Oberlandesgericht Braunschweig
Urt. v. 10.02.1994, Az.: 1 U 31/93

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
10.02.1994
Aktenzeichen
1 U 31/93
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1994, 25338
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:1994:0210.1U31.93.0A

Verfahrensgang

vorgehend

Tenor:

  1. Die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des Landgerichts ... vom 25. März 1993 wird zurückgewiesen.

    Die Klägerinnen tragen die Kosten des Berufungsverfahrens als Gesamtschuldnerinnen.

    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerinnen dürfen die Vollstreckung wegen der Kosten durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung von 20.000,00 DM abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit leistet.

    Die Beschwer der Klägerinnen sowie der Berufungsstreitwert betragen 307.665,97 DM.

Tatbestand:

1

Die Klägerinnen nehmen die Beklagte aus übergeleitetem Recht wegen folgenden Vorfalls in Anspruch: Die bei ihnen versicherte Frau ... (geb. am 15.08.1950) stieg am Morgen des 25.01.1989 unbemerkt als Patientin der sog. Tag- und Nacht-Klinik in ... deren Trägerin die Beklagte ist, aus ihrem ebenerdig gelegenen Schlafzimmer aus, verließ das Klinikgelände über einen zum Teil heruntergetretenen Zaun und legte sich in Selbstmordabsicht auf ein in der Nähe befindliches Bahngleis. Dort wurde sie von einer Lokomotive überrollt, wobei ihr beide Unterschenkel abgetrennt wurden. Später mußte das linke Bein am Oberschenkel amputiert werden.

2

Frau Koennecke war aufgrund einer Verordnung der Nervenärztin ... mit der Diagnose "endogene Depression" und den Bemerkungen: "z.Zt. gehemmt, hilflos, Suizidgedanken" am 29.12.1988 in das eingewiesen worden. Seit 1975 waren bei ihr insgesamt viermal langgezogene depressive Verstimmungszustände mit stationären Aufenthalten, einmal in und dreimal in der Privat ... aufgetreten, zuletzt 1986. Selbstmordversuche hatte die Patientin bislang nicht unternommen. Frau ... wurde zunächst in der geschlossenen Station Psychiatrie I aufgenommen, da in der offenen Abteilung Psychiatrie II kein Bett frei war. In der Psych. I wurde sie bis zum 03.01.1989 mit dem Antidepressivum "Ludiomil" behandelt, und zwar durch Infusionen. Beginnend am 04.01.1989 erhielt sie das Mittel in Tablettenform, außerdem das Medikament "Truxal". Am 02.01.1989 wurde sie mit ihrer Einwilligung in die offene Abteilung Psych. III verlegt. Am 17.01.1989 kam sie in die ebenfalls offene Tag- und Nacht-Klinik der Beklagten. Der Schwerpunkt dieser Klinik liegt in sozialtherapeutischen Maßnahmen und Beschäftigungstherapien, die dort den Patienten angeboten werden und an denen auch Frau ... teilnahm. In der Klinik sind neben dem eigentlichen Pflegepersonal Beschäftigungstherapeuten, Sozialarbeiter und ein Psychologe tätig. Die einzige dort eingesetzte Ärztin, die Zeugin ... ist halbtags beschäftigt. Ab dem 17.01.1989 erhielt die Patientin die Medikamente "Ludiomil" und "Fevarin".

3

Während der gesamten Klinikaufenthalte äußerte Frau ... immer wieder Suizidgedanken. Über ihr Befinden wurden in den drei Kliniken seitens der Ärzte und des Personals täglich handschriftliche Vermerke gefertigt. Die Ärzte führten außerdem ständig ausführliche Gespräche mit Frau ...

4

Die Klägerinnen meinen, die Beklagte hafte für die Unfallfolgen aufgrund der Verletzung ihrer durch die Aufnahme der Patientin in ihre Klinik übernommenen Pflichten.

5

Sie haben insbesondere behauptet, wegen des schlechten Zustandes von Frau ... vor allem wegen der bestehenden Suizidgefahr, sei ihre Verlegung in die Tag- und Nachtklinik nicht zu vertreten gewesen. Vielmehr wäre eine weitere Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung bis zur langfristigen seelischen Stabilisierung der Patienten erforderlich gewesen. Frau ... habe in der Tag- und Nachtklinik nicht ausreichend ärztlich versorgt werden können. Am Nachmittag des 24.01.1989 sei Frau ... für Frau ... nicht erreichbar gewesen, so daß diese ihre Verzweiflung und ihre Selbstmordgedanken nicht mehr habe loswerden können. Aufgrund ihres Zustandes hätte Frau, ... ständig ärztlich betreut werden müssen. Die Räumlichkeiten der Tag- und Nachtklinik seien unübersichtlich und nicht geeignet, die Patientin ausreichend zu beaufsichtigen; es sei auch nicht hinreichend Personal vorhanden. Die Beklagte habe weder für eine intakte Umzäunung des Klinikgeländes gesorgt noch die ebenerdig gelegenen Fenster gegen einen Ausstieg von Patienten gesichert. In den Kliniken der Beklagten sei eine sorgfältige Diagnostik der Patientin nicht durchgeführt worden. Insbesondere sei nicht geklärt worden, ob eine endogene oder eine neurotische Depression vorgelegen habe. Auch sei der Abbruch der Infusionsbehandlung mit dem Mittel "Ludiomil" angesichts des schweren Krankheitsbildes zu früh erfolgt. Bei der Behandlung mit "Fevarin" sei versäumt worden, die Patientin bis zum Einsetzen der antidepressiven Wirkung nach etwa ein bis zwei Wochen ausreichend zu beobachten.

6

Die Klägerinnen haben behauptet, ohne die vorgenannte Versäumnisse wäre es zu dem Suizidversuch von Frau ... nicht gekommen. Aus diesem Grund halten sie die Beklagte zur Erstattung der der Höhe nach unstreitigen bisherigen Aufwendungen für verpflichtet und

7

haben beantragt,

  1. 1.a.

    die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin zu 1. 134.770,78 DM nebst 4 % Zinsen auf 23.994,75 DM seit dem 02.06.1989, auf 26.325,65 DM seit dem 15.06.1989, auf 62.008,42 DM ab Zustellung der Klageerweiterung vom 15.01.1992 und auf 22.441,96 DM ab Zustellung der Klageerweiterung vom 10.02.1993 zu zahlen;

  2. 1.b.

    festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin zu 1. alle zukünftig aufgrund des Schadensereignisses der Frau ... vom 25.01.1989 entstehenden Schadensersatzforderungen gemäß § 116 SGB X zu ersetzen;

  3. 2.a.

    die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin zu 2. 142.895,19 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 19.12.1989 auf 22.955,93 DM, auf 72.410,00 DM seit Zustellung der Klagerweiterung vom 09.01.1992 und auf 47.529,26 DM ab Zustellung des Klageerweiterungsschriftsatzes vom 09.02.1993 zu zahlen;

  4. 2.b.

    festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin zu 2. alle zukünftig aufgrund des Schadensereignisses der Frau ... vom 25.01.1989 entstehenden Schadensersatzforderungen gemäß § 116 SGB X sowie die über den 31.12.1989 hinausgehenden Beitragsforderungen gemäß § 119 SGB X zu erstatten.

8

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Sie hat behauptet, trotz der zeitweilig geäußerten Suizidgedanken habe Frau ... entsprechende Planungen nicht gehabt. Vielmehr habe sie gegenüber der behandelnden Ärztin in mehreren Gesprächen erklärt, diese Gedanken nicht in die Tat umsetzen zu wollen. Die Stationsärztin sei bei Bedarf auch außerhalb der Dienstzeit zuhause erreichbar, auch ein anderer Arzt aus den anderen Kliniken wäre auf Wunsch der Patientin zu erreichen gewesen. Frau habe einen entsprechenden Wunsch am 24.01.1989 aber nicht geäußert. Die Beklagte hat sodann darauf hingewiesen, daß die personelle Situation in der Tag- und Nacht-Klinik besser gewesen sei als in den psychiatrischen Stationen I und III.

10

Sodann hat die Beklagte geltend gemacht, die behandelnden Ärzte hätten nach Ausschöpfen der Diagnosemöglichkeiten das depressive Syndrom der Patientin als überwiegend neurotisch-depressive Entwicklung eingeordnet, wobei besonders Partnerschaftskonflikte für die aktuelle Lage von Bedeutung gewesen seien. Es sei aber auch die Möglichkeit einer "endogenen Komponente" diskutiert worden. Nach der Einschätzung der Ärzte habe daher eine Besserung nicht bei geschlossener Unterbringung und alleiniger Medikamentengabe erfolgen können. Die Verlegung in die Tag- und Nacht-Klinik sei auch bei Annahme eines endogenen Anteils der Erkrankung indiziert gewesen, um die weitere Regression der Patientin zu verhindern. Eine Rückverlegung in die geschlossene Abteilung sei nicht notwendig erschienen und wäre auch ungünstig gewesen, weil sie die Versagensgedanken von Frau ... verstärkt hätte. Frau ... selbst habe auch nicht geschlossen untergebracht werden wollen, was sich aus ihrem Abschiedsbrief ergebe.

11

Aus der Sicht der behandelnden Ärzte habe es keinen vernünftigen Grund gegeben, die Infusionstherapie mit "Ludiomil" länger als unbedingt erforderlich durchzuführen, da bereits zum Zeitpunkt des Absetzens eine deutliche Besserung eingetreten sei und diese unter der oralen Medikation weiter angehalten habe. Das Medikament "Fevarin" sei in niedriger Dosierung gezielt eingesetzt worden, um durch Aktivierung die ängstlichen Versagenszustände der Patientin rascher abbauen zu können.

12

Wegen des weiteren erstinstanzlichen Parteivorbringens wird Bezug genommen auf den Inhalt der Schriftsätze der Parteien und deren Anlagen einschließlich der bei den Akten befindlichen Krankenunterlägen.

13

Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Einholung von medizinischen Gutachten und durch Vernehmung der behandelnden Ärztin ... als Zeugin. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die schriftlichen Gutachten der Sachverständigen Frau vom 13.12.1992 und des Herrn ... vom 23.06.1992 sowie auf die mündlichen Erläuterungen des Gutachters ... und die Aussage der Zeugin ... in der Sitzung vom 04.03.1993 Bezug genommen.

14

Das Landgericht ... hat die Klage durch Urteil vom 25.03.1993 abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Die Behandlung der Patientin in die Psych. I, Psych. III sowie der Tag- und Nacht-Klinik sei ordnungsgemäß erfolgt, jedenfalls seien keine schweren Behandlungsfehler geschehen; eine konkrete Suizidgefahr sei bei Frau nicht erkennbar gewesen; die Klägerinnen hätten nicht bewiesen, daß ein etwaiger Behandlungsfehler für den Suizidversuch ursächlich gewesen sei; schließlich komme auch eine Umkehr der Beweislast insoweit nicht in Betracht. Wegen der Begründung im einzelnen wird auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.

15

Gegen dieses am 02.04.1993 zugestellte Urteil haben die Klägerinnen am 30.04.1993 Berufung eingelegt und das Rechtsmittel nach entsprechender Fristverlängerung am 01.07.1993 begründet.

16

Sie machen im wesentlichen geltend: Frau ... habe sich bereits seit ihrer Aufnahme in die neurologische Abteilung des Städtischen Klinikums in Suizidgefahr befunden. Entsprechende Gedanken habe sie in der Folgezeit wiederholt geäußert, so auch zwei oder drei Tage vor ihrer Verlegung in die Tag- und Nachtklinik .... Auch gegenüber der dort tätigen Ärztin habe sie am 06./07.01.1989 Suizidgedanken erwähnt. Aus den Pflegenotizen des Behandlungspersonals ergebe sich, daß Frau ... in dieser Zeit innerlich sehr unruhig gewesen sei und daß sich ihr Zustand sogar noch verschlechtert habe. Immer wieder werde auf die große Gefahr hingewiesen, der sich Frau ... selbst ausgesetzt gesehen habe. Über Suizid habe sie erneut am 23.01.1989 gesprochen. Insgesamt ergebe sich also ein Krankheitsbild mit deutlich hervortretenden inneren Spannungen und extremen Schwankungen in der Gemütsverfassung.

17

Die Klägerinnen sind der Ansicht, bei dieser Stimmungslage der Patientin sei die Anwendung von "Fevarin" ein erheblicher Risikofaktor gewesen. Sie beziehen sich auf das Gutachten der Sachverständigen, ..., demzufolge "Fevarin" nicht nur stimmungsaufhellend wirke, sondern auch zu einer Antriebssteigerung fuhren könne. Die Anwendung des Medikaments müsse also, so meinen die Klägerinnen, für eine gewisse Übergangszeit mit einer sorgfältigen Beobachtung der Patientin einhergehen. Denn infolge der Lockerung der Depression durch das Medikament reiche der gleichzeitig wiedergewonnene innere Antrieb aus, einen bestehenden Suizidgedanken in die Tat umzusetzen. Ein derartiges Verhalten des Patienten sei auch für klinisches Fachpersonal vorhersehbar. Unter diesen Umständen hätte die Verpflichtung bestanden, Frau, ... in gesteigertem Maß zu überwachen. Der Einfluß einer endogenen Depression, wie sie vorliegend gegeben gewesen sei, klinge erst nach Wochen ab, und zwar auch dann, wenn antidepressiv wirkende Mittel gegeben werden. Eine Lockerung der zur eigenen Sicherheit der Patientin ergriffenen Maßnahmen hätte frühestens dann in Betracht kommen können, wenn über eine längere Phase hinweg eine Besserung erkennbar gewesen wäre. Das sei bei Frau aber nicht der Fall gewesen, im Gegenteil.

18

Unter Bezugnahme auf die vorliegenden Gutachten bezeichnen es die Klägerinnen als groben Behandlungsfehler, daß Frau ... die sich mit akuten Selbsttötungsgedanken getragen habe, trotz einer Fevarin-Behandlung keiner genauen klinischen Aufsicht unterzogen, sondern statt dessen in die Tag- und Nacht-Klinik verlegt worden sei. Das sei zudem geschehen, obwohl keine längerfristige Stabilisierung im Sinne einer Besserung bei der Patientin festgestellt worden sei. Auch der Abbruch der Infusionsbehandlung mit "Ludiomil" am 03.01.1989 und die weitere Behandlung mit diesem Medikament in Tablettenform sei medizinisch nicht verständlich. Der Suizidversuch von Frau ... könne auch nicht als Kurzschlußreaktion angesehen werden. Denn die Patientin habe sich bereits einen Tag zuvor die von ihr ausgewählte Stelle genau angesehen, sei also ganz gezielt vorgegangen. Die Klägerinnen meinen zusammenfassend, die ärztlichen Behandlungsfehler könnten vorliegend nur als grob angesehen werden. Die moderne Therapie, psychisch Erkrankte möglichst früh aus einer geschlossenen Behandlung in eine offene Station zu geben, habe dort ihre Grenzen, wo dies wegen Eigengefahrdung der Patientin noch nicht vertretbar sei.

19

Die Klägerinnen

20

stellen dieselben Anträge wie in der I. Instanz.

21

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

22

In ihrer umfassenden Berufungserwiderung, deren tatsächliche Angaben die Klägerinnen nicht in Abrede genommen haben (mit Ausnahme der Frage der Anwendung von "Ludiomil" und "Fevarin"), stellt die Beklagte zunächst erneut ausführlich die zeitliche Reihenfolge der Behandlung von Frau ... in der Psych. I, der Psych. III sowie der Tag- und Nacht-Klinik dar. Sie begründet sodann im einzelnen ihre Auffassung, die Diagnose "neurotische Depression" sei unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten einschließlich der sorgfältigen Beobachtung der Patientin erfolgt. Einen Kunstfehler beinhalte diese Diagnose nicht. Wenn der Zweitgutachter angegeben habe, er könne sich dem Urteil der Ärzte der Beklagten nicht anschließen, so begründe dies keinen Vorwurf. Die Beklagte macht geltend, die behandelnden Ärzte hätten in stetem Austausch miteinander gestanden und seien dabei zu dem Ergebnis gelangt, daß die neurotische Depression nicht nur medikamentös, sondern zusätzlich auch sozial-psychiatrisch behandelt werden müsse. Derartige Behandlungsmöglichkeiten seien auf der Psych. III nicht vorhanden gewesen, so daß in einem ausführlichen Team-Gespräch ärztlicherseits beschlossen worden sei, die Patientin in die Tag- und Nacht-Klinik zu verlegen. Irgendein Anlaß für die geschlossene Unterbringung von Frau ... habe bis zum 16.01.1989 nicht bestanden. Die medikamentöse Behandlung in der Psych. I und Psych. III mit dem Antidepressivum "Ludiomil" sei im Rahmen medizinischer Standards erfolgt und habe keinen Kunstfehler beinhaltet.

23

Die Beklagte stellt den Aufenthalt von Frau ... und ihre Behandlung in der Tag- und Nachtklinik dar. Bei dieser Klinik handele es sich trotz des mißverständlichen Namens um eine normale klinische Station, die alle Anforderungen an eine derartige Station erfülle mit der zusätzlichen Maßgabe, daß dort auch Tages- und Nachtpatienten betreut würden. Ein Großteil der Patienten der Tag- und Nacht-Klinik habe depressive Störungen. Diese sozial-psychiatrische Station biete über die medikamentöse Behandlung hinaus die Teilnahme an gemeinsamen therapeutischen Aktivitäten, individuelle Belastungserprobungen im Rahmen der Beschäftigungs- und Ergotherapie sowie Angehörigenbetreuung an. Auf 22 Patienten in der Tag- und Nacht-Klinik, davon 1/3 teilstationär, seien damals neun Krankenschwestern und zwei Auszubildende gekommen. Im Bereich der sozial-psychiatrischen Betreuung der Klinik seien seinerzeit tätig gewesen ein vollzeitbeschäftigter Ergotherapeut, zwei Sozialarbeiter halbschichtig sowie ein Psychologe an zwei vollen Tagen in der Woche. Im pflegerischen Bereich gebe es fast keine Personalfluktuationen, es werde nur "alterfahrenes" Personal eingesetzt, teilweise ununterbrochen seit 1975. Die Beklagte weist daraufhin, daß Frau ... nach ihrem Arbeitsvertrag Anwesenheit auf der Station zwar nur von 08.00 Uhr bis 12.00 Uhr schulde. Die Tag- und Nacht-Klinik werde aber außerhalb dieser Zeiten dienstplanmäßig voll von den Ärzten der übrigen Abteilungen einschließlich des Oberarztes und des Leitenden Abteilungsarztes mitbetreut (inklusive Bereitschafts- und Rufbereitschaftsdiensten). Dadurch sei die Klinik rund um die Uhr und rund um die Woche mit ausreichendem ärztlichen Personal versorgt. Frau sei über die von ihr geschuldete Arbeitszeit hinaus regelmäßig bis 13.00 Uhr oder 14.00 Uhr anwesend. Außerdem stehe sie jederzeit sowohl tags, wie nachts und auch an den Wochenenden für Patienten und Personal zur Verfügung. Sowohl Frau ... als auch der Leitenden Abteilungsarzt, Herr ... seien stets über Euro-Pieper zu erreichen gewesen.

24

Die Beklagte macht geltend, eine Rückverlegung der Patientin auf die Psych. III hätte das Suizidrisiko deutlich erhöht, ohne jedoch mehr Sicherheit zu bieten. Die Patientin hätte die Rückverlegung als Bestätigung ihrer Befürchtung gewertet, nie wieder gesund zu werden und doch "nach Königslutter" zu kommen. Die zwischenzeitlich pensionierte Nachtschwester mit über 20jähriger Berufserfahrung in der Psychiatrie habe in der Nacht vom 24. zum 25.01.1989 nicht nur mindestens dreimal bei der Patientin ins Zimmer geschaut, sondern sie auch morgens gegen 05.00 Uhr anläßlich eines Toilettenganges noch einmal gesehen; die Patientin habe dabei unauffällig und freundlich gewirkt. Da im Jahr 1988 zwei Suizide erfolgt seien, habe das Klinikpersonal in der Folgezeit das Suizidrisiko bei den Patienten, und auch bei Frau, ... sehr aufmerksam beobachtet. Konkrete Suizidgedanken in dem Sinn "ich will nicht mehr leben" habe Frau ... weder gegenüber Herrn oder Frau ... noch gegenüber irgendwelchen Krankenschwestern geäußert. Hätte Frau ... direkte Selbsttötungsabsichten erkennen lassen, wäre sie mit Sicherheit sofort in die geschlossene Abteilung eingewiesen worden.

25

Die Beklagte weist schließlich darauf hin, daß das der Patientin verabreichte Medikament "Fevarin" in seiner konkreten Anwendung unbedenklich gewesen sei. "Fevarin" werde zur anti-depressiven Behandlung sogar ambulant eingesetzt.

26

Zur Ergänzung des beiderseitigen Parteivorbringens in der Berufungsinstanz wird wiederum auf die Schriftsätze und deren Anlagen verwiesen.

Gründe

27

Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Die behandelnden Ärzte habe eine im wesentlichen zutreffende Diagnose gestellt und Frau ... konsequent mit Antidepressiva behandelt. Es ist nicht ersichtlich, daß die konkrete Medikation mit "Ludiomil" sowie dem Mittel "Fevarin" Ursache für den Suizidversuch war. Grobe Behandlungsfehler sind insoweit nicht geschehen. Es ist nicht zu beanstanden, daß die Patientin von der Psych. III in die Tag- und Nacht-Klinik verlegt worden ist. Konkrete Anzeichen dafür, daß Frau ... demnächst oder sogleich einen Suizidversuch unternehmen würde, waren nicht vorhanden. Eine Haftung der Beklagten wegen schuldhafter Schlechterfüllung des ärztlichen Behandlungsvertrages oder deliktischen Verhaltens in Verbindung mit §§ 116, 119 SGB X kommt daher nicht in Betracht.

28

1.

Durch den Krankenhaus-Aufnahmevertrag hatte die Beklagte die Verpflichtung übernommen, die zur Pflege und Heilung der Patientin erforderlichen Leistungen zu erbringen, die Patientin vor vermeidbaren Gefahren zu schützen und alles zu unterlassen, was diesem Ziel abträglich sein könnte (BGH NJW 1957, 709 [BGH 14.02.1957 - VII ZR 287/56]; VersR 1954, 290). Zur Erfüllung des Vertrages gehörte auch eine den Umständen genügende Kontrolle der Patienten. Dabei ist von dem Grundsatz auszugehen, daß organisatorische Maßnahmen zum Schutz suizidgefahrdeter Patientin möglichst wirkungsvoll zu sein haben, wobei dieses Gebot allerdings abzuwägen ist gegen Gesichtspunkte einer Therapiegefährdung durch allzu starke Verwahrung (OLG Hamm VersR 1991, 302, 303 [OLG Hamm 18.09.1989 - 3 U 289/88]). Der Gesichtspunkt einer Therapiegefährdung kann aber nicht entscheidend sein, wenn eine erkennbare Gefahr für Leib und Leben des Patienten gegeben ist. Die Sicherheit des Patienten hat in diesem Fall absoluten Vorrang (OLG Koblenz OLGZ 1991, 326, 329; OLG Hamm MedR 1984, 69, 71). Das Oberlandesgericht Frankfurt hat in einem vom Bundesgerichtshof bestätigten Urteil ausgeführt (VersR 1979, 451, 452), und zwar nach Einholung eines Gutachtens, daß der Einfluß endogener Depressionen auf das Verhalten eines Patienten auch bei Behandlung mit antidepressiv wirkenden Mitteln in der Regel erst nach Wochen abzuklingen pflegt; die psychiatrische Klinik hätte die Patientin in eine geschlossene Abteilung verlegen oder doch jedenfalls in besonderer Weise überwachen und am Verlassen der Klinik hindern müssen. Allerdings hatte die Patientin - und insoweit bestätigt die Entscheidung die oben wiedergegebene Rechtsprechung - kurz vor ihrer Einweisung bereits einen Suizidversuch unternommen, so daß das bestehende Risiko konkret erkennbar war. Ebenso hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig in einem Urteil vom 14. 02. 1984 - 5 U 26/82 - einen Krankenhausträger zum Schadensersatz verurteilt mit der Begründung, eine erkennbar suizidgefährdete Patientin sei nicht hinreichend überwacht worden (siehe auch OLG Köln VersR 1993, 1156, 1157 [OLG Köln 01.04.1992 - 27 U 83/91]).

29

Der Bundesgerichtshof hat die wiedergegebenen Grundsätze der Rechtsprechung in seinem Urteil vom 23.09.1993 - III ZR 107/92 - zusammenfassend wiederholt: Der Krankenhausträger und seine Bediensteten haben die Pflicht, einen Patienten vor Selbstschädigungen zu bewahren, die ihm durch Suizidversuche drohen können. Zweck der Aufnahme des Patienten in einem psychiatrischen Krankenhaus ist nicht nur, ihn von einer Neurose oder sonstigen Erkrankung möglichst zu heilen; das Krankenhauspersonal trifft auch die Pflicht, alle Gefahren vom Patienten abzuwenden, die ihm wegen der Krankheit durch sich selbst drohen können. Notwendig hierfür ist eine Bewachung und Sicherung des Kranken. Diese Pflicht besteht allerdings nur in den Grenzen des Erforderlichen und des für das Krankenhauspersonal und den Patienten Zumutbaren. Ein Suizid während des Aufenthalts in einem psychiatrischen Krankenhaus kann nie mit absoluter Sicherheit vermieden werden, gleichgültig, ob die Behandlung auf einer offenen oder einer geschlossenen Station unter Beachtung aller realisierbaren Überwachungsmöglichkeiten durchgeführt wird. Zu berücksichtigen ist auch, daß entwürdigende Überwachungs- und Sicherungsmaßnahmen, soweit sie überhaupt zulässig sind, nach heutiger medizinischer Erkenntnis eine erfolgversprechende Therapie gefährden können. Ein zum Selbstmord Entschlossener finden ohnehin Mittel und Wege, seinen Plan auszuführen.

30

Bei der Frage, ob die behandelnden Ärzte im konkreten Fall die gebotene Risikoabwägung einwandfrei oder vorwerfbar fehlerhaft durchgeführt haben, ist davon auszugehen, daß der Krankenhausträger sich nicht gemäß § 282 BGB für sein mangelndes Verschulden entlasten muß. Im Rahmen des ärztlichen Behandlungsvertrages gilt auch für Fälle der positiven Vertragsverletzung die Beweislastumkehr nach der genannten Vorschrift grundsätzlich nicht. Im Regelfall muß der Patient sowohl den Behandlungsfehler als auch dessen Ursächlichkeit für einen eingetretenen Schaden beweisen (BGH NJW 1988, 2949 [BGH 28.06.1988 - VI ZR 217/87]; VersR 1978, 82 m.w.N.). Die Rechtsprechung geht davon aus, daß der Arzt regelmäßig nur kunstgerechtes Bemühen, nicht aber den Heilerfolg zusagen kann. Weder aus einem Zwischenfall, der grundsätzlich zu gegenwärtigen ist, noch aus einem Mißerfolg der Behandlung läßt sich - falls kein grober Fehler vorliegt - der Schluß auf ein pflichtwidriges Verhalten des Arztes ziehen. Auch kann eine zutreffende Diagnose nicht immer gewährleistet werden. Das gilt vor allem in der Psychiatrie. Anders als bei rein körperlichen Erkrankungen gibt es hier für den Arzt wenig objektiv faßbare Kriterien, die eine zuverlässige Diagnose gestatten. Was ex ante vertretbar war, kann ex post nicht falsch sein. Das gilt auch im Rahmen einer Behandlung depressiver Syndrome, bei denen häufig eine Suizidneigung besteht (s. insgesamt OLG Düsseldorf MedR 1984, 69, 71 m.w.N.).

31

Um einen groben Behandlungsfehler annehmen zu können, der allein eine Beweislastumkehr rechtfertigen kann, muß ein Fehlverhalten vorliegen, das zwar nicht notwendig aus subjektiven, in der Person des Arztes liegenden Gründen, aber aus objektiver ärztlicher Sicht bei Anlegung des für einen Arzt geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabes nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint, weil ein solcher Fehler dem behandelnden Arzt aus dieser Sicht "schlechterdings nicht unterlaufen darf" (BGH LM Nr. 63 zu § 823 A a BGB). Es muß sich um einen "unverzeihlichen Mangel an Sachkunde" oder um "unverzeihlichen Starrsinn" des Arztes handeln (BGH LM Nr. 24 zu § 402 ZPO).

32

2.

Für die Beurteilung eines etwaigen Behandlungsfehlers ist zunächst auf die Tatsachenerhebung und die von den behandelnden Ärzten gestellte Diagnose einzugehen. Es ist nicht feststellbar, daß dabei Fehler unterlaufen sind, die für das Geschehen am 25.01.1989 ursächlich gewesen wären.

33

Die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie ... hatte Frau ... in die Psychiatrische Klinik der Beklagten eingewiesen mit der Diagnose "endogene Depression mit Suizidgedanken". Das ergibt sich aus einem Arztbrief vom 02.01.1989. Frau ... befand sich vom 29.12.1988 bis zum 17.01.1989 zunächst in der Psych. I und Psych. III des Klinikums ... Daß sie Suizidgedanken hatte, ergibt sich auch aus dem von Herrn ... und Frau ... unterschriebenen abschließenden Brief an Frau ... vom 26.01.1989. Danach hat die Patientin sowohl bei der Aufnahme als auch während des gesamten Aufenthalts zeitweilig immer wieder Suizidgedanken geäußert, konkrete Planungen aber abgelehnt. In demselben ärztlichen Schlußbericht vom 26.01.1989 finden sich folgende zusammenfassende Ausführungen über den Zustand der Patientin:

34

"Die diagnostische Einordnung der Depression war aus unserer Sicht nicht ganz eindeutig, neurotische Anteile, eine übergroße Abhängigkeit von Partnern mit Verlustängsten auf dem Boden einer selbst unsicheren, auf Zuwendung zur Stabilisierung des eigenen Selbstwertgefühls angewiesenen Patientin standen im Vordergrund, die schwere Ausprägung der Depression ließ aber auch an einen endogenen Kern denken."

35

Frau ... hatte als Ergebnis ihres Aufnahmegesprächs in der Tag- und Nacht-Klinik am 17.01.1989 bereits notiert:

36

"Zusammenfassend jetzt das Bild einer depressiven Verstimmung mit deutlich neurotischen Anteilen, wobei aber ein endogener Kern nicht auszuschließen ist."

37

In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, daß die Erstgutachterin, Frau in ihrem Gutachten vom 13.02.1991 hervorgehoben hat, aus den Krankenunterlagen gehe hervor, daß eine sorgfältige Diagnostik erfolgt sei und daß die lückenlose Dokumentation eine sorgfältige Beobachtung der Patientin bezeuge (S. 23, 28), hat in seinem Zweitgutachten vom 23.06.1992 ebenfalls daraufhingewiesen, daß die zur diagnostischen Abklärung erforderlichen Maßnahmen in der Klinik der Beklagten durch neurologische internistische Untersuchungen durchgeführt worden seien (S. 21).

38

Frau ... hat sich der Beurteilung der Ärzte der Beklagten im wesentlichen angeschlossen: Die diagnostische Einordnung sei aufgrund der Krankenunterlagen nicht eindeutig möglich. Es fänden sich Hinweise auf eine neurotische, d.h. lebensgeschichtlich begründbare Entwicklung, außerdem aber Hinweise auf eine krankhafte Veranlagung (S. 22 des Gutachtens). Die gleiche Einschätzung hat auch der von der Klägerin zu 1. beauftragte Arzt für Neurologie und Psychiatrie ... in Stellungnahme vom 26.03.1991 abgegeben mit dem Zusatz, daß vorliegend zumindest der Verdacht auf eine endogene Depression bestehe (S. 21). ... hat in seinem schriftlichen Gutachten dagegen recht eindeutig für das Vorliegen einer endogenen Depression plädiert (S. 7, 12, 20). Bei seiner ergänzenden mündlichen Anhörung durch das Landgericht am 04.03.1993 hat er erklärt, wesentlich sei vorliegend nicht, ob man die Depression als endogen oder neurotisch ansehe, dies sei eine theoretische Frage; bedeutsam sei demgegenüber, daß es sich bei Frau ... um eine größere Depression gehandelt habe (Bl. 324 d.A.).

39

Die von den Ärzten der Beklagten in Übereinstimmung mit der einweisenden Ärztin Frau ... sowie dem ergänzenden Bericht der Privatklinik ... vom 03.01.1989 gestellte Diagnose war daher im wesentlichen zutreffend, jedenfalls vertretbar. Denn die Patientin war in ihren Stimmungen und ihrem Auftreten auch von äußeren Einflüssen abhängig. Sie hatte, wie den Arztberichten zu entnehmen ist, Partnerschaftsprobleme und war offenbar recht betroffen, als ein für den 21./22.01.1989 geplanter Wochenendbesuch bei ihrem Schwager nicht zustandekam. Die von den Ärzten aufgrund ihres persönlichen Umgangs mit der Patientin und des dabei gewonnenen Bildes erstellte Diagnose erscheint vorliegend überzeugender als davon abweichende Beurteilungen durch Sachverständige, die die Patientin selbst nicht gesehen haben. Zu dieser Beurteilung trägt vor allem bei, daß die Unterschiede in der Diagnose nur recht gering sind und daß, wie Prof. ... eingeräumt hat, es nicht so sehr auf die Benennung der Depression, sondern vielmehr auf die graduelle Unterscheidung zwischen einer kleineren oder einen größeren Depression ankomme.

40

3.

Frau ... ist in der Psych. I und III mit dem depressionsbekämpfenden Medikament "Ludiomil" behandelt worden, und zwar bis zum 03.01.1989 durch entsprechende Infusionen, anschließend oral. Eine Haftung der Beklagten wegen dieses Wechsels der Anwendungsform ist entgegen der Annahme der Klägerinnen nicht gegeben.

41

Prof. ... hat in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt, für den Abbruch der Behandlung nach nur fünf Infusionen und die Umstellung auf orale Gabe des Medikaments gebe es keine vernünftige Begründung. Der Patientin sei es nach nur fünf Infusionen keineswegs besser gegangen, was auch noch nicht anzunehmen gewesen sei. Üblicherweise würden Infusionen mit "Ludiomil" länger als fünf bis sechs Tage durchgeführt, nämlich nach Standard etwa zwei Wochen. Wenn die Wirkung auf sich warten lasse, werde bei hinlänglicher Verträglichkeit auch höher als geschehen infundiert (S. 13, 21). Bei seiner mündlichen Anhörung hat ... diese Ausführungen wiederholt und ergänzt (Bl. 323 f d.A.): Eine Infusionsbehandlung von 12 bis 14 Tagen sei Standard. Man könne allenfalls vorher diese Behandlungsform abbrechen, wenn sich unliebsame Nebenwirkungen zeigten; dies sei vorliegend nach den Unterlagen aber nicht der Fall gewesen. Ein vernünftiger Grund für das Abbrechen der Infusionsbehandlung sei nicht zu sehen. Bestätigt werden die Ausführungen von Prof. ... durch die Angaben über "Ludiomil" in der sog. Roten Liste 1993: Bei frischen Fällen von ausgeprägter Depression kann das Medikament danach intravenös appliziert werden; im Anschluß an die Infusionsbehandlung, d.h. ab Eintritt eines deutlichen Effektes meist innerhalb der ersten zwei Wochen, soll die Behandlung mit oralen Gaben fortgesetzt werden.

42

Demgegenüber sind folgende Umstände bedenkenswert: ... hat immerhin an zwei Stellen ihres Gutachtens hervorgehoben, daß die Patientin "konsequent pharmakotherapeutisch antidepressiv behandelt wurde" (S. 23, 28). Weder sie noch ... haben die unterschiedlichen Darreichungsformen des Medikaments auch nur erwähnt, geschweige denn die Dauer der Infusionsbehandlung beanstandet. Die Beklagte behauptet in der Berufungserwiderung, die Medikamentierung während des Aufenthalts der Patientin in der Psych. I und III sei regelrecht im Rahmen medizinischer Standards erfolgt und beinhalte keinen Kunstfehler. In Fachkreisen bestünden unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Frage, welche Formen der Beibringung effektiver und wirksamer seien; die Mehrheitsmeinung tendiere aufgrund umfangreicher Vergleichsuntersuchungen dazu, beide Formen für gleichwertig zu erachten. Die Beklagte hat Ablichtungen verschiedener wissenschaftlicher Veröffentlichungen vorgelegt, die für die Richtigkeit dieser Behauptungen zu sprechen scheinen.

43

Die Frage, ob im Rahmen der Behandlung mit "Ludiomil" ein Kunstfehler unterlaufen ist, ist danach möglicherweise nicht abschließend zu beurteilen. Zu berücksichtigen ist insoweit immerhin, daß die behandelnden Ärzte ihre Entscheidung nach sorgfältiger Prüfung und aus nachvollziehbaren Gründen getroffen haben. Diese Entscheidung könnte danach also vertretbar erscheinen. Diese Frage braucht im Ergebnis aber nicht beantwortet zu werden. Eine Beweisaufnahme zu den von der Beklagten aufgestellten Behauptungen ist aus folgenden Erwägungen nicht erforderlich:

44

Bereits das Landgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, daß im Regelfall der Patient sowohl den Behandlungsfehler als auch dessen Ursächlichkeit für den eingetretenen Schaden zu beweisen habe und daß eine Beweislastumkehr für die Frage der Kausalität nur bei schweren Behandlungsfehlern in Betracht komme. Das Umstellen der Medikation ist vorliegend nicht als grober Behandlungsfehler zu werten, also als ein ärztliches Fehlverhalten, das schlechterdings nicht unterlaufen darf, weil es wegen "unverzeihlichen Mangels an Sachkunde" bzw. "unverzeihlichen Starrsinns" geschah (vgl. BGH LM Nr. 63 zu § 823 A a BGB; Nr. 24 zu § 402 ZPO). Die Kausalität einer etwaigen Fehlbehandlung ist also von den Klägerinnen zu beweisen. Diesen Beweis haben sie nicht erbracht. Die Ausführungen des Landgerichts zu diesem Problem erscheinen zutreffend. Bemerkenswert ist in der Tat, daß weder ... noch ... die Frage der Medikation auch nur erörtert haben. Zugute zu halten ist den Ärzten der Beklagten auch, daß sie die Diagnose bei Frau vertretbar geringfügig anders gestellt haben als Prof. ... Während ... für das aktuelle Behandlungserfordernis die "endogene Verstimmtheit mit ihrem vitalen Tiefgang ganz im Vordergrund" gesehen hat (S. 17 des Gutachtens), haben Herr und Frau ... die neurotischen Anteile gegenüber dem vorhandenen endogenen Kern stärker hervorgehoben (Arztbrief vom 26.01.1989). Auf diesen etwas anderen Blickwinkel wurde bereits oben hingewiesen. Zutreffend erscheint die vom Landgericht daraus abgeleitete Konsequenz, daß die unterschiedliche Beurteilung der Depressionsform auch unterschiedliche, aber vertretbare Auffassungen hinsichtlich der Medikation und der sonstigen Behandlung zur Folge habe (S. 12 des Urteils). Zu der sich daraus ergebenden Einschätzung, daß der Wechsel bei der Anwendung des Medikaments jedenfalls kein grober Behandlungsfehler war, trägt auch bei, daß Prof. ... bei seiner mündlichen Anhörung gesagt hat, daß nach seiner Ansicht in der Tag- und Nacht-Klinik keine Fehler gemacht worden seien; man könne auch in der Klinik Suizide nicht restlos verhindern (Bl. 323 d. A.). Wäre der Wechsel der Medikation von "Ludiomil" während des Aufenthalts der Patientin in der Psych. I und III fehlerhaft gewesen, hätte die - jedenfalls im Hinblick auf die Verhinderung eines Suizids fehlerfreie - Behandlung in der Tag- und Nacht-Klinik diesen kompensiert.

45

4.

Als Behandlungsfehler sehen die Klägerinnen sodann die am 17.01.1989 erfolgte Verlegung von Frau ... von der Psych. III in die Tag- und Nacht-Klinik an. Diese Verlegung ist nach dem Vorbringen der Beklagten erfolgt, weil die Patientin noch sehr Jung gewesen sei, sich der Zustand einerseits gebessert gehabt habe, andererseits aber noch neurotische Rückzugstendenzen bestanden hätten, die auf der Psych. III nicht hätten bearbeitet werden können. Die Verlegung der Patientin ist der Beklagten nicht als Behandlungsfehler anzulasten.

46

Die angebliche Besserung im Befinden der Patientin ist in den Krankenunterlagen allerdings nicht dokumentiert. Darauf haben ... (S. 19, 28) und ... (S. 22) hingewiesen. Auch Prof. hat in seinem schriftlichen Gutachten dargelegt (S. 14), daß die weitergeführte orale Behandlung mit "Ludiomil" in der Psych. III keine wesentliche Änderung im Befinden der Patientin zur Folge gehabt habe.

47

Trotz dieser Ausgangslage war die Verlegung der Patientin, wie Dr. ... ausgeführt hat (S. 25 ff, 28), bei latenter Suizidalität nicht contraindiziert, falls eine sorgfältige Güterabwägung vorgenommen wurde und wenn man davon ausgeht, daß in der Tag- und Nacht-Klinik die Arzt-Patienten-Beziehung als ein wesentlicher Faktor der Selbstmordverhütung sogar intensiver ist als in der Klinik .... Demgegenüber hat es ... als unklar bezeichnet, warum die Verlegung in die Tag- und Nacht-Klinik erfolgt sei. Allerdings ist ... von der nach jetzigem Kenntnisstand unzutreffenden Voraussetzung ausgegangen, daß dort lediglich eine "reduzierte fachärztliche Betreuung" erfolge (S. 22, auch 24 seiner Stellungnahme). Der im Auftrag der Klägerin zu 2. eingeschaltete Landesmedizinaldirektor ... ist in seinen Ausführungen vom 07.05.1991 ebenfalls von der unzutreffenden Annahme ausgegangen, in der Tag- und Nacht-Klinik erfolge lediglich eine reduzierte fachärztliche Betreuung, so daß die Verlegung der Patientin dorthin zu früh erfolgt sei (Bl. 158 d.A.). Auch Prof. ... hat in seinem schriftlichen Gutachten angenommen, diese Station habe gegenüber der Psych. III eine verminderte ärztliche und krankenpflegerische Betreuungsdichte und Frau ... habe dort weder den Status einer Tag-Patientin noch denjenigen einer Nacht-Patientin gehabt (S. 14). Bei dieser Ausgangslage ist ... sodann - folgerichtig, aber sachlich unzutreffend-, zu der Einschätzung gelangt, für eine noch "offenere" Station sei die Patientin noch nicht hinreichend vorbereitet gewesen, so daß die Verlegung zu früh erfolgt sei (S. 19, 22). Demgegenüber hat Frau Dr. ... als Zeugin ausgeführt, daß die personelle Situation in der Tag- und Nacht-Klinik besser sei als in der Klinik ... (Psych. I und Psych. III). Das gelte einmal für die Zahl der Schwestern, außerdem seien im Gegensatz zur Psych. I und III eine Beschäftigungstherapeutin, ein Sozialarbeiter und ein Psychologe tätig. In der Tag- und Nacht-Klinik sei es auch einfacher, Angehörige, Arbeitgeber und andere Personen einzuschalten. Das alles seien Gründe gewesen, Frau ... dorthin zu verlegen, da die behandelnden Ärzte den Eindruck gehabt hätten, daß aus diesem Bereich mit ihr etwas geschehen müsse (Bl. 320 f d.A.). Die Beklagte hat in diesem Zusammenhang unwidersprochen vorgetragen, die Verlegung sei nach gründlicher Abwägung erfolgt, weil man etwas gegen die vorhandenen neurotischen Rückzugstendenzen habe tun wollen, was auf der Psych. in nicht möglich sei. Außerdem hat die Beklagte, ohne daß die Klägerinnen dies bestritten haben, die Ausführungen der Zeugin Dr. ... zum Umfang der personellen Ausstattung der Tag- und Nacht-Klinik bestätigt und substantiiert. Auf diesen Umstand wird an anderer Stelle weiter eingegangen werden. Auch auf ein Organisationsverschulden der Beklagten bezüglich der Ausstattung dieser Klinik können die Klägerinnen sich daher nicht berufen.

48

Die behandelnden Ärzte gingen seinerzeit von nicht unerheblichen neurotischen Anteilen an der Depression der Frau ... aus, ohne daß ihnen dies vorgeworfen werden könnte. Das ergibt sich aus dem bereits erwähnten Vermerk von Frau ... vom 17.01.1989. Dort wird "das Bild einer depressiven Verstimmung mit deutlich neurotischen Anteilen" gezeichnet. Der Diplom-Psychologe ... hat aufgrund einer ausführlichen Untersuchung der Patientin unter dem 13.01.1989 ebenfalls seine Ansicht dahin zusammengefaßt, es bestehe ein "erheblicher Verdacht auf das Vorliegen einer neurotischen Depression mit regressiven Elementen und einer erheblichen Beziehungsgestörtheit". Auch in dem Arztbrief der Eheleute ... vom 26.01.1989 heißt es abschließend, neurotische Anteile hätten im Vordergrund gestanden, die schwere Ausprägung der Depression lasse aber auch an einen endogenen Kern denken. Wegen dieser Einstellung der die Patientin behandelnden Fachleute erscheint die Entscheidung, Frau von der Psych. III in die Tag- und Nacht-Klinik zu verlegen - dies geschah mit ihrer ausdrücklichen Einwilligung-, im Ergebnis vertretbar. Daß demgegenüber Prof. ... die Verlegung der Patientin als zu früh bezeichnet hat, beruht einerseits auf seiner nicht ganz zutreffenden Kenntnis über die tatsächlichen Voraussetzungen der Tag- und Nacht-Klinik. Andererseits ist ... zu seinen Ergebnis deshalb gelangt, weil er die endogene Komponente der Depression stärker hervorgehoben hat, als dies die Ärzte der Beklagten taten. Aus dieser unterschiedlichen Betrachtungsweise folgt indessen nicht, daß der Beklagten die Verlegung von Frau ... als Behandlungsfehler vorgeworfen werden könnte. Bei seiner mündlichen Anhörung hat dieser Sachverständige zwar angegeben, es spreche manches dafür, daß das (spätere) Geschehen darauf beruhe, daß die Infusionsbehandlung zu früh abgebrochen und die Patientin zu früh in die Tag- und Nacht-Klinik verlegt wurde. Allerdings hat er hinzugefügt, dies sei nur eine einfache Wahrscheinlichkeit. Eine größere Wahrscheinlichkeit könne er hier nicht feststellen.

49

5.

Ein Behandlungsfehler ergibt sich auch nicht deshalb, weil die Rahmenbedingungen in der Tag- und Nacht-Klinik ungünstiger gewesen wären als in der Psych. III. Diese Bedingungen waren im Gegenteil eher besser: Die Beklagte hat in der Berufungserwiderung im einzelnen - ohne daß die Klägerinnen dies bestritten hätten - die Betreuungsdichte dargestellt, d.h. die Zahl der Patienten einerseits sowie des Pflegepersonals und dessen Zusammensetzung andererseits. Frau Dr. ... hat als Zeugin ebenfalls entsprechende Angaben gemacht. Die Tag- und Nacht-Klinik zeichnet sich danach aus durch eine zahlenmäßig gute personelle Ausstattung einschließlich der Möglichkeit einer breit angelegten sozial-psychiatrischen Betreuung. Im pflegerischen Bereich gibt es fast keine Personalfluktuation, da grundsätzlich nur "alterfahrenes" Personal tätig ist. Die ärztliche Versorgung ist ebenfalls gesichert, auch wenn Frau Dr. ... nach ihrem Arbeitsvertrag nur eine Halbtagsstelle innehat. Da die Ärztin keine Bereitschaftsdienste, Rufbereitschaften und Vertretungen für andere Stationen übernehmen muß, steht sie ausschließlich für die Tag- und Nacht-Klinik zur Verfügung. Auch außerhalb ihrer Dienstzeit ist sie jederzeit telefonisch oder über Euro-Pieper erreichbar, und zwar auch an den Wochenenden. Außerdem ist durch entsprechende Dienstpläne gewährleistet, daß bei Abwesenheit von Frau Dr. ... Ärzte der anderen psychiatrischen Stationen erreichbar sind.

50

Diese personelle Ausstattung der Tag- und Nacht-Klinik mit der - wie die Beklagte unwidersprochen geltend macht - dichteren Betreuung als auf anderen psychiatrischen Stationen hat zur Folge, daß die Suizidgefahr in dieser Klinik kleiner ist als in anderen psychiatrischen Kliniken und Stationen: Prof. ... hat bei seiner mündlichen Anhörung erklärt, auch bei noch so guter Behandlung und Aufsicht verliere man auf 1.000 Aufnahmen in einer Klinik vier bis fünf Patienten durch Selbstmord. Bei diesen Zahlen seien alle Aufnahmen zusammengefaßt, also auch die nicht suizidalen. Würde man die Zahl allein auf die suizidgefährdeten Patienten umrechnen, wäre der Prozentsatz noch viel höher; dann kämen fünf Suizide auf 200 suizidgefährdete Aufnahmen. Die Beklagte gibt die Suizidrate in der Tag- und Nacht-Klinik demgegenüber mit 2,22 pro 1.000 Aufnahmen an, und zwar für die gesamte Zeit des Bestehens der Klinik vom 01.09.1980 bis August 1993. Da zwei der in diesen 13 Jahren erfolgten insgesamt sechs Suiziden im Jahr 1988 geschahen, d.h. im Jahr vor der Einlieferung von Frau ... in die Tag- und Nacht-Klinik, seien, so macht die Beklagte unwidersprochen außerdem geltend, die Bemühungen des Pflegepersonals zur Verhinderung weiterer Suizidversuche gerade seit jener Zeit besonders groß. So seien die Krankenakten suizidgefahrdeter Patienten mit dem Merkmal "S" bzw. "SS" gekennzeichnet, für eine zurückliegende Suizidhandlung bzw. eine kurz zuvor erfolgte entsprechende Handlung. Obwohl Frau ... zuvor noch keinen Suizidversuch unternommen hatte, war auch ihre Akte durch ein "S" markiert. Diese Kennzeichnung bei Frau ... sei unter dem für alle Mitarbeiter der Station traumatischen Eindruck der zwei Suizide in 1988 erfolgt aufgrund der Einschätzung der latent durchaus vorhandenen Gefährdung der Patientin. Bei ihrer Zeugenvernehmung hat Frau Dr. ... die mit dem "S" versehene Original-Krankenakte von Frau ... vorgelegt.

51

Die bei den Gerichtsakten befindlichen Krankenunterlagen belegen auch die Richtigkeit der weiteren Behauptung der Beklagten, Frau Dr. ... habe mit der Patientin ein "therapeutisches Bündnis" geschlossen dahingehend, daß die Patientin sich beim Aufkommen ernstlicher Suizidgedanken sofort an die Ärztin bzw. eine Krankenschwester zu wenden habe. Die Ärztin hat unter dem 19.01.1989 einen entsprechenden Vermerk aufgenommen. Die Dokumentation während des Behandlungsverlaufs durch die Schwestern und die Ärztin der Tag- und Nacht-Klinik ist im übrigen von Frau ... als gut (S. 29 des Gutachtens), von ... immerhin als hinreichend (S. 23) bezeichnet worden. Dr. ... hat außerdem ihren Eindruck wiedergegeben, daß in der Tag- und Nacht-Klinik die Arzt-Patienten-Beziehung als ein wesentlicher Faktor der Selbstmordverhütung sogar intensiver war als in der Klinik ... (S. 28).

52

Die Verlegung von Frau ... in die Tag- und Nacht-Klinik war auch nicht deshalb fehlerhaft, weil die Fenster und die Umzäunung des Grundstücks nicht hinreichend gegen ein Entweichen von Patienten gesichert waren. Das Landgericht hat zu dieser Frage zutreffende Ausführungen gemacht. Dr. ... hat insoweit ausgeführt, auch bei latenter Suizidalität sei eine Verlegung in eine offenere Abteilung nicht contraindiziert, wenn eine sorgfältige Güterabwägung vorgenommen wurde zwischen einschränkenden Maßnahmen und der Gesundung förderlichen Maßnahmen, die jedoch auch ein gewisses Risiko beinhalten (S. 28/29). Das Suizidrisiko läßt sich auch bei einer sicheren Unterbringung/Verwahrung nicht ausschalten, lediglich beim Entweichen der Patientin hätte man in einer anderen Station wohl besser vorbeugen können. Darauf hat Prof. ... im schriftlichen Gutachten hingewiesen (S. 19). Ein zum Suizid Entschlossener hätte also ggf. andere Mittel und Wege gesucht und auch gefunden. Bedeutsam ist ferner - darauf wird noch zurückzukommen sein-, daß eine konkrete Gefährdung von Frau ... nicht erkennbar war.

53

Die Klägerinnen sehen als Behandlungsfehler ferner an, daß Frau ... mit dem Medikament "Fevarin" behandelt und in diesem Zusammenhang nicht hinreichend beaufsichtigt worden sei. Auch dieses Vorbringen kann eine Haftung der Beklagten für die Folgen des Suizidversuchs nicht begründen.

54

Das Mittel "Fevarin" ist ein Antidepressivum, das vor allem zwei Wirkungen hat, die im Einzelfall aber im voraus nicht hinreichend abzuschätzen sind: Neben der stimmungsaufhellenden Wirkung kann es antriebssteigernd wirken; bei einigen Patienten kann es auch zu Unruhezuständen führen (... S. 30, ... S. 14 sowie ergänzend bei seiner mündlichen Anhörung). Die antriebssteigernde Wirkung ist zunächst deutlicher ausgeprägt als die Stimmungsaufhellende. Dieser Umstand kann gerade bei gefährdeten Patienten zur Folge haben, daß der Antrieb zum Suizidversuch gerade in den ersten Tagen recht ausgeprägt ist, da die antidepressive Wirkung sich noch nicht voll entfaltet hat in seiner Stellungnahme vom 07.05.1991, (Bl. 158 R d.A.). In der sog. Roten Liste (Ausgabe 1991) ist folgender Hinweis enthalten:

55

"Bis zum Einsetzen der antidepressiven Wirkung nach etwa ein bis zwei Wochen sind die Patienten ausreichend zu beobachten. Bei bestimmten Patienten mit schweren Depressionen sind eine Dauerbeobachtung und/oder eine sedative Zusatztherapie erforderlich."

56

Frau D. hat als Zeugin angegeben, ihr Ehemann (also der Leitende Abteilungsarzt) und sie hätten gemeinsam den Einsatz von "Fevarin" bei Frau ... erörtert und beschlossen. Sie hätten das Mittel angewandt, weil sie der Überzeugung gewesen seien, daß dies wegen der Angst- und der Panikzustände der Patientin richtig sei. Nach ihrer Auffassung wirke "Fevarin" zwar nicht beruhigend, jedoch auch nicht antriebssteigernd. Sie hätten es daher kombiniert mit dem dämpfenden Mittel "Ludiomil".

57

Prof. ... hat die Gabe des Medikaments dagegen wegen seiner aktivierenden, den Antrieb steigernden Substanz vorliegend als "problematisch" bezeichnet (S. 14 des Gutachtens). Wegen seiner aktivierenden Wirkungsweise werde "Fevarin" bei überwiegend gehemmten Depressionen endogenen Gepräges eingesetzt. Eine derartige Verfassung habe bei Frau ... aber nicht bestanden. Die Patientin habe sich vielmehr minderwertig gefühlt und sei in melancholischer Verfassung gewesen. Unter diesen Umständen hätte hinsichtlich antriebsmobilisierender Antidepressiva Zurückhaltung geboten sein können (S. 14/15). Für die Anwendung des Mittels habe "keine vernünftige medizinisch-psychiatrische Indikation" bestanden; wenn überhaupt, dann hätte, wie ... weiter angegeben hat, eine solche Verordnung die Verlegung der Patientin in ein abgesichertes klinisches Millieu erfordert (S. 16, auch S. 22). Andererseits hat ... bei seiner mündlichen Anhörung auch angegeben, er könne dennoch nicht klar sagen, daß eine andere Strategie zu anderen Ergebnissen geführt und den geschehenen Hergang verhindert hätte. Zu den Ausführungen von Profi ... ist kritisch anzumerken: Während ... "Fevarin" vor allem bei gehemmten Depressionen endogenen Gepräges einsetzen will, wird der Anwendungsbereich des Medikaments in der Roten Liste folgendermaßen beschrieben:

58

"Depressive Verstimmungen, wie z.B. endogene, neurotische und reaktive Depressionen."

59

Auch bei Frau ... hat sich die antriebssteigernde Wirkung des Medikaments bemerkbar gemacht. In den Aufzeichnungen des Pflegepersonals findet sich unter dem 23./24.01. folgende Notiz:

60

"Patientin kam morgens ganz euphorisch ins Dienstzimmer. Hätte solch tolles Gefühl und es wäre wunderbar. War in der Kochgruppe, dort ging es ihr wieder schlechter, war traurig, daß der Zustand nicht anhält von morgens."

61

Einen entsprechenden Vermerk hat auch Frau Dr. ... unter dem 24.01.1989 gefertigt. In einem Arztgespräch habe die Patientin an diesem Tag auch über Zukunftsplanungen gesprochen. Sie habe bedauert, daß sie sich habe scheiden lassen. Sie freue sich schon wieder auf ihre eigene Wohnung, in der sie sich wohlfühle, und sie plane, vielleicht am kommenden Wochenende einen Wochenendurlaub zu nehmen.

62

Diese Antriebssteigerung am 24.01.1989 war von einer lediglich vorübergehenden Stimmungsaufhellung begleitet. Darauf hat nicht nur Frau Dr. ... hingewiesen (S. 31), dies ergibt sich bereits aus den oben zitierten Krankenunterlagen. Dr. ... hat aber auch ausgeführt (a.a.O.), daß die Patientin ihre Zukunft nicht nur euphorisch beurteilte, sondern sich an der Realität orientierte, so daß die Ärztin von einer stabileren Stimmungslage habe ausgehen können. Eine Antriebssteigerung vor der Stimmungsaufhellung bedeute jedoch auch immer eine suizidgefahrdete Phase bei Depressiven (S. 33).

63

In gewissem Gegensatz zu Prof. ... - dieser lediglich für den 24.01.1989 - will Dr. ... eine Antriebssteigerung bereits ab dem 21.01.1989 festgestellt haben (S. 22, 24, 30). Diese Antriebssteigerung ist aus den Krankenunterlagen kaum nachzuvollziehen. Für den 20./21.01. ist vom Pflegepersonal lediglich vermerkt, Frau ... sei schreiend aufgestanden, glaube verrückt zu werden und sei "richtig hysterisch" gewesen. Diese Notizen sowie der Umstand, daß die Patientin auch an anderen Tagen gejammert und geweint und bisweilen schlecht geschlafen hat, dürfte wohl weniger auf eine Antriebssteigerung zurückzuführen sein, als vielmehr ihre schwere Depression ausdrücken.

64

Prof. Dr. ... hat im schriftlichen Gutachten mitgeteilt, die von der Patientin am 24.01.1989 empfundene Antriebssteigerung hätte nachdenklich machen können; dieses Phänomen entspreche "lehrbuchmäßig" jener Situation, daß sich der Effekt aktivierender Antidepressiva zunächst in der Antriebsdynamik und erst dann in der Stimmungsaufhellung zeige, eine klassische suizidale Risikolage (S. 16). Andererseits hat der Sachverständige aber auch daraufhingewiesen, daß die beobachtete Antriebssteigerung wenig mit einem berechenbaren Suizidrisiko zu tun habe, da sie vorliegend von ganz kurzer Dauer gewesen sei; noch im Verlauf der Morgenstunden desselben Tages habe sich die Patientin wieder schlecht und depressiv gefühlt (S. 23). Diese erneute Stimmungsschwankung ist in den zitierten Aufzeichnungen des Pflegepersonals vermerkt. Prof. ... hat in seinen schriftlichen Äußerungen angemerkt, die Verordnung von "Fevarin" hätte, wenn überhaupt, die Verlegung der Patientin in ein abgesichertes klinisches Millieu erfordert (S. 16). Bei seiner mündlichen Anhörung hat er einerseits diese Ansicht wiederholt, andererseits aber eingeräumt, daß andere Kollegen durchaus das Medikament auch in der ambulanten Praxis verwenden. Ferner hat er bei dieser Gelegenheit seine Ansicht mitgeteilt, daß in der Tag- und Nacht-Klinik keine Fehler gemacht worden seien.

65

Vorliegend kann davon ausgegangen werden, daß Frau ... im Hinblick auf die antriebssteigernde Wirkung des Mittels beobachtet und beaufsichtigt worden ist. Unwidersprochen behauptet die Beklagte z.B., eine in der Psychiatrie erfahrene Nachtschwester habe in der Nacht vom 24. zum 25.01.1989 nicht nur mindestens dreimal bei Frau ins Zimmer geschaut, sondern die Patientin auch morgens gegen 05.00 Uhr anläßlich eines Toilettenganges noch einmal gesehen, wobei die Patientin unauffällig und freundlich gewirkt habe. Es kommt hinzu, daß Frau ... jedenfalls keine direkten Selbsttötungsabsichten geäußert hat, und zwar weder gegenüber der Ärztin noch gegenüber dem Pflegepersonal. Auch dieses Vorbringen der Beklagten ist unbestritten. Frau Dr. ... hat als Zeugin angegeben, die Patientin habe wohl latent vorhandene Suizidgedanken geäußert, aber nie irgendwelche Angaben zu konkreten Planungen gemacht; sie habe auch nie gesagt, daß sie nicht mehr leben wolle. Aus diesem Grund habe die Ärztin keine akute Suizidgefahr gesehen. Entsprechende Angaben finden sich bereits in einem Vermerk von Frau Dr. ... vom 19.01.1989 sowie dem abschließenden Arztbrief der Eheleute Dr. ... vom 26.01.1989.

66

Die Beklagte behauptet in der Berufungserwiderung, einige wissenschaftliche Untersuchungen würden belegen, daß die Suizidalität unter der Wirkung von "Fevarin" stärker abnehme als bei der Anwendung anderer Antidepressiva; "Fevarin" werde auch und gerade für die ambulante Behandlung empfohlen (bei der dann nur eine geringe Aufsicht gegeben sei). Auch bei Frau ... sei die Gabe des Mittels unbedenklich gewesen. Auf die Frage, ob diese Behauptungen eher zutreffen als die teilweise abweichenden Angaben von Prof. D. kommt es vorliegend nicht an.

67

Bei aller Problematik, die die Behandlung suizidgefahrdeter Patienten mit "Fevarin" beinhaltet, läßt sich vorliegend nicht feststellen, daß die Medikation ursächlich war für den Suizidversuch von Frau .... Darauf hat bereits Prof. ... bei der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens hingewiesen: Er könne nicht klar sagen, daß vorliegend eine andere Strategie zu anderen Ergebnissen geführt und den Suizidversuch verhindert hätte. Frau Dr. ... hat in diesem Zusammenhang hervorgehoben, daß die Patientin - diese hatte bereits seit ihrer am 17.01.1989 erfolgten Verlegung in die Tag- und Nacht-Klinik "Fevarin" erhalten - in den Tagen vor ihrem Suizidversuch die Nähe des Pflegepersonals gesucht und sich häufig im Dienstzimmer aufgehalten habe, wenn sie verzweifelt gewesen sei. Tendenzen, die ein Entlaufen der Patientin hätten befürchten lassen, seien nicht ersichtlich und damit eine unmittelbare Suizidgefährdung nicht vorhersehbar gewesen (S. 33). Die am Vormittag des 24.01.1989 beobachtete Antriebssteigerung war zudem nach kurzer Zeit wieder vorbei. Schließlich hat die Patientin die Nacht vor ihrem Entweichen ruhig verbracht und hat auf die erfahrene Nachtschwester noch morgens gegen 05.00 Uhr einen unauffälligen und freundlichen Eindruck gemacht.

68

Die Klägerinnen wären des ihnen obliegenden Beweises der Ursächlichkeit eines etwaigen Fehlverhaltens der Ärzte der Beklagten für den Suizidversuch von Frau ... nur enthoben, wenn die Verabreichung von "Fevarin" in der Tag- und Nacht-Klinik ein schwerer Behandlungsfehler gewesen wäre. Das Landgericht hat indessen zutreffend ausgeführt, daß ein grober Fehler insoweit jedenfalls nicht geschehen ist. Prof. ... hat bei aller Kritik an der Art und Weise der Anwendung des Mittels im vorliegenden Fall bei seiner mündlichen Anhörung eingeräumt, daß andere Kollegen "Fevarin" auch in der ambulanten Praxis verwenden. Auch er selbst habe dies ein Vierteljahr lang getan. Die Anwendung in der ambulanten Praxis bedeutet aber, daß der Patient noch weniger der ärztlichen Aufsicht unterliegt als in einer psychiatrischen Klinik. Unter diesen Umständen kann die Anwendung des Mittels in der Tag- und Nacht-Klinik nicht als "unverzeihlicher Mangel an Sachkunde" oder als "unverzeihlicher Starrsinn" der Ärzte und folglich nicht als grober Behandlungsfehler angesehen werden. Zu dieser Einschätzung trägt auch bei, daß die Äußerung von Prof. ... "Fevarin" werde bei überwiegend gehemmten Depressionen endogenen Gepräges eingesetzt, durch die Anwendungsbeschreibung in der Roten Liste nicht bestätigt wird. Nicht ohne Einfluß ist ferner der auch vom Landgericht verwendete Hinweis, ... sei abweichend von der Beurteilung der die Patientin behandelnden Ärzte von einer erheblichen Suizidgefährdung ausgegangen. Der Umfang dieser Gefährdung wird in aller Regel von den unmittelbar behandelnden Ärzten aufgrund ihres persönlichen Eindrucks über eine längere Zeit besser eingeschätzt werden können als von einem Sachverständigen, der lediglich nach Aktenlage urteilt. Auch Frau D. ist mit ausführlicher Begründung nur zu der Einschätzung eines "mittleren Basisrisikos" für die Suizidgefährdung von Frau ... gelangt (S. 25 f des Gutachtens). Auf diese Ausführungen ist Prof. ... in seinem schriftlichen Gutachten nur kurz eingegangen, so daß seine Beurteilung, das Basisrisiko für einen Suizidversuch sei offenbar unterschätzt worden (S. 22 f), nicht hinreichend überzeugen kann.

69

Die Gabe von "Fevarin" unter den Bedingungen der Tag- und Nacht-Klinik (statt Rückverlegung in die Psych. I oder III) war nach alledem jedenfalls kein grober Behandlungsfehler. Es bleibt daher Sache der Klägerinnen, die Ursächlichkeit dieser Behandlungsform für den Suizidversuch oder einen anderen ärztlichen Kunstfehler nachzuweisen. Das ist nicht geschehen.

70

7.

Eine Haftung der Beklagten unabhängig von der Beurteilung der "Fevarin"-Problematik ist auch nicht deshalb gegeben, weil das Klinikpersonal den Suizidversuch von Frau ... aus anderen Gründen hätte vorhersehen können. Derartige Gründe sich nicht ersichtlich.

71

Frau D. ist zu dem Ergebnis gelangt, daß der Suizidversuch aufgrund von Vorgeschichte, Basisrisiko und Krankheitsverlauf nicht vorhersehbar gewesen sei. Zwar sei Frau ... aufgrund ihrer Antriebssteigerung gefährdet gewesen. Auch wenn sich damit das Suizidrisiko erhöht habe, bedeutet das nicht, daß in jedem Fall die Verlegung der Patientin auf eine geschlossene Station notwendig gewesen wäre. Bei depressiven Patienten könne das Suizidrisiko mit letzter Sicherheit nie ausgeschlossen werden, auch wenn die notwendige Sorgfalt bei der Behandlung gewährleistet sei (S. 23 f). Eine unmittelbare Suizidgefährdung sei auch deshalb nicht vorhersehbar gewesen, weil die Patientin in den Tagen zuvor, wenn sie sich verzweifelt gefühlt habe, immer die Nähe des Pflegepersonals gesucht und sich häufig im Dienstzimmer aufgehalten habe (S. 33). Irgendwelche Anzeichen für eine drohende Gefahr gab es unmittelbar vor dem Entlaufen von Frau nicht. Die Patientin hatte die Nacht zum 25.01.1989 ruhig verbracht. Dr. Rasper hat aus diesem Grund auch angegeben, die Betreuung der Patientin sei ausreichend gewesen (S. 114).

72

Für die Gemütsverfassung von Frau ... war offenbar von gewissem Einfluß, daß ein für den 21./22.01. vorgesehener Wochenendbesuch bei ihrem Schwager nicht zustandegekommen ist. Dieser Umstand hatte nach Einschätzung von Prof. ... für den Selbsttötungsversuch aber keine Bedeutung, wie er schriftlich dargelegt hat (S. 18, 24). Zu der gleichen Beurteilung ist Frau D. gelangt mit der Begründung, zwischen den entscheidenden Telefongesprächen und dem Suizidversuch hätten mehrere Tage gelegen, an denen auch Gespräche mit der Ärztin stattgefunden hätten; ein kausaler Zusammenhang sei daher eher unwahrscheinlich (S. 24, 33).

73

Die Klägerinnen haben vor allem erstinstanzlich geltend gemacht, Mitursache für den Selbsttötungsversuch sei gewesen, daß die ärztliche Versorgung in der Tag- und Nacht-Klinik nicht ausreichend und insbesondere Frau D. am Nachmittag des 24.01.1989 für Frau nicht mehr erreichbar gewesen sei. Das Landgericht hat demgegenüber bereits darauf hingewiesen, daß die Klägerinnen selbst nicht behauptet hätten, daß die Patientin an jenem Nachmittag vergeblich versucht habe, ein Gespräch mit der Ärztin zu führen. Prof. ... hat in seinen mündlichen Ausführungen hinzugefügt, er könne nach den Unterlagen nicht feststellen, daß aus der Sicht der Patientin fehlende Gespräche mit der Ärztin Ursache ihres späteren Verhaltens gewesen seien.

74

Unter Berücksichtigung aller genannter Umstände erscheint die wiedergegebene Einschätzung von Dr. ... eine unmittelbare Suizidgefährdung sei nicht vorhersehbar gewesen (S. 33), zutreffend. Solange depressive Menschen lediglich latent Suizidgedanken äußern, besteht ohne weitere Anhaltspunkte keine Veranlassung zu besonderen Vorsichtsmaßnahmen im Hinblick auf eine mögliche Selbstgefährdung. Eine erkennbare Gefahr ist in diesem Fall nicht gegeben. Denn latente Selbsttötungsgedanken sind typisch für Depressive. Zusätzliche Umstände, die auf eine konkrete Gefahrenlage hingewiesen hätten, waren im vorliegenden Fall nicht gegeben. Frau ... hat trotz gelegentlich geäußerter Suizidgedanken z.B. noch am 23.01.1989 bei der Visite gesagt, daß sie eigentlich doch leben wolle; am 24.01.1989 hat sie mit Frau Dr. ... über Zukunftsplanungen gesprochen und dabei u.a. gesagt, sie freue sich schon wieder auf ihre Wohnung, in der sie sich wohlfühle.

75

Viele Umstände sprechen für eine spontane Entscheidung von Frau ... für ihren Suizidversuch. Bei ihrer Vernehmung durch die Polizei hat sie am 23.02.1989 erklärt, es sei eine "Kurzschlußhandlung" gewesen (StA Braunschweig 204 Js 10187/89). Der vernehmende Kriminalbeamte hat in seinem Vermerk über die Aussage allerdings auch aufgenommen, daß Frau ... "sich am Tage zuvor bei einem Spaziergang die Stelle am Bahnkörper ausgesucht" habe. Darin mag ein gewisser Widerspruch liegen. Die Patientin hat jedoch während ihres Aufenthalts in der Tag- und Nacht-Klinik häufig Spaziergänge unternommen und war am Vortag mitgegangen zum Schwimmbad die spätere Unglücksstelle liegt in der Nähe. Die Passage im Vermerk der Kriminalpolizei, Frau habe sich die Stelle "bei einem Spaziergang ... ausgesucht", muß daher nicht bedeuten, daß die Patienten ihren Tatentschluß so konkret bereits am Tag vorher oder noch früher gefaßt hatte. Dagegen spricht auch der kurze und flüchtig niedergeschriebene Abschiedsbrief ohne Datum. Weder dem Pflegepersonal noch der behandelnden Ärztin sind jedenfalls derartige Überlegungen - sollten sie denn tatsächlich bereits vorhanden gewesen sein - aufgefallen.

76

8.

Entgegen der von den Klägerinnen in der Senatsverhandlung geäußerten Anregung braucht das Erscheinen des Sachverständigen Prof. ... nicht angeordnet werden, damit dieser sein schriftliches Gutachten erneut mündlich erläutere (§ 411 Abs. 3 ZPO). Es trifft nicht zu, wie die Klägerinnen offenbar befürchten, daß Prof. ... seine Diagnose einer endogenen Depression nicht hinreichend mit Tatsachen unterlegt hätte. Auf die genaue terminologische Bezeichnung der Depression von Frau ..., die von den behandelnden Ärzten und den nachträglich mit der Anfertigung schriftlicher Gutachten oder Stellungnahmen betrauten Fachleuten teilweise etwas unterschiedlich vorgenommen worden ist, kommt es auch nicht entscheidend an. Prof. ... hat bei seiner mündlichen Anhörung selbst angegeben, es sei nicht wesentlich, ob man die Depression als eine endogene oder eine neurotische ansehe, dies sei mehr eine theoretische Frage.

77

Wichtig für die Beurteilung sei, daß es sich vorliegend um eine größere Depression gehandelt habe. Diesen von ... hervorgehobenen Umstand haben allerdings auch die Ärzte der Beklagten erkannt und ihre Behandlungsmaßnahmen darauf eingestellt. Sie haben Frau ... wie Prof. ... Im schriftlichen Gutachten angegeben hat (S. 21), wie eine Patientin mit einer endogenen Depression behandelt. Obwohl Prof. D. diese Behandlungsmaßnahmen in einzelnen Punkten kritisiert hat, hat er bei der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens angegeben, er könne nicht klar sagen, daß eine andere Strategie zu anderen Ergebnissen geführt und den tragischen Hergang verhindert hätte. Es spreche manches dafür, daß das Geschehen darauf beruhe, daß die Infusionsbehandlung zu früh abgebrochen und die Patientin zu früh in die Tag- und Nacht-Klinik verlegt worden sei ... hat aber eingeräumt, daß diese Annahme nur eine einfache Wahrscheinlichkeit darstelle. Eine größere Wahrscheinlichkeit könne er vorliegend nicht feststellen. Er meine, daß in der Tag- und Nacht-Klinik keine Fehler gemacht worden seien. Man könne auch in der Klinik Suizide einfach nicht restlos verhindern. Mit diesen Äußerungen hat der Sachverständige seine schriftlichen Angaben teilweise relativiert, und zwar auch wegen seiner für die weiteren Ausführungen im Gutachten bedeutsamen - aber unrichtigen - Annahme, bei der Tag- und Nacht-Klinik scheine es sich um eine offene sozial-psychiatrische Rehabilitationsstation mit einer gegenüber der Psych. III verminderten ärztlichen und krankenpflegerischen Betreuungsdichte zu handeln (S. 14). Diese Annahme beruhte auf einer unzutreffenden Kenntnis der tatsächlichen Gegebenheiten der Tag- und Nacht-Klinik der Beklagten. Dieser Umstand macht zugleich deutlich, daß gutachtliche Stellungnahmen ex post nicht selten mit gewissen Risiken behaftet sind. Die Behandlungsmethoden der unmittelbar tätigen Ärzte, die aufgrund des persönlichen Umgangs mit den Patienten über einen längeren Zeitraum und jeweils nach gewissenhafter Prüfung erfolgen, erscheinen demgegenüber zumeist jedenfalls vertretbar und können dann nachträglich nicht als fehlerhaft bezeichnet werden. Das gilt vor allem in dem Fachgebiet der Psychiatrie, bei dem die Erhebung objektiver Befunde oft kaum möglich ist.

78

Wenn der Senat einige Äußerungen von Prof. ... somit etwas kritisch beurteilt, dann liegt das nicht daran, daß der Sachverständige seine Annahmen nicht durch Tatsachen belegt hätte. Seine Bemerkungen sind in Einzelpunkten vielmehr nicht immer ganz widerspruchsfrei. Wenn man sie im Zusammenhang liest, ergibt sich bisweilen eine andere Beurteilung. Im Ergebnis hat auch Prof. ... eingeräumt, daß er nicht mit größerer Wahrscheinlichkeit einen Ursachenzusammenhang zwischen den Behandlungsmethoden und dem tragischen Geschehen feststellen könne.

79

Unabhängig davon, daß die schriftlichen Ausführungen des Gutachters von einer unrichtigen Vorstellung über die Organisation und die Aufgaben der Tag- und Nacht-Klinik beeinflußt waren, ist auch die weitere Annahme im schriftlichen Gutachten (S. 13) unzutreffend, die Umstellung der Medikation von "Ludiomil" hänge wahrscheinlich mit institutionellen Gründen zusammen, da die Patientin zu dieser Zeit von Psych. I auf Psych. III verlegt worden sei. Es ist unstreitig, daß Infusionsbehandlungen nicht nur auf der geschlossenen Station möglich waren, sondern selbst in der Tag- und Nacht-Klinik. Nicht ganz nachvollziehbar erscheint auch die Mitteilung, das Mittel "Fevarin" werde bei überwiegend gehemmten Depressionen endogenen Gepräges eingesetzt (S. 14 des schriftlichen Gutachtens); in der Roten Liste sind als Anwendungsbereich sowohl endogene als auch neurotische und reaktive Depressionen angegeben.

80

Nach alledem sind in den gutachtlichen Äußerungen von Prof. ... keine Zweifel oder Unklarheiten enthalten, die im Rahmen einer wiederholten mündlichen Anhörung beseitigt werden müßten. Nach pflichtgemäßem Ermessen hält der Senat das Erscheinen des Sachverständigen nicht für erforderlich. Der Sachverständige hat gegenüber dem Landgericht seine schriftlichen Ausführungen, soweit sie zu mündlichen Erläuterungen Veranlassung geben konnten, hinreichend deutlich ergänzt.

81

9.

Die Berufung war daher mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen. Die weiteren Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 708 Nr. 10, 711, 546 Abs. 2 ZPO.