Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 02.05.2023, Az.: 5 StS 2/22

Verteidigung; Pflichtverteidiger; Zweck; Beiordnung; funktionstüchtige Strafrechtspflege; Pflichtverstoß; Entpflichtung; Aufhebung einer Verteidigerbeiordnung bei grober Pflichtverletzung

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
02.05.2023
Aktenzeichen
5 StS 2/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 18795
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2023:0502.5STS2.22.00

Fundstellen

  • NJW 2023, 2658
  • NJW-Spezial 2023, 409
  • NStZ-RR 2023, 251-253
  • StraFo 2023, 319-323

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Beiordnung eines Verteidigers dient neben der Wahrung der Interessenn des Beschuldigten auch dem Zweck, im öffentlichen Interesse einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten.

  2. 2.

    Dieser Verfahrensablauf bestimmt sich nach Anklageerhebung nach Maßgabe der §§ 199 ff. StPO; der beigeordnete Verteidiger ist verpflichtet, sich zu allen wesentlichen, den Verfahrensablauf betreffenden Fragen gegenüber dem Gericht zu erklären.

  3. 3.

    Kommt der Verteidiger dieser Verpflichtung wiederholt und auch nach seiner Abmahnung nicht nach, stellt dies eine grobe Pflichtverletzung und zugleich einen "sonstigen Grund" i.S. des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO dar und rechtfertigt die Aufhebung seiner Beiordnung als Pflichtverteidiger.

In der Strafsache
gegen K. C. S.,
alias: "A. S."
alias: "A. S."
geboren am ...,
wohnhaft ...,
Verteidiger: Rechtsanwalt B. T., A.,
wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung u.a.
hier: Aufhebung der Beiordnung als Pflichtverteidiger
hat der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle durch den Richter am Oberlandesgericht Hillebrand als Vertreter des Vorsitzenden am 2. Mai 2023 beschlossen:

Tenor:

Die Beiordnung von Rechtsanwalt B. T., A., wird aufgehoben.

Gründe

I.

Rechtsanwalt T. war dem Angeklagten, gegen den zum damaligen ebenso wie zum jetzigen Zeitpunkt u.a. der Verdacht der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland gemäß 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 S. 1, 129b Abs. 1 S. 1 und 2 StGB bestand bzw. nach wie vor besteht, durch Beschluss des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts Celle vom 11. November 2020 als Pflichtverteidiger gemäß den §§ 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO; 141 Abs. 1 Satz 1, 142 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1, 162, 169 StPO beigeordnet worden. Mit dieser Entscheidung hat der Ermittlungsrichter einem Antrag von Rechtsanwalt T. in dessen Schreiben vom 27. Oktober 2020 entsprochen. In diesem Schreiben hatte Rechtsanwalt T. zugleich seine ordnungsgemäße Bevollmächtigung versichert und Akteneinsicht beantragt. Nachdem Rechtsanwalt T. Akteneinsicht gewährt worden war, hat die Generalstaatsanwaltschaft Celle die Ermittlungen weitergeführt und wiederholt - von Amts wegen - ergänzende Akteneinsicht gewährt. In einem Vermerk vom 15. Dezember 2021 hat die zuständige Dezernentin der Generalstaatsanwaltschaft vermerkt, sie habe in den vergangenen Wochen wiederholt vergeblich versucht, Rechtsanwalt T. bezüglich der Frage zu kontaktieren, ob sich "der Angeschuldigte" zur Sache einlassen werde. Sie habe in der Kanzlei ihre Bitte um Rückruf hinterlassen. Nachdem hierauf nicht reagiert worden sei, habe sie erneut um Rückruf von Rechtsanwalt T. gebeten, einen solchen indes nicht erhalten.

Mit Verfügung vom 25. März 2022 hat die zuständige Dezernentin der Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen abgeschlossen, die Anklage ist am 5. April 2023 erhoben worden. In dieser wird dem Angeklagten zur Last gelegt, zwischen Dezember 2015 und dem 25. Juli 2016 in Hildesheim durch dieselbe Handlung eine ausländische terroristische Vereinigung ("Islamischer Staat Irak und Großsyrien" [ISIG]) unterstützt zu haben und dem Bereitstellungsverbot der im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichten unmittelbar geltenden Verordnung der Europäischen Gemeinschaften Nr. 881/2002, die der Durchführung einer vom Rat der Europäischen Union im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschlossenen wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahme dient, zuwidergehandelt zu haben, indem er einer im Anhang dieser Verordnung aufgeführten Organisation Gelder zur Verfügung gestellt habe.

Im konkreten Anklagevorwurf führt die Anklageschrift hierzu weiter aus:

"Der Angeschuldigte, alias "A. S.", konvertierte im Jahr 2008 zum Islam. Er radikalisierte sich im Sinne der salafistischen Ideologie und befürwortete die Ziele und Taten des "Islamischen Staats". Er war Gründungsmitglied des inzwischen verbotenen Vereins "D. I. H. e.V." (DIK-Hildesheim), dem auch die gesondert Verfolgten Brüder R. und K. O. sowie A. S. lange Jahre in verschiedenen Funktionen angehörten. In dem Verein wurden spätestens seit Anfang 2015 v. a. durch den Prediger A. A. A. (alias "A. W.") zahlreiche Personen zielgerichtet radikalisiert und zur Ausreise in das Kriegsgebiet nach Syrien und in den Irak zum Anschluss an die terroristische Vereinigung "Islamischer Staat" ("IS") motiviert, darunter der beste Freund des Angeschuldigten und weiteres Gründungsmitglied des DIK-Hildesheim D. W., alias "M. d. D./A.". Dieser war Ende 2014/Anfang 2015 ausgereist und hatte sich dem "IS" angeschlossen, was der Angeschuldigte, dessen eigener Ausreiseversuch Ende 2015 scheiterte, wusste.

Auch A. S. reiste am 30. April 2015 aus Deutschland aus und gliederte sich in Syrien als Mitglied in den "IS" ein, wo er bis Anfang 2019 in führender Funktion an der Aufrechterhaltung und Förderung der militärischen Präsenz und Aktivität des "IS" in Syrien mitwirkte.

Seine in H. verbliebenen Brüder R. und K. O. standen dabei u. a. über Facebook in ständigem Kontakt mit ihm und leisteten ihm vor allem finanzielle, aber auch logistische und sonstige materielle Hilfe.

A. S., der in Syrien über erhebliche Bargeldmengen verfügte und zudem vom "IS" ein monatliches Gehalt bezog, war bereit und in der Lage, anderen sich im Gebiet des "IS" aufhältigen ehemaligen DIK- bzw. "IS"-Mitgliedern bei Bedarf Geld auszuzahlen. Hierfür hatte er gemeinsam mit seinem Bruder R., den er als seinen Vermögensverwalter eingesetzt hatte, ein am Hawala-Banking orientiertes Zahlungssystem etabliert. Voraussetzung für die Auszahlung des Geldes in Syrien war danach eine Ausgleichzahlung zu Gunsten des in Deutschland befindlichen Vermögens des A. S. an seinen Bruder R.

Die Dienste der Brüder O./S. nahm auch der Angeschuldigte in Anspruch, um seinem besten Freund D. W. einen Geldbetrag zukommen zu lassen. So ließ er A. über R. O. Anfang Dezember 2015 wissen, dass W. von A. S. 500,- oder 1.000,- Euro haben wollte.

Nach Klärung der genauen Modalitäten des Transfers übergab A. S. bis zum 23. Januar 2016 dem W. in Syrien 300,- Euro in Vorleistung der zu erwartenden Ausgleichzahlung des Angeschuldigten.

Dieser übergab wie vereinbart zur Beendigung des Hawala-Transfers spätestens bis zum 25. Juli 2016 einen Betrag von 400,- Euro an . O., was wiederum K. O. den gemeinsamen Bruder A. S. wissen ließ.

Das ihm in Syrien übergebene Geld verwendete D. W. für seinen Lebensunterhalt und damit auch für die Erhaltung seiner Kampfkraft zugunsten des "IS", was der Angeschuldigte von Anfang an wusste und mit seiner Zahlung bezweckte. Die von ihm geleistete Zahlung förderte dabei auch die innere Organisation des "IS", dessen Zusammenhalt und wirkte sich positiv auf die Aktionsmöglichkeiten und die Zwecksetzung aus, was der der "IS"-Ideologie anhängende Angeschuldigte zumindest für möglich hielt und auch billigend in Kauf nahm. Des Weiteren hielt es der Angeschuldigte für möglich und nahm billigend in Kauf, dass der Kapitalverkehr mit dem sogenannten "Islamischen Staat" strafbewehrten Sanktionen unterlag.

Die Anklageschrift ist dem Verteidiger aufgrund einer Verfügung des Vorsitzenden vom 6. April 2022 zugestellt worden, das entsprechende Empfangsbekenntnis ging beim Oberlandesgericht am 14. April 2022 ein. Nachdem die Anklageschrift durch den Senat zu Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet worden war, hat der Vorsitzende am 4. Januar 2023 mit der zur Terminabstimmung berechtigten Kanzleimitarbeiterin versucht, Termine zur Durchführung der Hauptverhandlung ab dem 12. April 2023 abzustimmen und dabei zahlreiche weitere Termine zwischen dem 24. April und dem 7. Juli 2023 angefragt. An all diesen Terminen war Rechtsanwalt T. nach Auskunft seiner Kanzleimitarbeiterin verhindert, freie Termine zur Durchführung der Hauptverhandlung und unter Einhaltung der Unterbrechungsfristen des § 229 Abs. 1 StPO wurden erst ab dem 9. Oktober 2023 angeboten und entsprechend abgestimmt. Termine zur (vorherigen) Durchführung eines Erörterungstermins konnte die Kanzleimitarbeiterin nicht zusagen.

Am 7. Januar 2023 hat Rechtsanwalt K. aus der Kanzlei "..." unter Bezugnahme auf die erfolgte Terminvereinbarung den Vorsitzenden angerufen und erklärt, es sei zwischen ihm, Rechtsanwalt T. und dem Angeklagten abgestimmt, dass er, Rechtsanwalt K., die Verteidigung übernehme; er stünde an sämtlichen der abgesprochenen Termine zur Verfügung. Zu der Frage, ob sich der Angeklagte zur Sache einlassen werde, werde er dies nächste Woche mit dem Angeklagten besprechen und sich sodann melden. Eine entsprechende Rückmeldung erfolgte nicht. Eine schriftliche Nachfrage des Vorsitzenden vom 19. Januar 2023, in welcher dieser auch den angekündigten Verteidigerwechsel thematisierte und die der Vorsitzende in Kopie auch Rechtsanwalt T. zur Kenntnisnahme übersandt hatte, hat Rechtsanwalt K. nicht beantwortet. Auch Rechtsanwalt T. hat sich hierzu nicht erklärt.

Am 7. Februar 2023 hat der Vorsitzende auf der Grundlage der zuvor abgestimmten Termine die Verfahrensbeteiligten zu Hauptverhandlung ab dem 9. Oktober 2023 geladen, dabei mehr als zehn weitere und abgesprochene Hautverhandlungstage festgesetzt und zugleich auch die Gerichtsbesetzung gemäß § 222a Abs. 1 S. 2 StPO gegen Empfangsbekenntnis mitgeteilt. Zusammen mit dieser Ladung hat der Vorsitzende Rechtsanwalt T. mitgeteilt, dass Rechtsanwalt K. ihn, den Vorsitzenden, am 6. Januar 2023 telefonisch darüber unterrichtet habe, es sei zwischen ihm, Rechtsanwalt K., sowie Rechtsanwalt T. abgesprochen, dass Rechtsanwalt K. die Verteidigung des Angeklagten übernehme, sich Rechtsanwalt K. anschließend jedoch entgegen seiner Zusage nicht mehr gemeldet und auch eine Nachfrage durch den Vorsitzenden vom 19. Januar 2023 unbeantwortet gelassen habe, weshalb der Vorsitzende davon ausgehe, dass Rechtsanwalt T. auf der Grundlage seiner erfolgten Beiordnung weiterhin als Verteidiger auftreten werde.

Das Empfangsbekenntnis betreffend die Besetzungsmitteilung hat Rechtsanwalt T. nicht zurückgesandt. Mit Schreiben vom 20. Februar 2023 hat der Vorsitzende insgesamt drei Termine für die Durchführung des Erörterungstermins gemäß § 213 Abs. 2 StPO angefragt. Rechtsanwalt T. ließ diese Anfrage unbeantwortet. Auch auf weitere Anfrage mit Schreiben vom 16. März 2023 unter Bezugnahme auf das Schreiben vom 20. Februar 2023 hat Rechtsanwalt T. nicht beantwortet.

Mit Schreiben vom 4. April 2023 hat der Vorsitzende gegen Empfangsbekenntnis Rechtsanwalt T. angeschrieben, auf die Nichtbeantwortung der vorstehend aufgeführten Schreiben bzw. auf die unterbliebene Rücksendung des Empfangsbekenntnisses hingewiesen, angemerkt, dass diese Verhaltensweise der gebotenen sachdienlichen Durchführung des Strafverfahrens entgegenstehe und um Darlegung gebeten, wie künftig die weitere sachdienliche Durchführung des Strafverfahrens sichergestellt werden könne. Zugleich hat er auf die Möglichkeit der Entpflichtung hingewiesen. Das Empfangsbekenntnis wurde zurückgesandt, eine Stellungnahme hat Rechtsanwalt T. bis zu der ihm gesetzten Frist, dem 18. Februar 2023, 12 Uhr, nicht abgegeben.

Dem Angeklagten hat der Vorsitzende dieses Mahnschreiben an Rechtsanwalt T. am 4. April 2023 zur Kenntnisnahme übersandt, er hat hierzu nicht Stellung genommen.

Sämtliche der vorgenannten Schreiben bzw. Beschlüsse sind Rechtsanwalt T. auf einem sicheren Übertragungsweg im Sinne der § 32a ff. StPO übermittelt worden. Adressiert wurden sie sämtlich an sein einziges, ihm gemäß §31a BRAO durch die Bundesrechtsanwaltskammer eingerichtetes elektronisches Anwaltspostfach. Dass die Schreiben über die Justizserver tatsächlich weitergeleitet worden waren, ergibt sich aus der Tatsache, dass bzgl. keines der Schreiben eine sogenannte Fehlermeldung durch das Datenübertragungsprogramm generiert wurde. Dass all diese Schreiben auch im elektronischen Anwaltspostfach eingegangen sind, ergibt sich aus der Tatsache, dass Rechtsanwalt T. auf einzelne Schreiben zumindest insoweit reagierte, als er in zwei Fällen das Empfangsbekenntnis, zuletzt das bzgl. des Mahnschreibens vom 4. April zurückgesandt und auch hierauf nicht reagiert hat. Auch geht der Senat davon aus, dass Rechtsanwalt T. es angezeigt hätte, wenn ihm einzelne der im Mahnschreiben aufgezählten Schreiben nicht zugegangen wären.

II.

1. Das Recht auf Verteidigung gehört zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Der Beschuldigte darf entsprechend der zur Interpretation der grundgesetzlichen Menschenwürdegarantie herangezogenen "Objektformel" des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 16. Juli 1969 - 1 BvL 19/63, NJW 1969, 1707 [BVerfG 16.07.1969 - 1 BvL 19/63]) nicht Objekt des Verfahrens sein. Ihm muss vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (vgl. KK- StPO/Fischer, 9. Aufl., Einleitung, Rn. 204). Seine einfachgesetzliche Ausprägung findet dieser Grundsatz u.a. in § 137 Abs. 1 S. 1 StPO, wonach sich der Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines Verteidigers bedienen. Art. 6 Abs. 3c EMRK sowie das Rechtsstaatsprinzip garantieren einem Beschuldigten auch, dass er sich durch einen Verteidiger seiner Wahl vertreten zu lassen und unentgeltlich den Beistand eines sogenannten Pflichtverteidigers erhalten kann. In Entsprechung dieser Grundsätze war Rechtsanwalt T. dem Angeklagten durch den Ermittlungsrichter gemäß § 140 Abs. 1 StPO beigeordnet worden.

Die Beiordnung eines Verteidigers dient nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Literatur neben den vorstehend umrissenen Interessen des Beschuldigten indes auch dem Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass der Beschuldigte in den in § 140 Abs. 1 Nr. 1 bis 11 aufgezählten bzw. in den von Abs. 2 erfassten Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet ist (vgl. u.a. KK- StPO/Fischer, 9. Aufl., § Rn. 211; BVerfG, Urteil vom 8. April 1975 - 2 BvR 207/75, NJW 1975, 1015, 1016 [BVerfG 08.04.1975 - 2 BvR 207/75]). Die Pflicht zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs gilt für auch für den Pflichtverteidiger. Auch diese ergibt sich unmittelbar aus der Verfassung selbst. Das in Art. 20 Abs. 3 GG normierte Rechtsstaatsprinzip gebietet die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege, ohne die Gerechtigkeit nicht verwirklicht werden kann. In diese Pflichtbindung sind auch Verteidiger einbezogen. Als mit eigenen Rechten und Pflichten versehenes selbstständiges Organ der Rechtspflege sind Strafverteidige nicht Gegner, sondern Teilhaber einer funktionsfähigen Strafrechtspflege (vgl. hierzu Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 64. Aufl., Vor § 137 Rn. 1ff.)

Als Teilhaber in diesem Sinne kommt einem Verteidiger nicht die Vertretung des Angeklagten, sondern dessen Beistand zu. Folglich liegt der Auftrag eines Verteidigers nicht ausschließlich im Interesse des Beschuldigten, sondern auch in der am Prinzip des Rechtsstaats ausgerichteten Strafrechtspflege (BGH, Urteil vom 7. Juli1991 - 4 StR 252/91, BGHSt NJW 1992, 1245). Für die hier maßgebliche Frage nach dem Verhalten eines Verteidigers im Strafverfahren ist aus alledem abzuleiten, dass auch er dafür Sorge zu tragen hat, dass das Verfahren sachdienlich und in prozessual geordneten Bahnen durchgeführt werden kann (BGH aaO).

2. Gemessen an diesen Maßstäben war die Beiordnung von Rechtsanwalt T. aufzuheben. Gemäß § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO ist die Bestellung des Pflichtverteidigers aufzuheben, wenn entweder das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört ist oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist. Eine angemessene Verteidigung eines Beschuldigten ist insbesondere dann nicht gewährleistet, wenn sich der Verteidiger grobe Pflichtverletzungen hat zuschulden kommen lässt. Für solch grobe Pflichtverletzungen reichen lediglich unzweckmäßige bzw. gar prozessordnungswidrige Verhaltensweisen nicht aus (vgl. BGH, Beschluss vom 9. August 1988 - 4 StR 222/88, NStZ 1988, 510 [BGH 21.04.1988 - III ZR 255/86]). Vielmehr müssen Umstände vorliegen, die "den Zweck der Pflichtverteidigung, dem Beschuldigten einen geeigneten Beistand zu sichern und den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernsthaft" gefährden (BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 1997 - 2 Bv Q 32/97, NStZ 1998, 46).

Als Ausprägung des verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips finden sich in den einfachgesetzlichen Regelungen nur ganz vereinzelt Vorschriften, die die Rechte (vergleiche etwa §§ 147, 163a Abs. 3, 239, 240 Abs. 2, 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO) noch weniger solche, die Pflichten eines Pflichtverteidigers (§ 14 BORA) normieren. Rechte wie Pflichten des Verteidigers ergeben sich darüber hinaus insbesondere aus seiner gesetzlichen Aufgabenstellung, mithin unter anderem der Gewährleistung eines "ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs".

Diese bestimmen sich nach Erhebung der öffentlichen Klage nach Maßgabe der §§ 199 ff StPO, wonach einem Angeklagten bzw. wie hier dem aufgrund seiner Beiordnung zustellungsbevollmächtigen Verteidiger u.a. die Anklageschrift zuzustellen und der Eröffnungsbeschluss zu übersenden ist. Dass sich Rechtsanwalt T. hierzu jeweils nicht geäußert hat, insbesondere nach Erhalt der Anklage keine Verteidigungsschrift abgegeben hat, ist ebenso wenig zu beanstanden wie seine offenkundig beharrliche und - bei isolierter Betrachtung - unter keinem rechtlich relevanten Gesichtspunkt zu beanstandende Weigerung, mit der Dezernentin der Generalstaatsanwaltschaft zur Klärung der Frage Kontakt aufzunehmen, ob sich der Angeklagte zur Sache einlassen werde oder nicht. Diese Verhaltensweisen sind nicht prozessordnungswidrig, selbst als unzweckmäßig können sie nicht bewertet werden. Insoweit obliegt es einzig dem Verteidiger unter Wahrung der Interessen und Prüfung der Wünsche seines Mandanten, ob es ihm zweckmäßig erscheint, sich im Ermittlungsverfahren auf entsprechende Anfragen bzw. im Zwischenverfahren zur Anklageschrift zu äußern.

a) Mit einem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf nicht vereinbar ist hingegen die Tatsache, dass Rechtsanwalt T. sich zu dem ihm mit Schreiben des Vorsitzenden vom 19. Januar 2023 mitgeteilten Sachverhalt, wonach Rechtsanwalt K. einen Verteidigerwechsel angezeigt hat, und anschließend auch auf die ihm mit der Ladungsverfügung vom 7. Februar 2023 übersandte Mitteilung des Vorsitzenden, wonach dieser davon ausgehe, dass er, Rechtsanwalt T., weiterhin die Verteidigung des Angeklagte wahrnehme, nicht erklärt hat.

Es bestehen nämlich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der durch Rechtsanwalt K. dem Vorsitzenden am 7. Januar 2023 erklärte Verteidigerwechsel - und der damit konkludent in Aussicht gestellte Antrag auf Umbeiordnung - unzutreffend war. Zumal es sich bei Rechtsanwalt K. um den Kanzleikollegen von Rechtsanwalt T. handelt und dieser jenen offenkundig über die abgesprochenen Sitzungstermine unterrichtet hat. Dadurch, dass sich Rechtsanwalt T. nicht zu der Frage des Verteidigerwechsels erklärt hat, entstand ungeachtet der sich aus der Bestellung von Rechtsanwalt T. als Pflichtverteidiger ergebenden und jedenfalls im Falle des § 145 Abs. 4 StPO auch "sanktionierbaren" Verpflichtung zur Teilnahme an der Hauptverhandlung Ungewissheit darüber, ob dieser weiterhin die Aufgaben des Verteidigers des Angeklagten ausübt. Aufgrund seiner Stellung als Pflichtverteidiger gemäß §§ 140 Abs. 1 StPO bestand für Rechtsanwalt T. die Pflicht, diese durch seine Mitwirkung entstandene Unklarheit durch Beantwortung der Anfrage des Vorsitzenden aufzuklären.

b) Noch schwerer wiegt, dass Rechtsanwalt T. das ihm mit Schreiben vom 7. Februar 2023 übersandte Empfangsbekenntnis bzgl. der Besetzungsmitteilung nicht zurückgesandt hat. Der Verteidiger hat dadurch gegen § 14 BORA verstoßen, wonach ein Rechtsanwalt ordnungsgemäße Zustellungen von Gerichten entgegenzunehmen und das Empfangsbekenntnis mit dem Datum versehen unverzüglich zu erteilen hat.

c) Auch die offenkundige Weigerung, auf die wiederholten Anfragen des Vorsitzenden mit diesem einen Erörterungstermin gemäß § 213 Abs. 2 StPO abzustimmen, ist mit der Pflicht des Verteidigers, einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, nicht zu vereinbaren.

Zwar kann weder der Norm des § 213 Abs. 2 StPO selbst noch sonstigen Regelungen oder gar übergeordneten Verfahrensgrundsätzen eine Verpflichtung des Verteidigers entnommen werden, tatsächlich mit dem Vorsitzenden den "äußeren Ablauf der Hauptverhandlung" zu erörtern. Nach § 213 Abs. 2 StPO ist der Vorsitzende gehalten ("soll"), in besonders umfangreichen erstinstanzlichen Verfahren vor dem Land- oder Oberlandesgericht, in denen die Hauptverhandlung voraussichtlich länger als zehn Tage dauern wird - mithin auch im hiesigen Verfahren, den äußeren Ablauf der Hauptverhandlung mit dem Verteidiger abzustimmen. Mithin gehört zumindest die Offerte des Vorsitzenden an die Verfahrensbeteiligten, einen solchen Termin mit ihnen durchführen, zum ordnungsgemäßen Verfahrensablauf. Aus diesem Umstand und der Stellung von Rechtsanwalt T. als Pflichtverteidiger resultiert auch hier wiederum dessen Pflicht, sich zumindest dahingehend zu erklären, ob ein solcher Termin durchgeführt werden soll und ggf. wann.

d) Mit einem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf ebenfalls unvereinbar ist das Schweigen von Rechtsanwalt T. auf das Mahnschreiben des Vorsitzenden vom 4. April 2023. Aufgrund seiner Stellung als Pflichtverteidiger und seiner vorstehend aufgezeigten - auch groben - Pflichtverletzungen war Rechtsanwalt T. verpflichtet, sich u.a. dazu zu erklären, wie jedenfalls künftig die ordnungsgemäße Durchführung des Strafverfahrens sichergestellt werden könne. Dass Rechtsanwalt T. in diesem Fall das Empfangsbekenntnis mit dem Datum versehen und zurückgesandt hat, liegt zur sicheren Überzeugung des Senats einzig in der Tatsache begründet, dass er in dem Mahnschreiben des Vorsitzenden ausdrücklich auf seinen vorangegangenen Verstoß gegen § 14 BORA hingewiesen worden war und einem möglichen Schuldspruch durch das Anwaltsgericht vermeiden wollte, die ihm obliegende Pflicht, seinen Beruf gewissenhaft auszuüben, verletzt zu haben.

e) Bei Betrachtung des bisherigen Verfahrensverlaufs und der gebotenen gesamtwürdigenden Bewertung des Verhaltens von Rechtsanwalt T. ist Folgendes festzustellen.

aa) Rechtswalt T. hat in diesem Verfahren, in dem schwerwiegende Vorwürfe gegen seinen Mandanten erhoben werden und die Hauptverhandlung ansteht, wiederholt die Mitwirkung an der Durchführung einzelner, zum ordnungsgemäßen Verfahrensablauf gehörender Handlungen verweigert.

bb) Auf ein anschließendes Mahnschreiben hat er eine Stellungnahme verweigert.

cc) Aufgrund der Tatsache, dass sich Rechtsanwalt T. zu den ihm aufgezeigten - auch groben - Pflichtverletzungen nicht erklärt hat, bleibt dem Senat einzig die Möglichkeit, das Verhalten von Rechtsanwalt T. auf der Grundlage des Verfahrensverlaufs zu bewerten. Danach geht der Senat davon aus, dass Rechtsanwalt T. nach Erhebung der öffentlichen Klage seiner Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen hat, dass das Verfahren sachdienlich und in prozessual geordneten Bahnen durchgeführt werden kann, bewusst nicht nachgekommen ist.

dd) Inwieweit Rechtsanwalt T. hierdurch zugleich in schwerwiegender Weise auch gegen die Interessen des Angeklagten verstoßen haben könnte, diesem eine effektive und an dessen Interessen ausgerichtete Verteidigung zu gewährleisten, kann der Senat offenlassen.