Landessozialgericht Niedersachsen
Beschl. v. 14.04.1998, Az.: L 6 U 354/97
Voraussetzungen für die Zulassung einer Berufung; Anforderungen an die Darlegung von Zulassungsgründen; Anspruch auf Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen
- Datum
- 14.04.1998
- Aktenzeichen
- L 6 U 354/97
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1998, 30878
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:1998:0414.L6U354.97.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Aurich - 20.08.1997 - AZ: S 3 U 30014/96
Rechtsgrundlagen
- § 153 Abs. 4 SGG
- § 551 Abs. 1 RVO
- § 551 Abs. 2 RVO
Fundstelle
- DStR 1999, 2001 (amtl. Leitsatz)
Der 6. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle hat
am 14. April 1998
durch
den Vizepräsidenten des Landessozialgerichts Dr. W.,
den Richter am Landessozialgericht E. und die Richterin am Landessozialgericht J.
gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz - SGG -
beschlossen:
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 20. August 1997 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die bei dem Kläger bestehende Sehstörung Folge einer Berufskrankheit (BK) ist und er Anspruch auf Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hat.
Der im Juni 1931 geborene Kläger ist als selbständiger Steuerberater erwerbstätig. Auf seinem rechten Auge besteht eine starke Kurzsichtigkeit. Im Juli und August 1990 stand er wegen einer Netzhautablösung in augenärztlicher Behandlung. Sodann erfolgte im September 1991 eine Cataract-Extraktion bei gleichzeitiger Einpflanzung einer Hinterkammerlinse. Hierauf entwickelte sich in der Folgezeit ein Sekundärglaucom, das weitere fachärztliche Behandlungen erforderte. Die Deutsche Angestellten Krankenkasse - DAK -, bei der der Kläger krankenversichert ist, äußerte mit Schreiben vom 9. September 1994 gegenüber der Beklagten den Verdacht, daß es sich bei seinem Augenleiden um eine BK handeln könnte. Der Kläger selbst gab in einem beigefügten Schreiben an, durch seine Tätigkeit als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater würden die Augen stark belastet. Er müsse oftmals kleingedruckte Gesetzestexte sowie schwachgedruckte oder schlecht leserliche Belege bzw. EDV-Listen lesen.
Der daraufhin von der Beklagten mit der Erstattung eines Befundberichts beauftragte behandelnde Augenarzt Prof. Dr. K. - St. Joseph-Stift B. - führte in seiner bei der Beklagten am 27. Dezember 1994 eingegangenen Stellungnahme aus, bei der vorbestehenden Myopie (Kurzsichtigkeit) sei eine Netzhautablösung als Komplikation erklärbar. Die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit als Steuerberater stehe seines Erachtens in keinem Zusammenhang mit der Netzhautablösung. Diese Auffassung vertrat auch der den Kläger ambulant behandelnde Augenarzt Dr. B. in seinem bei der Beklagten am 4. Januar 1995 eingegangenen Bericht. Die Staatliche Gewerbeärztin Frau Dr. G. schloß sich dieser Beurteilung in ihrer Stellungnahme vom 2. Februar 1995 an und führte ergänzend aus, sie könne die Anerkennung des Leidens als BK oder als Unfallfolge nicht empfehlen.
Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 8. März 1995 die Gewährung von Entschädigungsleistungen wegen der Augenerkrankung rechts ab. Zur Begründung führte sie aus, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit des Klägers als Steuerberater und den Augenbeschwerden sei nicht gegeben. Darüber hinaus sei das Krankheitsbild keiner der in der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) genannten BKen zuzuordnen. Den hiergegen vom Kläger am 5. April 1995 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 1996 aus denselben Gründen zurück.
Mit seiner am 7. Februar 1996 beim Sozialgericht - SG - Aurich erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, er führe die bei ihm bestehenden Sehbeschwerden insbesondere auch auf die von ihm verrichteten EDV-Arbeiten zurück. Nach seinen Erfahrungen im Bekanntenkreis führten diese - mit gewissen Abweichungen von Person zu Person - nach einigen Jahren zu Augenerkrankungen. Das Problem mit der EDV sei für die Augenärzte "Neuland", da erst geringe Erfahrungen vorlägen. Die BK-Liste müsse als antiquiert angesehen werden.
Das SG hat die Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung - BMA - vom 2. Mai 1996 eingeholt, wonach derzeit keine neuen medizinisch wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber vorlägen, daß Bildschirmtätigkeiten im Büro zu Erkrankungen der Augen führen könnten und sodann mit Urteil vom 20. August 1997 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, ein Entschädigungsanspruch des Klägers ergebe sich nicht aus § 551 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO - i.V.m. der Anlage 1 zur BKVO, weil das beim Kläger bestehende Krankheitsbild keiner der darin aufgeführten BKen zuzuordnen sei. Weiter lasse sich der geltend gemachte Entschädigungsanspruch auch nicht aus § 551 Abs. 2 RVO herleiten, denn nach der Auskunft des BMA lägen neue medizinisch wissenschaftliche Erkenntnisse über die Schädlichkeit von Bildschirmtätigkeiten für die Augen nicht vor. Hinzu komme, daß nach den im Verwaltungsverfahren beigezogenen ärztlichen Unterlagen ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den vom Kläger genannten schädigenden Einwirkungen - Überanstrengung der Augen durch Lesen kleingedruckter oder schwerleserlicher Texte sowie Bildschirmarbeit - und dem Augenschaden nicht hinreichend wahrscheinlich sei. Vielmehr sei von einer schicksalsbedingten hohen Kurzsichtigkeit auf dem rechten Auge auszugehen, die zu einer Netzhautablösung und einem erhöhten Augeninnendruck geführt hätten.
Gegen das ihm am 18. September 1997 zugestellte Urteil hat der Kläger am 22. September 1997 Berufung eingelegt, mit der er sein bisheriges Begehren weiterverfolgt. Er ist insbesondere der Auffassung, daß noch ein "Fachmann" zur Zusammenhangsfrage zu hören sei.
Der Kläger beantragt unter Berücksichtigung seines schriftlichen Vorbringens,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 20. August 1997 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8. März 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 1996 aufzuheben,
- 2.
festzustellen, daß das bei ihm bestehende Augenleiden auf seine Tätigkeit als Steuerberater zurückzuführen ist,
- 3.
die Beklagte zu verurteilen, ihm Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat die Beteiligten durch Verfügung des Berichterstatters vom 19. Januar 1998 darauf hingewiesen, daß er beabsichtige, über die Berufung nach § 153 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - ohne erneute mündliche Verhandlung durch Beschluß zu entscheiden. Ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.
Dem Senat haben neben der Prozeßakte die Verwaltungsunterlagen der Beklagten vorgelegen. Beide Akten sind Gegenstand des Verfahrens gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Sachvortrags der Beteiligten wird ergänzend auf deren Inhalt Bezug genommen.
II.
Die gemäß § 143 f SGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und auch im übrigen zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
Der Senat hat über das Rechtsmittel gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluß entschieden, da er es einstimmig für unbegründet und eine erneute mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.
Das SG hat zutreffend entschieden, daß der Kläger die Anerkennung seines Augenleidens als BK sowie die Bewilligung von Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung nicht verlangen kann.
Der in diesem Verfahren erhobene Anspruch des Klägers richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO, da er im vorliegenden Fall einen vor dem 1. Januar 1997 und damit vor Inkrafttreten des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches - SGB VII - eingetretenen Versicherungsfall geltend macht (Art. 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, § 212 SGB VII).
Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers kann hier nur § 551 Abs. 2 RVO sein, denn das bei dem Kläger bestehende Augenleiden (erhebliche Kurzsichtigkeit auf dem rechten Auge mit wiederholter Netzhautablösung und Entwicklung eines sekundären Glaucoms) wird von der in der Anlage 1 zur BKVO enthaltenen BK-Liste unstreitig nicht erfaßt. Hiervon geht auch der Kläger aus, denn er hat ausgeführt, die Frage eines Zusammenhangs zwischen seiner intensiven Lese- und Bildschirmarbeit und der bei ihm bestehenden Erkrankung stelle (medizinisches) "Neuland" dar.
Gemäß § 551 Abs. 2 RVO sollen die Träger der Unfallversicherung im Einzelfalle eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der BKVO bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO erfüllt sind.
Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen im hier zu beurteilenden Fall ebenfalls nicht vor. Es bedarf insoweit auch keiner weiteren Beweisaufnahme. § 551 Abs. 2 RVO, die ihrem Charakter nach eine Ausnahmevorschrift ist, zielt nicht auf die Lückenlosigkeit des Schutzes für alle Versicherten, die an einer (möglicherweise) durch die Berufstätigkeit verursachten Krankheit leiden. Sinn und Zweck der Norm ist es vielmehr, solche durch die Arbeit verursachten Krankheiten wie eine BK zu entschädigen, die nur deshalb nicht in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen worden sind, weil die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung bestimmter Personengruppen in ihrer Arbeit bei der letzten Fassung der Anlage 1 zur BKVO noch nicht vorhanden oder dem Verordnungsgeber nicht bekannt waren oder trotz Prüfung noch nicht ausreichten (vgl. BSG SozR 2200 § 551 Nr. 27 m.w.N.). Entsprechende neue medizinisch wissenschaftliche Erkenntnisse liegen nach der Auskunft des BMA vom 2. Mai 1996 nicht vor. Sie können auch nicht Regelungswerken wie der Bildschirm-Arbeits-Verordnung - BildscharbV - entnommen werden, diese dienen allein der Vorbeugung (Prävention). Das kommt deutlich in § 3 BildscharbV zum Ausdruck, der es dem jeweiligen Arbeitgeber auferlegt, bei der Einrichtung von Bildschirmarbeitsplätzen u.a. die mögliche Gefährdung des Sehvermögens zu ermitteln und zu beurteilen. Neue Erkenntnisse können im übrigen grundsätzlich auch nicht durch ein ärztliches Gutachten in einem Einzelfall gewonnen werden. Im Recht der BKen kommt es maßgeblich auf die "Gruppentypik" an. Damit ist gemeint, daß eine Erkrankung nur dann als BK in Betracht gezogen werden kann, wenn sie nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht wird, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt ist (vgl. dazu § 551 Abs. 1 Satz 3 RVO). Feststellungen hierzu können nur durch Studien mit umfangreichen Reihenuntersuchungen und nachfolgender statistischer Auswertungen getroffen werden. Hiervon kann allenfalls dann abgewichen werden, wenn z.B. bei einem nur kleinen gefährdeten Berufskollektiv die Zahl der Erkrankungen insgesamt nur gering ist, so daß medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse durch statistisch abgesicherte Zahlen nicht erbracht werden können (vgl. BSG vom 14.11.1996 - 2 RU 9/96 - HVBG INFO 1997, 552). Für den Bereich der Bildschirm- und Lesearbeiten gilt jedoch, daß solche Tätigkeiten außerordentlich verbreitet sind. Demgemäß wäre bei Vorliegen einer Gefährdung der Augen das Auftreten einer statistisch relevanten Zahl von Erkrankungen zu erwarten.
Im übrigen hat das SG bereits zutreffend darauf hingewiesen, daß im konkreten Fall des Klägers ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der von ihm als schädlich angesehenen beruflichen Exposition und dem Augenschaden nicht hinreichend wahrscheinlich ist. Dies haben die behandelnden Augenärzte des Klägers Prof. Dr. K. und Dr. B. übereinstimmend und nachvollziehbar ausgeführt. Nach Auffassung des Senats leuchtet diese Auffassung schon deshalb unmittelbar ein, weil im Falle einer beruflich bedingten Schädigung bei einem paarig vorhandenen und eingesetzten Sinnesorgan eine entsprechende Erkrankung auch auf dem linken Auge zu erwarten gewesen wäre. Dies ist jedoch nach den vorhandenen medizinischen Unterlagen beim Kläger nicht der Fall.
Nach alledem kann die Berufung des Klägers keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Es hat kein Anlaß bestanden, die Revision zuzulassen.