Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 08.07.1999, Az.: 1 K 2869/97
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 08.07.1999
- Aktenzeichen
- 1 K 2869/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1999, 34707
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:1999:0708.1K2869.97.0A
Fundstellen
- BauR 2000, 71-72 (Volltext mit amtl. LS)
- FStBW 2000, 791-792
- FStHe 2001, 86-88
- FStNds 2000, 498-499
- NVwZ-RR 2000, 271 (Volltext mit amtl. LS)
- UPR 2000, 157
Tenor:
Auf den Antrag der Antragstellerin wird der am 9. Juni 1995 als Satzung beschlossene Bebauungsplan Nr. 150 "Bühlstraße" hinsichtlich der "vertikalen Gliederung" der WR-Gebiete (Textliche Festsetzungen Nr. 2, 3, 4, 7 Satz 2) für nichtig erklärt. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
Die Kosten tragen die Antragstellerin zu 1/3, die Antragsgegnerin zu 2/3; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar; Die Beteiligten dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der Kostenforderung abwenden, wenn nicht der Gegner vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen den Bebauungsplan Nr. 150 "B. straße" in .. Sie ist Eigentümerin eines im Jahre 1914 errichteten Mehrfamilienhauses, . -straße Nr. ., das im Geltungsbereich des Bebauungsplanes liegt. Kellergeschoß und Erdgeschoß des Gebäudes werden zu Bürozwecken genutzt, der übrige Teil zu Wohnzwecken.
Am 22. Februar 1994 beschloß der Rat der Stadt Göttingen die Aufstellung des Bebauungsplans. Nach Auslegung vom 13. Februar 1995 bis 16. März 1995 wurde der Bebauungsplan am 2. Juni 1995 als Satzung beschlossen und am 1.12.1995 im Amtsblatt der Stadt . bekanntgemacht. Zur Beschleunigung des Verfahrens wurde das BauGB-MaßnahmenG angewandt zur Deckung eines dringenden Wohnbedarfs der Bevölkerung.
Mit Schreiben vom 4. Juni 1996 - eingegangen bei der Antragsgegnerin am 19. Juni 1996 - rügte die Antragstellerin gegenüber der Antragsgegnerin, dass die Vorschriften des BauGB-MaßnahmenG willkürlich angewandt worden seien und es deshalb zu einer Verletzung von Verfahrensvorschriften der in § 214 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BauGB bezeichneten Art gekommen sei. Zweck des Bebauungsplanes sei nämlich gerade nicht die Bereitstellung von neuem Wohnbauland, sondern ausschließlich die Gegensteuerung gegen Verluste von Wohnraum durch Ausbreitung von freiberuflicher und gewerblicher Nutzung. Damit seien aber die Voraussetzungen des BauGB-MaßnahmenG nicht erfüllt. Darüber hinaus bestehe für die Stadt . auch kein dringender Wohnbedarf. Die verwendeten Erhebungen zum Wohnungsbedarf seien überholt und deshalb nicht anwendbar gewesen.
Der Bebauungsplan erfaßt ein Teilgebiet des sogenannten "Ostviertels" in .. Bei diesem handelt es sich um ein Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenes Wohngebiet unmittelbar angrenzend an die Altstadt. Ziel des Bebauungsplanes ist die Erhaltung des stadtnahen Wohngebiets unter Vermeidung weiterer Unterwanderung durch gewerbliche und freiberufliche Nutzung und der damit verbundenen Verdrängung von Bewohnern sowie die Erhaltung der städtebaulichen Gestalt der Grünflächen und der Vermeidung von zusätzlichem Autoverkehr. Entsprechend der gewachsenen historischen Struktur des Gebietes setzt der Bebauungsplan reine und allgemeine Wohngebiete fest. Um die bereits eingeleitete Umwandlung dieses Wohngebiets zur Nutzung für gewerbliche und freiberufliche Zwecke zu begrenzen, setzt der Bebauungsplan eine geschossweise Gliederung der Nutzung gemäß § 1 Abs. 7 BauNVO fest. Daneben wird im wesentlichen der vorhandene Bestand festgeschrieben und gegen Veränderungen geschützt. Zur Begründung der Anwendung des BauGB-MaßnahmenG wird auf eine Studie zur Entwicklung der Einwohnerzahlen in der Stadt . aus dem Jahr 1990/1991 verwiesen, die zu einem akuten Fehlbedarf von 6.000 Wohnungseinheiten im Stadtgebiet kommt und langfristig bis zum Jahr 2005 einen Fehlbedarf von insgesamt 15.000 Wohnungen erwartet. Dieses Gutachten, das 1993/94in seinen Aussagen aktualisiert worden sei, habe ergeben, dass zur Deckung des dringenden Wohnbedarfs der Bevölkerung Maßnahmen zu ergreifen seien, dem diene auch der vorliegende Bebauungsplan der zwar nicht die Bereitstellung neuen Wohnbaulands aber durch, die Gegensteuerung gegen weitere Verluste von Wohnraum wenigstens die Erhaltung von Wohnungen sichern könne.
Am 13. Juni 1997 stellte die Antragstellerin einen Normenkontrollantrag zu dessen Begründung sie ausführte: Die Feststellung der Nichtigkeit des Bebauungsplanes werde ihre Rechtsposition insoweit verbessern, als die durch den Bebauungsplan gegebenen Nutzungsbeschränkungen ihres Grundstücks wegfallen würden. Ein Rechtsschutzinteresse sei deshalb gegeben. Der Antrag sei auch begründet, weil ein Verfahrensfehler vorliege, der nicht nach § 9 Abs. 1 BauGB-MaßnahmenG unbeachtlich sei, denn ein dringender Wohnbedarf sei für die Stadt . nicht erkennbar. Zudem sei der Plan auch deshalb fehlerhaft, weil für ein reines Wohngebiet i.S. des § 3 BauNVO keine Festsetzung gem. § 1 Abs. 7 Nr. 2 BauNVO getroffen werden dürfe.
Die Antragstellerin beantragt,
den am 9. November 1995 beschlossenen Bebauungsplan Nr. 150 "B. straße" für nichtig zu erklären.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Normenkontrollantrag zurückzuweisen,
Zur Begründung trägt sie vor: Es bestünden Zweifel an der Zulässigkeit des Normenkontrollantrags; denn die Antragstellerin könne mit der Normenkontrolle die bauplanungsrechtliche Situation ihres Grundstücks nicht verbessern. Davon abgesehen seien die Voraussetzungen für die Anwendung von § 2 BauGB-MaßnahmenG weder verkannt worden noch nicht gegeben gewesen. Auch der Schutz vor Verlust bestehenden Wohnraums könne darunter fallen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze und den Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin Bezug genommen.
Gründe
II.
Der Antrag der Antragstellerin ist zulässig. Das Grundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplanes. Die Nutzungsmöglichkeiten des Grundstücks sind betroffen, weil nach dem Bebauungsplan die Nutzung für freie Berufe nur noch im Kellergeschoß des Gebäudes möglich und eine weitere Ausdehnung im Gebäude selbst damit unterbunden ist. Ohne den Bebauungsplan wäre - bei einer Einstufung als reines Wohngebiet - im Hinblick auf § 13 BauNVO die Nutzung von "einzelnen Räumen" auch in den Obergeschossen möglich.
Die von der Antragstellerin gerügten formellen Mängel des Plans führen nicht zu dessen Nichtigkeit. Entgegen der Ansicht der Antragstellerin, war die Voraussetzung für die Anwendung des BauGB-MaßnahmenG "dringender Wohnbedarf" hier von der Antragsgegnerin nicht zu Unrecht unterstellt worden; Der dringende Wohnbedarf ist von der Gemeinde festzustellen. Die von der Antragsgegnerin zugrunde gelegten Zahlen, die einen dringenden Wohnbedarf indizieren, stammen aus einer im Jahre 1993/94 aktualisierten Studie und können deshalb nicht als veraltet bezeichnet werden mit der Folge, dass sie bereits deshalb zu einer Fehleinschätzung führen müßten. Darüber hinaus ist eine Fehleinschätzung des dringenden Wohnbedarfs durch die Antragsgegnerin nach § 9 Abs. 1 BauGB-MaßnahmenG unbeachtlich (vgl. dazu Lemmel in Berliner Kommentar, BauGB, 2. Aufl. 1995, § 9 BauGB-MaßnG Rdn. 2; Schmaltz in Schrödter, BauGB, 5. Aufl. 1992, § 9 BauGB-MaßnG Rdn. 2), denn von einem bewußten Verstoß gegen § 1 Abs. 2 BauGB-MaßnG kann nicht die Rede sein.
Der Bebauungsplan ist aber fehlerhaft soweit er Festsetzungen gemäß § 1 Abs. 7 BauNVO für reine Wohngebiete gemäß § 3 BauNVO trifft. Für das Grundstück der Antragstellerin wie für den überwiegenden Teil des Gebiets ist ein "reines Wohngebiet" gemäß § 3 BauNVO ausgewiesen. Gleichzeitig ist für dieses Gebiet, wie für die übrigen als allgemeine Wohngebiete ausgewiesenen Teile, eine vertikale Gliederung gemäß § 1 Abs. 7 BauNVO vorgenommen worden. § 1 Abs. 7 BauNVO nennt jedoch ausdrücklich bei der Aufzählung der Baugebiete für die Abs. 7 Anwendung finden kann, § 3 BauNVO nicht, so dass nach dem Wortlaut für das "reine Wohngebiet" eine Gliederung nach § 1 Abs. 7 BauNVO ausgeschlossen ist. Dabei handelt es sich auch nicht um einen redaktionellen Fehler, der im Wege der Auslegung zu bereinigen wäre, indem auch für reine Wohngebiete eine Anwendung des Abs. 7 für möglich und zulässig gehalten wird. In Übereinstimmung mit den Kommentierungen zu § 1 BauNVO ist davon auszugehen, dass der Verordnungsgeber § 3 bewusst von der Aufzählung der Gebiete in § 1 Abs. 7 ausgenommen hat. So heißt es fast wörtlich übereinstimmend in den Kommentierungen, dass die "vertikale Gliederung" für die als WR-Gebiet festgesetzten Gebiete nicht in Betracht komme, "weil dafür kein Bedürfnis besteht" (Fickert/Fieseler, Komm., BauNVO 9. Aufl., § 1 Rdn. 111.1; Knaup/Stange, BauNVO, Komm., 8. Aufl., § 1 Rdn. 89; Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauNVO, Stand: November 1978, § 1 Rdn. 2 e; König/Roeser/Stock, BauNVO § 1 Rdn. 80; Stüer, Handbuch des Bau- und Fachplanungsrechts, 2. Aufl. 1998 Rdn. B 169 und A 407).
In reinen Wohngebieten sind gemäß § 3 Abs. 2 BauNVO nur Wohngebäude zulässig. Außer "Wohnen" ist keine weitere Nutzung allgemein zulässig, so dass auch keine Möglichkeit und kein Bedarf für eine "Gliederung" gemäß § 1 Abs. 7 Nr. 1 und 2 BauNVO der "allgemein zulässigen Nutzungen" gegeben ist. § 1 Abs. 7 Nr. 3 BauNVO sieht zwar eine Gliederung auch der ausnahmsweise zulässigen Nutzungen vor, die in § 3 Abs. 3 BauNVO auch für reine Wohngebiete möglich sind. In Abs. 7 Nr. 3 wird aber ausdrücklich die Einschränkung auf die Baugebiete nach §§ 4 bis 9 BauNVO wiederholt. Damit wird noch einmal der Ausschluss der reinen Wohngebiete aus der Anwendung des Absatzes 7 betont. Außer in Absatz 7 sind auch in den Absätzen 4. und 5 die Baugebiete nach §§ 2 bis, 9 BauNVO nicht ausnahmslos genannt, sondern auch hier jeweils einzelne Gebiete ausgenommen. Auch das spricht dafür, dass der Verordnungsgeber bewusst differenziert hat und einzelne Gebiete jeweils von der Anwendbarkeit bestimmter Vorschriften ausgenommen hat.
Für die in dem Bebauungsplan der Antragsgegnerin getroffene Festsetzung der vertikalen Gliederung gemäß § 1 Abs. 7 BauNVO für reine Wohngebiete fehlt es damit an einer Rechtsgrundlage.
Darüber hinaus verwenden die die vertikale Gliederung betreffenden textlichen Festsetzungen Nr. 2, 3, 4 und 7 Satz 2 des Bebauungsplans einen Begriff des Vollgeschosses, der ebenfalls keine Rechtsgrundlage in der BauNVO findet. § 20 BauNVO verweist zur Definition des Vollgeschossbegriffs auf die Bauordnungen der Länder. § 2 Abs. 4 NBauO definiert den Begriff des Vollgeschosses. Soweit der Bebauungsplan von diesem Begriff abweichend einen "eigenen" Vollgeschossbegriff hinsichtlich der Nutzung in den "Kellergeschossen" verwendet, fehlt es deshalb ebenfalls an einer Rechtsgrundlage.
Die Nichtigkeit einzelner Festsetzungen eines Bebauungsplans führt dann nicht zur Gesamtnichtigkeit, wenn die übrigen Festsetzungen auch ohne den nichtigen Teil sinnvoll bleiben (Grundsatz der Teilbarkeit), und mit Sicherheit anzunehmen ist, dass sie auch ohne diesen erlassen worden wären (Grundsatz des mutmaßlichen Willens des Normgebers; vgl. BVerwG, Beschl. v. 8.8.1989 - 4 NB 2.89 - DVBl. 89, 1103). Es ist ein Hauptanliegen der Antragsgegnerin, durch die Festschreibung der Gebietsart - hier reines Wohngebiet -, eine Veränderung des historisch gewachsenen Gebietes zu verhindern. Diesem Anliegen dient, wenn der Plan nur hinsichtlich der Festsetzung nach § 1 Abs. 7 BauNVO nichtig ist, auch bereits die Festsetzung der Gebietsart. Die Abwehr von gebietsfremden Nutzungen bzw. die Rückführung bereits veränderter Teile zu der gewünschten reinen Wohnnutzung, ist damit weiterhin. - wenn auch in geringerem Umfang - möglich. Aus der Begründung des Bebauungsplans ergibt sich, dass der Erhalt der historischen Struktur des Gebietes ein Grundanliegen des Planes war. So ist gerade unter den dort genannten städtebaulichen Zielen aufgeführt, die "Erhaltung" des innenstadtnahen Wohngebiets, der städtebaulichen Gestalt des unteren Ostviertels, der Grünflächen wie inneren Grünräume, Vorgärten und Straßenbäume (Begründung Ziff. 1). Diese Ziele werden durch die ausgesprochene Teilnichtigkeit nicht in Frage gestellt.
Bei der nach § 155 Abs. 1 VwGO zu treffenden Kostenentscheidung ist zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin sich mit ihrem Antrag nicht voll durchsetzen konnte.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor ( § 132 Abs. 2 VwGO ).