Oberlandesgericht Braunschweig
Urt. v. 14.02.1984, Az.: 5 U 26/82

Pflichtverletzung und Selbstgefährdung einer Patientin; Zurückweisung des verspäteten Vorbringens

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
14.02.1984
Aktenzeichen
5 U 26/82
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1984, 16621
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:1984:0214.5U26.82.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Braunschweig - 11.03.1982 - AZ: 4 O 626/81

Fundstelle

  • VersR 1985, 576-577 (Volltext mit red. LS)

Verfahrensgegenstand

Schadensersatz aus übergegangenem Recht

In dem Rechtsstreit
hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig auf
die mündliche Verhandlung
vom 6. Dezember 1983
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... und
die Richter am Oberlandesgericht ... und ...
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der 4. Zivilkammer des ... Braunschweig vom 11. März 1982 abgeändert.

Die Klage ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

Zur Entscheidung über die Höhe des Anspruchs wird der Rechtsstreit an das Landgericht zurückverwiesen, das auch über die Kosten der Berufung zu entscheiden hat.

Der Wert der Beschwer der Beklagten beträgt über 100.000,- DM.

Tatbestand

1

Die Klägerin ist Krankenversicherer der am 9.3.1940 geborenen früheren Kassiererin ... Sie macht gegen die Beklagte, die Träger des Krankenhauses ... ist, Schadensersatzansprüche aus übergegangenem Recht (§ 1542 RVO) geltend.

2

Frau ... wurde am 22.5.1979 auf eigenen Wunsch im Krankenhaus ... aufgenommen. Sie hatte dem Pförtner erklärt, Tabletten eingenommen zu haben, und wurde zur Intensivstation geschickt. Sie gelangte auf die Augenstation II und wurde dort von der Schwester auf dem Boden liegend vorgefunden. Sie wurde dann in die Intensivstation verbracht. Dort verneinte sie eine Tabletteneinnahme; sie erzählte, ihre Schwester habe sie vergiftet, leugnete dies aber sofort wieder und sagte, ihr sei von der Firma vorgeworfen worden, sie habe Geld gestohlen, ihr sei gekündigt worden. Bei einem Telefongespräch teilte ihre Schwester dem behandelnden Arzt der Intensivstation mit, sie äußere seit 14 Tagen eine Angst vor Verfolgung durch Terroristen und das Wissen, daß ihre Familie aus ... fortziehe, daß ihr Telefon angezapft sei und daß sie in ihren Chef verliebt sei, dieser aber nichts von ihr wissen wolle. Daraufhin wurde sie gegen 20.00 Uhr in die (offene) neurologisch-psychiatrische Abteilung der Krankenanstalt verlegt. Sie wurde von dem diensthabenden Arzt ... befragt sowie körperlich und psychiatrisch untersucht. ... diagnostizierte eine paranoid-halluzunatorische Psychose mit Störungen im effektiven Bereich. Frau ... wurde medikamentös behandelt und, da alle Zimmer der Station belegt waren, in ein Bett auf dem Stationsflur gelegt.

3

Gegen 23.20 Uhr verließ Frau ... die Station durch ein Fenster. Sie gelangte auf das Flachdach eines Gebäudes und sprang von dort mehrere Meter in die Tiefe. Sie erlitt einen komplizierten Fersenbeinbruch, der langwierige stationäre und ambulante Behandlungen erforderte; Folgeerscheinungen bestehen fort. - Über den Geschehensablauf bis zum Eintritt des Unfalls, insbesondere über den Unfallort, bieten die Parteien verschiedene Darstellungen.

4

Die Klägerin wirft der Beklagten eine Pflichtverletzung vor, weil sie mit einer Selbstgefährdung der Patientin habe rechnen und ihr Entweichen aus der Station deshalb hätte verhindern müssen. Sie hat geltend gemacht, die Patientin hätte ständig überwacht werden müssen; die bloße medikamentöse Behandlung sei unzureichend gewesen.

5

Die Klägerin hat beantragt,

  1. 1.)

    die Beklagte zu verurteilen, an sie 78.288,82 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 1.12.1980 zu zahlen.

  2. 2.)

    festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet sei, ihr einen zukünftigen Schaden zu ersetzen, der ihr im Zusammenhang mit der Verletzung des Mitgliedes ... aus Anlaß des Vorfalls vom 22.5.1979 entsteht.

6

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

7

Sie hat sich darauf berufen, daß bei der (ersten) Untersuchung der Patientin durch Herrn ... kein Anhaltspunkt für eine Suizidgefährdung vorgelegen habe, und vorgebracht: Auf einer offenen Abteilung könne ein Entweichen von Patienten nicht in allen Fällen verhindert werden. Die Betreuung und Beobachtung der Patientin ... sei so optimal wie möglich gewährleistet gewesen. Die Unterbringung auf dem Flur sei sogar von Vorteil gewesen, weil dadurch eine bessere Überwachung als in einem Krankenzimmer möglich gewesen sei.

8

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es in seinem Urteil vom 11.3.1982 ausgeführt:

9

Der Beklagten könne die Unterlassung einer Fürsorge- oder Sorgfaltspflicht nicht vorgeworfen werden. Für die behandelnden Ärzte habe kein Anhaltspunkt vorgelegen, der auf eine Selbstgefährdung der Patientin hingedeutet habe. Sie habe selbst den Wunsch geäußert, auf der offenen psychiatrischen Station behandelt zu werden. Die Ärzte hätten deshalb darauf vertrauen dürfen, das Frau ... sich selbst noch habe steuern und die Tragweite ihres Handelns habe überblicken können. Überdies sei mit der medikamentösen Behandlung sofort begonnen und die Patientin so zur Ruhe gebracht worden. Für die Unterbringung in einem verschlossenen Raum bestehe in einer offenen psychiatrischen Abteilung kein Anlaß. Vielmehr sei im Falle der Feststellung einer Selbstgefährdung die Verlegung in eine geschlossene Abteilung zu veranlassen. Das von der Unterbringung ausgegangen sei, sei nicht erkennbar.

10

Gegen das am 15.3.1982 zugestellte Urteil des Landgerichts hat die Klägerin am 14.4.1982 Berufung eingelegt (Blatt 51 d.A.), die sie nach Verlängerung der Frist bis zum 14.6.1982 (Blatt 59 d.A.) an diesem Tage begründet hat (Blatt 61 d.A.).

11

Die Berufung der Klägerin bringt unter Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vorbringens ergänzend vor:

12

Frau ... habe in den Wochen vor dem Unfallgeschehen ein eigentümliches Verhalten gezeigt, habe Stimmen gehört und sich verfolgt gefühlt. Insbesonders sei sie am Arbeitsplatz in Weinkrämpfe ausgebrochen, Erklärungen dafür hätten sich als Wahnvorstellungen erwiesen. Am 16.5.1979 habe sie das Arbeitsverhältnis gekündigt und anschließend einen "Telefonkrieg" mit zahlreichen Arbeitskollegen und dem Chef begonnen, habe sie in der Folgezeit auch bedroht. Am 22.5.1979 sei sie bei ihrer Schwester erschienen, um deren Ehemann zum Geburtstag zu gratulieren. Sie sei verwirrt und völlig desorientiert gewesen. Gegen 16.30 Uhr habe sie ihren Ehemann auf dessen Arbeitsstelle angerufen und ihm mitgeteilt, sie höre schlimme Stimmen und fühle sich von Terroristen verfolgt. Dieses Verhalten sei dem diensthabenden Arzt ... aus einem jedenfalls mit dem Ehemann der Patientin geführten Telefongespräch bekannt gewesen. Ihm seien konkrete Anhaltspunkte auf eine Selbstgefährdung der Patientin aufgezeigt worden. Er selbst habe in der Krankengeschichte einen deutlichen Hinweis auf eine Suizidgefahr festgehalten.

13

Die Klägerin wiederholt ihren in erster Instanz gestellten Zahlungsantrag und kleidet den Feststellungsantrag nunmehr in die Form:

14

festzustellen, daß die Beklagten verpflichtet ist, ihr alle Aufwendungen zu erstatten, die ihr als gesetzlicher Krankenversicherung der am 9.3.1940 geborenen ... aus Anlaß des Schadensfalles vom 22.5.1978 zukünftig noch erwachsen können.

15

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

16

Sie verteidigt unter Heranziehung der Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm VersR 1983, 43 (= Blatt 116 d.A.) das landgerichtliche Urteil und entgegnet:

17

Die Aufnahme in eine offene Abteilung stelle weniger strenge Anforderungen als die Aufnahme in einer geschlossenen Abteilung, die im Krankenhaus Salzdahlumer Straße nicht zur Verfügung stehe, sondern nur im - entfernungsmäßig gesehen nächst liegenden - Niedersächsischen Landeskrankenhaus ... Der Gesundheitszustand von Frau ... sei bei ihrer Aufnahme in die neurologisch-psychiatrische Abteilung, wie dies Herr ... in seinem Ärztebericht auch festgeschrieben habe, so geordnet gewesen, daß sie aus freier Willensbestimmung eine Behandlung auf der offenen psychiatrischen Station habe zustimmen können. Irgendwelche Anhaltspunkte für etwaige Suizidabsichten hätten dementsprechend nicht vorgelegen oder seien nicht erkennbar gewesen, zumal da Frau ... nach Beginn der medikamentösen Therapie unauffällig gewesen sei und ruhig geschlafen habe. Die fernmündliche Unterredung ... mit dem Ehemann der Patientin habe seine Diagnose einer paranoid-halluzinatorischen Psychose nur bestätigt; Hinweise auf mögliche Selbstmordabsichten seien auch von dem Ehemann der Patientin oder einem sonstigen Verwandten nicht gegeben worden. In der Abteilung sei die Patientin in unmittelbarer Nähe des Zimmers der Nachtschwester, die direkten Sichtkontakt gehabt habe, untergebracht gewesen. - Eine Verletzung ihrer Verkehrtssicherungspflicht, die der Senat angesprochen habe (Beschluß vom 16.3.1983, Blatt 127 bis 130 d.A.), sei nicht erkennbar.

18

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf den vorgetragenen Inhalt der unter den Parteien gewechselten zweitinstanzlichen Schriftsätzen sowie auf die Sitzungsniederschriften des Senats vom 10.3.1983 (Blatt 118 bis 120 d.A.) und vom 6.12.1983 (Blatt 159 bis 164 d.A.) Bezug genommen.

19

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einnahme des Augenscheins in die Örtlichkeiten der Krankenanstalt und die Unfallstelle sowie durch Vernehmung der Zeugen Frau ..., Krankenschwester ... und Krankenpfleger ... Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die genannten Sitzungsniederschriften des Senats verwiesen.

20

Die Krankengeschichte lag vor.

Entscheidungsgründe

21

Die Berufung ist zulässig. Sie ist (zunächst) dahin begründet, daß die Haftung der Beklagten dem Grunde nach festzustellen ist. Hierüber war vorab durch Zwischenurteil zu erkennen (§ 304 Abs. 1 ZPO).

22

1.)

Auf der Grundlage des Ergebnisses der Beweisaufnahme des Senats ist, insbesondere entgegen der ursprünglichen Sachdarstellung der Beklagten, von folgenden tatsächlichen Geschehensablauf auszugehen.

23

a)

Der behandelnde Arzt ... kam nach der körperlichen und psychiatrischen Untersuchung von Frau ... unter Berücksichtigung des Vorgeschehens vom Eintreffen der Patientin beim Pförtner der Krankenanstalt an bis zur Übernahme in die neurologisch-psychiatrische Abteilung aufgrund des dabei gewonnen Gesamteindrucks zu der Diagnose, daß die Patientin wach und richtig orientiert war und wußte, wo sie sich örtlich befand. Gleichwohl schloß er aus den übergebenen Unterlagen, daß bei ihr eine Art Verfolgungswahn entstanden war. Die von Herrn ... berücksichtigten erkennbaren Fakten führten sodann zu seinem Schluß auf eine Psychose mit wahnhaften Gedanken, boten ihm indessen keine hinreichenden Anhaltspunkte auf eine konkrete Suizidgefährdung. Einer Konfrontation mit ihrem Vorverhalten wich Frau ... aus und wirkte zu diesem Zeitpunkt auffällig schauspielernd, etwas kokettierend und insgesamt simulierend. Sie war gleichwohl behandlungsbereit und verhielt sich kooperativ. Dies steht nach der Aussage des Zeugen ... fest, deren Richtigkeit auch die Beklagte in der mündlichen Verhandlung des Senats vom 6.12.1983 aufgrund des von dem Zeugen gewonnen Eindrucks in ihrer Richtigkeit nicht angezweifelt wird.

24

Zum Zeitpunkt dieser Aufnahmeuntersuchung und Diagnose war Herrn ... das Verhalten der Patientin in der Zeit vor der Aufnahme in der Krankenanstalt, also vor dem 22.5.1979, im einzelnen noch nicht bekannt. Informationen von der Familie der Patientin, insbesondere ihrem Ehemann, hatte ... entgegen der Behauptung der Klägerin vor oder bei der Aufnahmeuntersuchung direkt nicht bekommen. Ein Gespräch mit dem Ehemann der Patientin kam erst am späten Abend zustande, nachdem der Unfall sich bereits ereignet hatte. Aus solchen Fremdangaben konnte Herr ... folglich zum Zeitpunkt der Aufnahmeuntersuchung nicht auf eine Suizidgefährdung schließen. Dies findet seine Bestätigung in der Krankengeschichte, in der es für den Zeitpunkt der "Untersuchung" (d.h. der Aufnahmeuntersuchung) heißt: "Suizidgedanken kamen nicht zum Ausdruck, sie wirkt ruhig, genau überlegend, was sie sagt." Demgegenüber heißt es in der Krankengeschichte unter dem Stichwort "Verlauf" für die Zeit nach dem Unfall: "Psychopatologisch deutlich gespannt, finster-drohend blickend, wortkarg, gelegentlich murmelnde Hinweise auf Suizidabsichten, die vor dem Arzt jedoch kaschiert und zurückgehalten werden." Folglich hat sich Herr ..., wie er bei seiner Vernehmung auch bestätigt hat, erst in der Zeit nach dem Unfall der Eindruck vermittelt, "daß bei mangelnder Auskunftsbereitschaft der Patientin Suizidabsichten unterstellt und auch ernst genommen werden müssen."

25

In der Zeit nach der Aufnahme der Patientin in der neurologisch-psychiatrischen Abteilung, jedenfalls aber vor 21.00 Uhr, waren aber Anhaltspunkte dafür aufgetreten, daß es die Patientin drängte, die Station zu verlassen. Dies steht aufgrund der Aussage der Zeugin Krankenschwester ... die ab 21.00 Uhr den Nachtdienst übernahm, fest. Sie hat bekundet, sie sei "sehr hellhörig gewesen und habe auf Geräusche mit besonderer Aufmerksamkeit zu achten versucht, weil die Patientin fluchtverdächtig war"; die Patientin habe gedrängt "nach Hause zu kommen." Dies war ihr vom Spätdienst mitgeteilt worden, wie sie selbst bekundet hat, und auch aus der Aussage des Zeugen ... folgt, der angegeben hat, Frau ... sei bei Antritt ihres Dienstes ein "Tip gegeben worden, daß sie die Patientin im Auge behalten möge."

26

b)

Die Patientin war im Bette liegend auf dem Gang der Station, der eine Länge von etwa 30 m und eine Breite von etwa 2 m aufweist, abgestellt worden. Von der Stationseingangstür gesehen linksseitig gelegen befand sich das Schwesterzimmer. Die Entfernung zwischen Stationseingangstür und Schwesterzimmer betrug etwa 25 m. Entweder an der Wand vor diesem Schwesterzimmer oder an der Wand vor dem daran anschließenden, in dem zu den Akten gereichten Lageplan (Blatt 122 d.A.) als Zimmer 5 bezeichneten Zimmer, oder aber diesem Zimmer schräg gegenüber auf der anderen Seite des Ganges war das Bett abgestellt. Am Ende des Ganges, hinter der Abzweigung eines nach rechts führenden weiteren Ganges gelegen, führt eine Tür nach rechts in einen Toilettenraum, bestehend aus zwei Kabinen, eine auf der rechten, die andere auf der linken Seite befindlich. Auf der linksseitig gelegenen Kabine führt ein 2,50 m hohes, 1,40 m breites mit Doppelflügeln versehenes geteiltes Fenster nach außen in den Patientenpark. Der untere Teil des Fensters, 90 cm hoch, 1,10 cm über dem Fußboden gelegen, ist nach außen hin zu öffnen. Nach den Erklärungen der Beklagten ist die Patientin durch dieses Fenster in den Patientenpark entwichen; ein anderer Fluchtweg hat sich nach den bei der Augenscheinseinnahme gewonnenen Erkenntnissen nicht feststellen lassen.

27

Seit Beginn des Nachtdienstes um 21.00 Uhr und damit auch zur Zeit des Entweichens der Patientin tat die Krankenschwester ... auf der Abteilung der Frauenstation allein Dienst, der Zeuge ... betreute die Männerstation. Frau ... hielt sich um 23.20 Uhr nicht im Schwesterzimmer, sondern in einem außerhalb des Stationsganges gelegenen anderen Dienstzimmer auf. Der Zugang zu diesem Dienstzimmer wird vom Stationsgang durch eine Schwingtür abgeschlossen. Die Entfernung zwischen Schwingtür (Stationseingangstür) bis zum Bett der Patientin beträgt nach den vom Senat vorgenommenen, bereits dargetanen Abmessungen bei einer festgestellten Gesamtlänge des Ganges bei 30 m um 25 m, die Entfernung zwischen dem im Bereich vor der Schwingtür gelegenen Dienstraum und dem Bett war demzufolge um einige Meter größer. In dem Dienstzimmer waren die Zeugen Frau ... und ... damit beschäftigt, Tröpfe zu machen und Schränke einzuordnen. Die Schwingtür zum Stationsgang hatte Frau ... offengehalten. Bei dieser Arbeit vernahm sie ein Geräusch, wie wenn eine Tür geöffnet oder geschlossen und ein Fenster "aufgekrackelt" werde. In Kenntnis der Fluchtabsichten der Patientin eilte sie in den Stationsgang und stellte fest, daß Frau ... die Station durch das zuvor geschlossene, jetzt aber offenstehende Fenster des Toilettenraumes verlassen hatte.

28

c)

Frau ... kam durch den Patientenpark über eine im näheren nicht festzustellende Wegstrecke in den Bereich vor der Eingangstür des Klinikgebäudes der neurologisch-psychiatrischen Abteilung. Von hier aus gelangte sie - wie sie den vorher beschrittenen Weg auch immer zurückgelegt hatte - über eine etwa 20 m breite Rasenfläche, die heute zur vor dem Gebäudetrakt entlang führenden Straße hin durch einen etwa 60 cm hohen einfachen Holzlattenzaun abgeschlossen ist und zur Zeit des Unfallgeschehens durch eine nach der Schilderung des Zeugen ... "versammelte Umzäunung aus einer Zeit noch vor dem Kriege" abgegrenzt war, unter übersteigen der Umzäunung oder Benutzung einer Öffnung zwischen Straße und Rasenfläche in der Umzäunung zu dem Zugang eines Ganges. Dieser Gang führte über fünf Holzstufen in einen beidseitig mit einem Geländer versehenen brückenartigen Übergang, der in einen weiteren Quergang mündet, der sie dem Gebäude der Neurologie und Psychiatrie gegenüberliegenden Bauwerke des Schwesternhauses und des Personalhauses verbindet. Dieser Übergang ist über den mit einem Flachdach versehenen, zwischen dem Schwesternhaus und dem Personalhaus gelegenen Küchentrakt gebaut. Das an beiden Seiten des Überganges angebrachte Gelände hat vom Bretterboden des Ganges aus gemessen eine Höhe von 89 cm. Es handelt sich um Vierkanteisengeländer, die von Querstreben unterstellt werden, die sich 42 cm über dem Bretterboden des Ganges befinden. Der Zugang ist nunmehr durch eine absperrende Einrichtung verschlossen gehalten, war zum Zeitpunkt des Unfalls aber frei zugänglich, was von der Beklagten bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung des Senats auch nicht angezweifelt worden ist. Frau ... überstieg das Geländer des Überganges und gelangte auf das Flachdach des Küchentraktes. Der Küchentrakt grenzt an einen gepflasterten Fußweg, der an die am Schwestern- und Personalhaus entlangführenden Straße angrenzt.

29

Der Zeuge ..., der, die Patientin suchend, in Richtung Küchentrakt gelaufen war, entdeckte sie von der unten gelegenen Straße, als sie das Gelände zum Flachdach hin überstieg. Er sprach sie an, um sie von der weiteren Flucht abzubringen. Sie erklärte ihm sinngemäß, daß er sie daran nicht hindern könne, sie wolle sich umbringen, und vollendete das Übersteigen des Geländers. Sie überquerte das leicht abschüssige Flachdach in einer Breite ab Übergang gerechnet von 5,45 m. Sie trat an den Rand des Flachdachs und sprang über eine Differenz von 3,05 m nach unten auf den Fußweg. Sie schlug vor dem in den Küchentrakt führenden Torbogen auf und zog sich einen Trümmerbruch am rechten Fersenbein zu.

30

2.)

Bei dieser Sachlage ist die Beklagte der Klägerin aus übergegangenem Recht ersatzpflichtig.

31

a)

Die Beklagte haftet aus einer positiven Verletzung des Krankenhausvertrages.

32

In diesem Zusammenhang kann die unter den Parteien besonders hervorgehobene Streitfrage dahinstehen, welche Anforderungen an die Sorgfaltspflicht des Personals einer psychiatrischen Klinik bei der Unterbringung und Überwachung eines Patienten zu verlangen ist, der selbstmordgefährdet ist. Der Beklagten ist zuzugeben, daß nach den Erkenntnissen, die der aufnehmende Arzt ... gewonnen hatte, kaum von einer erkennbaren Suizidgefahr der Patientin ... zum Zeitpunkt vor dem Unfall ausgegangen werden kann. Insofern kommt auch der von der Beklagten angezogenen Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm für den vorliegenden Fall keine streitentscheidende Bedeutung zu. Eine Auseinandersetzung mit dieser unter dem Gesichtspunkt bereits feststehender Suizidgefahr ergangenen Entscheidung, die nicht zur Revision angenommen ist, erübrigt sich damit.

33

Die Beklagte haftet aus anderem Grunde aus einer Vertragsverletzung. Durch den Krankenhaus-Aufnahmevertrag hat sie die Verpflichtung übernommen, die zur Heilung, Pflegung und Wartung der Patientin ... erforderlichen Leistungen zu erbringen, sie vor vermeidbaren Gefahren zu schützen und alles zu lassen, was diesem Ziel abträglich sein könnte (BGH NJW 1957, 709 Nr. 4, VersR 1954, 290). Zur vertragsgerechten Erfüllung dieses Vertrages gehörte auch eine den Umständen genügende Kontrolle der Patientin.

34

Die Patientin ... ist nicht hinreichend überwacht worden. Dadurch wurde ihr das Entweichen aus dem Krankengebäude ermöglicht und eine adäquate Bedingung für ihre Verletzung gesetzt. Der Zeugin ..., der die Überwachung der Patientin oblag, war bekannt, daß Frau ... beabsichtigte, aus der Station zu flüchten. Hieran besteht nach ihrer eigenen Bekundung und der Aussage des Zeugen ... kein Zweifel. Frau ... war folglich in besonderer Weise zu überwachen, um sie am Verlassen der Klinik zu hindern. Frau ... versuchte deshalb, so ihre Erklärung, "die Patientin ständig im Auge zu behalten". Dabei war und wurde sie einmal wegen der räumlichen Verhältnisse, zum anderen auch wegen der Arbeiten, die sie nebenbei an einem Ort außerhalb des Stationsganges auszuführen hatte, jedenfalls aber im Zusammenwirken der Ursachen überfordert. Eine hinreichende Überwachung wäre nur dann gewährleistet gewesen, wenn sich die Krankenschwester unfern der Patientin, jedenfalls aber an einem Ort aufgehalten hätte, von dem aus sie die Patientin tatsächlich jederzeit hätte im Auge behalten können. Möglicherweise wäre dies gewährleistet gewesen, wenn sie sich im am Stationsgang befindlichen Schwesternzimmer, also in knapper Entfernung von der Patientin, aufgehalten hätte, wie die Beklagte zunächst behauptet hat. Dies war indessen nicht der Fall. Wegen anderer zu verrichtender Arbeiten mußte sie sich im außerhalb des Flures der Frauenstation gelegenen Dienstzimmer aufhalten. Von hier aus hatte sie trotz der offen stehenden Schwingtür keinen direkten Einblick in den Stationsgang, in dem das Bett der Patientin abgestellt war. Von hier aus war die Patientin nicht sofort erreichbar. Die Krankenschwester mußte, nachdem sie verdächtige Geräusche vernommen hatte, ihre Arbeit einstellen, aus dem Dienstzimmer eilen und, wie aufgrund der Augenscheinseinnahme des Senats ohne Zweifel angenommen werden kann, einen Weg von jedenfalls 30 m, wahrscheinlich sogar mehr, zurücklegen, um das Bett zu erreichen, und einen noch längeren Weg, um in den Toilettenraum zu gelangen, durch den die Patientin entwich, während die Patientin ... von ihrem Bett zu dem Toilettenraum nur etwa 5 m und damit nur wenige Schritte zurücklegen mußte. Bei der nach der Diagnose des Zeugen ... unter einem Verfolgungswahn stehenden Patientin, ihrem damit verbundenen, dem Personal bekannten, Drang zu fliehen und der dadurch bedingten Unberechenbarkeit ihrer Handlungen, die im Wesen der Erkrankung lagen, waren diese äußeren Voraussetzungen äußerst ungünstig, um die hinreichende Überwachung und Kontrolle der Patientin zu gewährleisten. Wie durch den Tathergang auch belegt wird, konnte die Patientin unbemerkt und ungehindert das Bett verlassen, einen nach außen führenden Ausgang erreichen und ihn überwinden, bevor es der Krankenschwester auch nur im Ansatz gewesen wäre, geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

35

An diesem Ergebnis ändert sich, was die Haftung der Beklagten angeht, nichts dadurch, daß die Krankenschwester in der offenen Abteilung - wie wohl üblich - Nebenbeschäftigungen in dem hinter der Frauenstation liegenden Dienstzimmer zu verrichten hatte. Hierdurch wird die Beklagte nicht entlastet. Denn es wäre Aufgabe ihrer mit der Krankenhausverwaltung befaßten Organe gewesen, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, daß die beauftragte Krankenschwester in der sich ergebenden Situation, die sich nach Sachlage wegen der bestehenden Fluchtabsicht der Patientin schon bei Beginn des Nachtdienstes abgezeichnet hatte, nicht überfordert wurde. Insoweit ist die Beklagte auch wegen Verschuldens ihrer Organe nach §§ 31, 89, 276 BGB vertraglich zum Schadensersatz verpflichtet.

36

Auch der Umstand, daß die Patientin - medikamentös behandelt - zunächst schlief oder von der Krankenschwester als schlafend angesehen wurde oder angesehen werden konnte, eine Gefahrenlage von der Krankenschwester also nicht gesehen wurde, schließt die Haftung der Beklagten nicht aus. Es liegt auf der Hand, daß unter Wahnvorstellungen leidende Patientin, aus dem Schlaf erwachend, unter einem Fluchtdrang stehend unvermittelt reagieren, oder auch, sich schlafend stellend das Pflegepersonal zu täuschen verstehen. Es bedarf auch keiner besonderen Begründung, daß unschwer zu öffnende Türen und Fenster eines Erdgeschoß liegenden Zimmers für jemanden, der den Drang hat zu fliehen, gerade im unbeobachteten Augenblick einen Anreiz zum Handeln bieten, um sich der Kontrolle und um weiteren Krankenhausaufenthalt zu entziehen.

37

b)

Die Beklagte haftet im übrigen, weil sie die ihr obliegende Verkehrssicherungspflicht verletzt und dadurch die Körperverletzung der Patientin ... verschuldet hat (§ 823 BGB).

38

Die Beklagte hat ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt, weil sie den Zugang zu dem brückenartigen Übergang, der in den Quergang mündet, der die Gebäude des Schwesternhauses und des Personalhauses verbindet, nicht verschlossen hielt. So war es der Patientin ... in ihrem Fluchtdrang unschwer möglich, das zur Straße hin ungesicherte Flachdach über dem Küchentrakt zu erreichen. Der Senat hat bei der von ihm durchgeführten zweifachen Augenscheinseinnahme festgestellt, daß es ohne jede Schwierigkeit möglich ist, diesen Zugang über die davor liegende Rasenfläche zu erreichen. Der jetzt vorhandene 60 cm hohe Bretterzaun ist leicht zu übersteigen. Dies galt auch für die zum Unfallszeitpunkt vorhandene "vergammelte" Einzäunung, wie der Darstellung des Zeugen ... entnommen werden muß, denn sie war nicht höher. Im übrigen wies diese Einzäunung, wie auch die jetzige neue Umzäunung, nach den Aussagen des Zeugen ..., die ihre Bestätigung findet in den an Ort und Stelle abgegebenen Erklärungen des Chefarztes der Beklagten, Professor ..., eine Lücke auf, über die der Zugang über einen (jetzt sogar mit Platten versehenen) Gehweg zu erreichen war. Auch das beidseitig an diesem Verbindungsgang angebrachte Geländer stellte keine wirksame Schranke gegenüber der vom Fluchtdrang getriebenen Patientin ... dar. Ein Geländer, das eine Höhe von 80 cm hat, stellt für den geistig verwirrten Patienten bei der Unberechenbarkeit seiner Handlungen einen wirksamen und ausreichenden Schutz nicht dar, zumal dann nicht, wenn es ihm - auf die in einer Höhe von 42 cm laufenden Querstreben tretend - leicht gemacht wird, das Geländer zu übersteigen und das Flachdach zu betreten. Das Flachdach, unweit der neurologisch-psychiatrischen Abteilung gelegen und ohne größere Schwierigkeiten erreichbar, stellte in der konkreten Fluchtsituation für die Patientin ... eine besondere Gefahrenstelle dar. Für diese Gefahrenquelle hat die Klägerin einzustehen, weil sie durch die Eröffnung der Krankenanstalt und die freie Zugänglichkeit des Überganges den gefährlichen Zustand herbeigeführt hat.

39

Der Haftung der Beklagten unter diesem Gesichtspunkt steht nicht entgegen, daß die Patientin den Gefahrenbereich unbefugt betreten hat. Denn mit einem solchen Verhalten verwirrter Personen hat die Beklagte zu rechnen und es zu verhindern. Die Beklagte hat Inhalt und Umfang ihrer Verkehrssicherungspflicht nicht an allgemein üblichen Anforderungen, sondern an den Belangen auszurichten, die der besondere Schutz des gefährdeten, geistig verwirrten Personenkreises erfordert. Ihre Verkehrssicherungspflicht wird damit gesteigert, eine besondere Überprüfung des Geländes auf Gefahrenquellen für den genannten Personenkreis mußte ihr abverlangt werden. Dies war ihr auch zumutbar. Der Schutz und die Sicherung der Patienten machten es ihr zur Pflicht, nicht nur die Zuwege selbst verkehrssicher auszugestalten und zu erhalten, sondern auch schlechthin überhaupt keine Wege oder Anlagen zu eröffnen oder zu dulden, von denen Gefährdungen für die Patienten ausgingen.

40

Soweit die Beklagte in ihrem nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 13.1.1984 anführt, die Patientin ... habe nach Verlassen des Klinikgebäudes bis zur späteren Unfallstelle etwa 100 bis 150 m zurückzulegen gehabt, bis dahin habe sie zum Teil wegloses Gelände überquert und drei Hindernisse überwinden müssen, die sie teilweise erst habe beseitigen müssen, mag dies in der Länge der behaupteten Strecke, die die Patientin zurückgelegt haben soll, stimmen. Die Länge des zurückgelegten Weges vom Verlassen des Klinikgebäudes aus dem Fenster bis zum Erreichen der Unfallstelle ist indessen, was Inhalt und Umfang der Verkehrssicherungspflicht der Beklagten, bezogen auf die konkrete Gefahrenstelle, angeht, ohne Belang. Entscheidend ist, daß nach den örtlichen Verhältnissen eine besondere Gefahr für die Patientin ... gesetzt war, weil sie den Verbindungsgang über das Flachdach ungehindert betreten konnte. Die Behauptung der Beklagten, die Patientin ... habe erst Hindernisse beseitigen müssen, wird von vereinzelten Darlegungen nicht getragen. Nach der Kenntnis des Senats von den Örtlichkeiten, insbesondere denen im Umkreis der späteren Unfallstelle, erschließt sich dies auch nicht. Die Patientin hätte die jetzt vor dem Übergang angebrachte, stabile Absperrung weder beseitigen noch übersteigen können. Vielmehr wäre sie bei Vorhandensein einer solchen Absperrung nach der dann noch gegebenen Möglichkeit in ihrem Fluchtdrang ausgewichen auf ein anderes, ebenso ungesichertes wie gefährliches Flachdach, über das sie in einen 3,45 m tief gelegenen Hof gelangt wäre, wie die Beklagte dies auch zunächst als vermeintliches Unfallgeschehen dargestellt hat. Der Senat sieht es deshalb aus seiner Ortskenntnis heraus als ausgeschlossen an, daß die Patientin ..., wie nunmehr von der Beklagten möglicherweise behauptet werden soll, den Zugang zu dem Verbindungsgang über dem Flachdach des Küchentraktes durch Beseitigung eines oder mehrerer Hindernisse erst freiräumen müßte. Im übrigen wäre dieses Vorbringen der Beklagten, die ihren Vortrag zum Unfallverlauf und den Unfallörtlichkeiten im Verlaufe des Rechtsstreits wiederholt gewechselt hat, als verspätet zurückzuweisen (§§ 523, 282 Abs. 1 und 2, 296 Abs. 2 und 4 ZPO); die Zulassung dieses Vorbringens würde die Erledigung des Rechtsstreits verzögern, weil es den bisherigen Feststellungen des Senats nach dem Gang der mündlichen Verhandlung vom 6.12.1983 eindeutig widerspricht und die Verspätung auf einer groben Nachlässigkeit der in diesem Punkte ihren Vortrag erneut wechselnden Beklagten beruht. Denn bei Schluß der mündlichen Verhandlung war davon auszugehen, daß die freie Zugänglichkeit des über das Flachdach führenden Ganges sogar unstreitig war.

41

3.)

Wegen des Betragsverfahrens war der Rechtsstreit gemäß § 338 Abs. 1 Ziffer 3 ZPO an die erste Instanz zurückzuverweisen.

Streitwertbeschluss:

Der Wert der Beschwer der Beklagten beträgt über 100.000,- DM.