Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 09.01.2002, Az.: 4 A 285/01
Abschiebung; Abschiebungsandrohung; Abschiebungshindernisse; Ausländerrecht; Ausreisepflicht; Diskriminierung; Jugoslawien; Roma; Serbien; Staat bezeichnen; vollziehbar
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 09.01.2002
- Aktenzeichen
- 4 A 285/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 42864
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 50 AuslG
Tatbestand:
Die Klägerin ist jugoslawische Staatsangehörige und gehört nach ihren Angaben zur Volksgruppe der Roma. Sie reiste im Januar 2000 in das Bundesgebiet ein und beantragte, ihr eine Duldung zu erteilen. Sie stamme aus Vrsac, Teilrepublik Serbien und sei wegen des Krieges geflohen. Der Beklagte setzte die Abschiebung der Klägerin aus und duldete ihren Aufenthalt, weil Abschiebungen in die Bundesrepublik Jugoslawien nicht durchgeführt werden konnten. Mit Bescheid vom 28. Februar 2000 drohte der Beklagte der Klägerin die Abschiebung in die Bundesrepublik Jugoslawien an. Hiergegen erhob die Klägerin am 28. März 2000 Widerspruch. Sie sei wegen ihrer Volkszugehörigkeit in Restjugoslawien besonders gefährdet. Roma seien in allen Lebensbereichen diskriminiert. Besonders gefährdet seien auch Rückkehrer, die sich - wie ihr Mann - der Rekrutierung entzogen hätten. In ihrem Fall lägen Duldungsgründe und Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 AuslG vor.
Mit Bescheid vom 14. Juni 2000, der der Klägerin am 17. Juni 2000 zugestellt wurde, wies die Bezirksregierung Lüneburg den Widerspruch der Klägerin zurück. Wegen der Begründung wird auf den Bescheid Bezug genommen.
Die Klägerin hat am 14. Juli 2000 Klage erhoben, zu deren Begründung sie im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen wiederholt.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 28. Februar 2000 und den Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Lüneburg vom 14. Juni 2000 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, sie weiterhin in der Bundesrepublik Deutschland zu dulden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die im Gerichtsverfahren gewechselten Schriftsätze und auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist bereits unzulässig, soweit sie auf die Verpflichtung des Beklagten gerichtet ist, die Klägerin weiterhin zu dulden. Insoweit fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, denn die Klägerin ist - wie der Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung bestätigt hat - nach wie vor im Besitz einer Duldung. Soweit in der Begründung des Bescheides des Beklagten vom 28. Februar 2000 ausgeführt wird, die Voraussetzungen für eine Duldung lägen nicht vor, ist der Bescheid allerdings missverständlich. Dies gilt insbesondere angesichts des Umstands, dass der Klägerin gleichzeitig eine Duldung wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der Abschiebung zuerkannt wurde. Nach dem eindeutigen Tenor des Bescheides ist aber davon auszugehen, dass insgesamt lediglich die Abschiebungsandrohung geregelt werden sollte. Dies gilt jedenfalls für die Fassung, die der Bescheid durch den Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Lüneburg erhalten hat. Die Ausführungen des Beklagten zu den Voraussetzungen für eine Duldung nach - unterstelltem - Wegfall der tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung nehmen deswegen am Regelungsgehalt der Bescheide nicht teil und belasten die Klägerin nicht.
Im Übrigen ist die Klage zulässig, aber unbegründet. Die Abschiebungsandrohung ist auf der Grundlage der §§ 49, 50 AuslG zu Recht erfolgt. Nach § 49 Abs. 1 AuslG ist ein ausreisepflichtiger Ausländer abzuschieben, wenn die Ausreisepflicht vollziehbar ist und wenn ihre freiwillige Erfüllung nach § 42 Abs. 3 und 4 nicht gesichert oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Überwachung der Ausreise erforderlich erscheint. Die Abschiebung soll nach § 50 AuslG angedroht werden.
Die Klägerin, die nicht die erforderlichen Aufenthaltsgenehmigung besitzt, ist nach § 42 Abs. 1 und 2 AuslG vollziehbar zur Ausreise verpflichtet. Die Abschiebungsandrohung ist auch nicht insoweit rechtswidrig, als sie eine Abschiebung in die Bundesrepublik Jugoslawien zulässt. Nach § 50 Abs. 3 Satz 1 AuslG steht das Vorliegen von Abschiebungshindernissen und Duldungsgründen nach den §§ 51 und 53 bis 55 AuslG dem Erlass der Androhung nicht entgegen. Soweit die Abschiebung der Klägerin - wie sie geltend macht - tatsächlich unmöglich ist, schließt dies den Erlass einer Abschiebungsandrohung deswegen nicht aus. Nach § 50 Abs. 3 Satz 2 AuslG ist allerdings in der Androhung der Staat zu bezeichnen, in den der Ausländer nach den §§ 51 und 53 Abs. 1 bis 4 AuslG nicht abgeschoben werden darf. Hieran gemessen kann nicht beanstandet werden, dass der Beklagte die Abschiebung der Klägerin in die Bundesrepublik Jugoslawien nicht ausgeschlossen hat. Abschiebungshindernisse im Sinne der genannten Bestimmungen sind nicht ersichtlich. §§ 51 und 53 Abs. 1 bis 4 AuslG setzen nämlich voraus, dass die in den Regelungen genannten Gefahren durch ein Handeln des Staates drohen. Dies ist hier nicht der Fall. Die Klägerin macht selbst nicht geltend, dass sie Misshandlungen von Seiten des jugoslawischen Staates befürchten muss sondern beruft sich auf die allgemeine Diskriminierung, unter der nach ihren Angaben die Angehörigen der Roma in der Bundesrepublik Jugoslawien zu leiden haben.
Die Vorschrift des § 50 Abs. 3 Satz 2 AuslG bezieht sich ausdrücklich nur auf Abschiebungshindernisse im Sinne der §§ 51 und 53 Abs. 1 bis 4 AuslG. Ob in ihrem Rahmen in ergänzender Auslegung auch Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu berücksichtigen sind, ist umstritten (dagegen Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Stand: März 2001, § 50 Rdnr. 14 e; GK-Ausländerrecht, Stand: April 2001, § 50 Rdnr. 22; dafür BVerwG, Urteil vom 19.11.1996 - BVerwG 1 C 6.95 -, NVwZ 1997, 685 = InfAuslR 1997, 193; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 12.2.1993 - 16 S 204/93 -, NVwZ-RR 1993, 443). Hier kann diese Frage jedoch unentschieden bleiben, weil im Falle der Klägerin weder zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Lüneburg noch gegenwärtig oder in absehbarer Zukunft Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vorlagen bzw. vorliegen.
Nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in die genannten Rechtsgüter zu werden, reicht dabei nicht aus, um eine Gefahr in diesem Sinne zu begründen. Vielmehr ist erforderlich, dass eine einzelfallbezogene, individuell bestimmte und erhebliche Gefährdungssituation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit besteht (BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324). Eine derartige, der Klägerin individuelle drohende Gefährdung ist hier nicht ersichtlich und wird von ihr auch nicht geltend gemacht. Sie beruft sich vielmehr darauf, dass sie wie die übrigen Angehörigen ihrer Volksgruppe in der Bundesrepublik Jugoslawien allgemein diskriminiert sei. Allgemeine Gefahren, von denen eine ganze Bevölkerungsgruppe oder die gesamte Bevölkerung betroffen sind, stellen grundsätzlich keine Abschiebungshindernisse im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG dar. Sie sind nach § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG allein von der obersten Landesbehörde im Rahmen ihrer Entscheidungsbefugnis nach § 54 AuslG zu berücksichtigen. Nur dann, wenn dem einzelnen Ausländer keine Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1, 2, 3, 4 und 6 Satz 1 AuslG zustehen, er aber gleichwohl ohne Verletzung höherrangigen Verfassungsrechts nicht abgeschoben werden darf, ist bei verfassungskonformer Auslegung und Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG im Einzelfall Schutz vor der Durchführung der Abschiebung nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu gewähren. Das ist der Fall, wenn die obersten Landesbehörden trotz einer extremen allgemeinen Gefahrenlage, die jeden einzelnen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde, von ihrer Ermessensermächtigung aus § 54 AuslG keinen Gebrauch gemacht haben, einen generellen Abschiebestopp zu verfügen. Soweit der Abschiebung nicht anderweitige Hindernisse wie z.B. ein ausländerrechtlicher Erlass entgegenstehen, die einen gleichwertigen Schutz bieten, gebieten es dann die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dem einzelnen Ausländer unabhängig von einer Ermessensentscheidung nach §§ 53 Abs. 6 Satz 2, 54 AuslG Abschiebungsschutz zu gewähren. In solchen Fällen ist § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG verfassungskonform einschränkend dahin auszulegen, dass derartige extreme Gefahren im Rahmen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu berücksichtigen sind (zum Vorst: BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324; Urteil vom 2.9.1997 - BVerwG 9 C 40.96 -, BVerwGE 105, 187, Urt. v. 12.7.2001 - 1 C 2.01 -). Hier bieten die dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel bereits keine Anhaltspunkte für die Annahme, für Angehörige der Roma bestehe in Restjugoslawien eine extreme Gefahr in dem Sinne, dass sie dort im Falle ihrer Rückkehr den Tod oder schwerste Verletzungen sicher befürchten müssten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.