.).

Mit Beschluss vom 30.12.2013 hat das Amtsgericht Osnabrück die Entpflichtung von Rechtsanwalt A. und die Beiordnung von Rechtsanwalt B. als Pflichtverteidiger abgelehnt (Bl. 105 Bd. III d.A.). Zur Begründung ist ausgeführt worden, dass dem Wunsch auf Umbeiordnung in Ausnahmefällen auch ohne Vorliegen von Widerrufsgründen entsprochen werden könne, wenn der bisherige Pflichtverteidiger einverstanden sei und die Beiordnung des neuen- Verteidigers weder eine Verfahrensverzögerung noch Mehrkosten für die Staatskasse zur Folge habe. Unabhängig von der Frage, ob ein Gebührenverzicht möglich sei, würden vorliegend Mehrkosten entstehen, da keine kostenneutrale Umbeiordnung beantragt worden sei.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers, Rechtsanwalt B., vom 02.01.2014 — beim Amtsgericht eingegangen am 03.01.2014 — hat der Beschuldigte Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt, und es ist anwaltlich versichert worden, die von- Rechtsanwalt A geltend gemachten Gebühren nicht noch einmal in Ansatz zu bringen (BI. 123 Bd. III d. A.). Die Staatsanwaltschaft ist gehört worden und hat unter dem 09.01.2014 mitgeteilt, dass angesichts der Versicherung der Kostenneutralität der Umbeiordnung nicht mehr widersprochen werde (BI. 125 Bd. III d. A.).

Das Amtsgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 14.01.2013 nicht abgeholfen . und ergänzend ausgeführt, dass die Umbeiordnung zu Mehrkosten für die Staatskasse führen würde, weil jedenfalls die Grundgebühr gemäß Nr. 4100 RVG doppelt anfiele. Ein Verzicht könne nicht wirksam erklärt werden, denn es sei gemäß § 49 b Abs. 1 S. 1 BRAO unzulässig, geringere Gebühren zu fordern. § 49 b Abs. 1 S. 2 BRAO ermögliche nur im Einzelfall und unter besonderen Umständen, nach Erledigung des Auftrags Gebühren oder Auslagen zu ermäßigen oder zu erlassen. Aus § 49 b BRAO lasse sich nichts dafür herleiten, dass für die Forderung von Pflichtverteidigergebühren eine andere Regelung gelten solle. Auf das Einverständnis des Pflichtverteidigers mit seiner Entpflichtung komme es dabei nicht an. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Beschluss vorn 14,01.2014 verwiesen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Dem Beschuldigten ist vorliegend bei der Auswahl des Pflichtverteidigers nicht hinreichend rechtliches Gehör gewährt worden, so dass die Bestellung von Rechtsanwalt A. keinen Bestand hat und stattdessen Rechtsanwalt B. beigeordnet wird.

1. Nach der Reform des Untersuchungshaftrechts durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, das am 01.01.2010 in Kraft getreten ist, ist im Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO der Verteidiger unverzüglich nach Beginn der Vollstreckung der Untersuchungshaft zu bestellen. Dem hat das Amtsgericht Rechnung hier getragen, indem es im Rahmen der Vorführung vor den Haftrichter dem Beschuldigten eine Verteidigerliste 'vorgelegt und nach einer Namensnennung die Pflichtverteidigerbestellung unmittelbar nach der Anordnung der Untersuchungshaft vorgenommen hat. Danach ist die Bestellung gemäß § 143 StPO grundsätzlich ausschließlich dann zurückzunehmen, wenn demnächst ein anderer Verteidiger gewählt wird und dieser die Wahl annimmt.

2. Über den Wortlaut des § 143 StPO hinaus kann ein wichtiger Grund die Zurücknahme einer Beiordnung erzwingen. Ein solcher liegt unter anderem vor, wenn ein wesentlicher Verfahrensgrundsatz verletzt worden ist (vgl, KG Berlin, Beschluss vom 30.04.2012 — 4 Ws 40/12, 4 Ws 40/12 - 141 AR 224/12 —[...]). Diese Voraussetzungen liegen hier vor, denn das. Amtsgericht Osnabrück hat Rechtsanwalt A ohne ordnungsgemäße Anhörung des Beschuldigten zu dessen Verteidiger bestellt.

a) Zwar wird der zu bestellende Verteidiger von dem Vorsitzenden ausgewählt; dem Beschuldigten muss gemäß § 142 Abs. 1 Satz 1 StPO aber Gelegenheit gegeben werden, innerhalb einer von dem Vorsitzenden zu bestimmenden Frist einen Rechtsanwalt zu bezeichnen. Entgegen ihrem Wortlaut ("soll") begründet die Vorschrift eine Anhörungspflicht, von der nur in seltenen Ausnahmefällen abgewichen werden kann (vgl. KG Berlin a. a. O.). Dem Beschuldigten ist dabei eine angemessene Überlegungsfrist zur Stellungnahme und Auswahl eines Verteidigers zu gewähren.

Diese Anhörungspflicht besteht auch dann, wenn sich die Notwendigkeit der Verteidigung .aus § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ergibt und der Verteidiger in diesem Fall gemäß § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO "unverzüglich' nach Beginn der Vollstreckung zu bestellen ist. Dies ändert nichts daran, dass dem Beschuldigten zur Ausübung seines Anhörungs- und Mitbestimmungsrechts zunächst ausreichend Gelegenheit gegeben werden muss, einen Verteidiger zu bezeichnen. "Unverzüglich" bedeutet weder "gleichzeitig" noch "sofort", sondern — wie sonst im Rechtsverkehr üblich — "ohne schuldhaftes Zögern", d.h. dem Verfahren ist wegen der Freiheitsentziehung auch insoweit besonders beschleunigt Fortgang zu geben. Die Gewährung einer angemessenen Überlegungsfrist in den Fällen des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO gebietet schon die besondere Situation des — wie auch hier — oftmals überraschend und gerade eben in Untersuchungshaft genommenen Beschuldigten. Anderenfalls

- bestände die Gefahr, dass der Beschuldigte langfristig an einen Pflichtverteidiger gebunden bliebe, den er nicht gewählt hat oder an dessen Auswahl er sich infolge der Kürze der Zeit zwischen Verhaftung und Vorführung nicht hinreichend qualifiziert hat beteiligen können. Ein derartiges Ergebnis entspräche nicht dem Willen des Gesetzgebers, der die Rechtsstellung des Beschuldigten - insbesondere unter dem Gesichtspunkt seiner Verteidigung — durch die Schaffung des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO gerade stärken wollte (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 02.02.2011 2 Ws 50/11 —, [...]). Ein Vorenthalten jeglicher Möglichkeit, nach einer Überlegungsfrist von im Regelfall mindestens einigen Tagen Stellung .zu beziehen, hat der Gesetzgeber mit der Regelung des § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO ersichtlich nicht bezweckt, zumal er die Anhörung nach § 142 Abs. 1 Satz 1 StPO in Haftsachen nicht hat entfallen lassen.

b) Gegen dieses Auswahlrecht hat das Amtsgericht verstoßen.

Ausweislich der Niederschrift über die Verkündung des Haftbefehls vom 05.12.2013 hat das Amtsgericht den Beschuldigten lediglich darüber in Kenntnis gesetzt, dass ein Pflichtverteidiger unverzüglich zu bestellen sei. Der Beschuldigte selbst hat danach nicht ausdrücklich um die sofortige Bestellung eines Pflichtverteidigers ersucht. Eine Erläuterung seitens des Gerichts und die Eröffnung der Gelegenheit, innerhalb einer bestimmten Frist Stellung zu der Auswahlentscheidung zu nehmen, hat sich der Mitteilung nicht angeschlossen. Stattdessen ist eine Liste der Verteidiger zur Verfügung gestellt worden, aus der er sich der — am selben Morgen festgenommene, ortsfremde und sprachunkundige — Beschuldigte offenbar nach dem Zufallsprinzip den Namen eines Rechtsanwalts hat auswählen können, der im Termin auch nicht anwesend gewesen ist. Eine Chance, in Ruhe und unter Berücksichtigung der möglichen Tragweite seine Entscheidung zu überdenken, hat der Beschuldigte in dieser Situation nicht gehabt. Eine Verfahrenslage, in der eine sofortige Bestellung eines Pflichtverteidigers notwendig erschien, hat nicht vorgelegen. Eine nachträgliche Zustimmung des Beschuldigten zur Auswahl des Verteidigers etwa in der Form, dass er in der Folgezeit die Verteidigung durch diesen über einen wesentlichen Zeitraum widerspruchslos hingenommen hat, ist ebenfalls nicht gegeben, denn der Beschuldigte hat bereits zehn Tage nach der Pflichtverteidigerbestellung mitteilen lassen, dass er sich von Rechtsanwalt B. vertreten lassen will.

c) Ist die Bestellung des Verteidigers erfolgt, ohne dass dem Angeklagten ausreichend Gelegenheit - insbesondere unter Setzung einer angemessenen Frist - gegeben worden ist, einen Rechtsanwalt zu bezeichnen, so ergibt sich hieraus vor dem Hintergrund des Vorrangs der Vertrauensbeziehung, dass der Beschuldigte nicht an der Bestellung des -Pflichtverteidigers, der ihm gleichzeitig mit der Verkündung des Haftbefehls beigeordnet worden ist, festgehalten werden darf. Vielmehr ist die Bestellung aufzuheben und der nunmehr bezeichnete Rechtsanwalt beizuordnen auch wenn Anhaltspunkte für eine Störung - des Vertrauensverhältnisses zum früheren Verteidiger nicht bestehen (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 30.04.2012 - 4 Ws 40/12, 4 Ws 40/12 - 141 AR 224/12 [...]; OLG Dresden, Beschluss vom 04.04,2012 - 1 Ws 66/12 -, [...]; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16.03.2011 - 111-4 Ws 127/11; 4 Ws 127/11 [...]; OLG Koblenz, Beschluss vorn 02.02.2011 - 2 Ws 5.0/11 [...]; LG Krefeld, Beschluss vom 13.07.2010 - 21 Os 8 Js 353/10 - 190/10, 21 Os 190/10 -, [...]; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16.04.2010e- Ill-4 Ws 163/10, 4 Ws 163/10 -, [...], alle jeweils m. w. N.).

Anhaltspunkte, dass Rechtsanwalt B. den Beschuldigten nicht sachgerecht vertreten könnte, bestehen nicht. Der Kammer ist zwar aus eigener Anschauung bekannt, dass es im Falle einer Hauptverhandlung durch anderweitige Termine des vielbeschäftigten Verteidigers oftmals zu Überschneidungen kommt, sichere Hinweise auf eine bereits jetzt absehbare wesentliche Verfahrensverzögerung ergeben sich daraus jedoch nicht.

Die Beschwerde hat daher Erfolg.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.