Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 12.06.1990, Az.: 1 VAs 4/90
Überlassung einer anonymisierten Urteilsabschrift zu Zwecken der Veröffentlichung und Besprechung in einer Fachzeitschrift; Pflicht der Gerichte zur Veröffentlichung und Dokumentation - "Publizitätsgebot"
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 12.06.1990
- Aktenzeichen
- 1 VAs 4/90
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1990, 19750
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:1990:0612.1VAS4.90.0A
Rechtsgrundlagen
- § 23 EGGVG
- Art. 6 Abs. 1 MRK
- § 336 StGB
Fundstellen
- AnwBl 1993, 307-308 (Volltext mit amtl. LS)
- CR 1990, 718 (red. Leitsatz)
- DRiZ 1990, 497-498 (Volltext mit amtl. LS)
- DVBl 1990, 1361-1362 (Volltext mit amtl. LS)
- JZ 1990, 1023-1025 (Volltext mit amtl. LS)
- JurBüro 1991, 41-42 (Volltext mit amtl. LS)
- MDR 1990, 1138-1139 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1990, 2570-2571 (Volltext mit amtl. LS)
- NStZ 1990, 553-554 (Volltext mit amtl. LS)
Verfahrensgegenstand
Erteilung einer Urteilsabschrift
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Verlage haben grundsätzlich einen Anspruch auf Überlassung anonymisierter Urteilsabschriften der Gerichte zur Veröffentlichung und Besprechung in Fachzeitschriften, da auf diese Weise,insbesondere auf dem Gebiet des Strafrechts, ein wichtiger Beitrag zur Funktionsfähigkeit der Rechtspflege geleistet wird.
- 2.
Anhand der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen wird durch die so ermöglichte wissenschaftliche Diskussion und Kritik ein wichtiger Beitrag zur Rechtsfortbildung geleistet.
- 3.
Wird in einem konkreten Einzelfall durch das Publizitätsgebot schwerwiegend in den grundrechtlich gewährten Persönlichkeitsschutz eines Betroffenen eingegriffenen, so ist das Interesse am Persönlichkeitsschutz mit dem Informationsinteresse der Allgemeinheit abzuwägen.
Auf den Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß §§ 23 ff EGGVG
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft
am 12. Juni 1990
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ...
sowie die Richter am Oberlandesgericht ... und ...
beschlossen:
Tenor:
Der Bescheid des ... in ... vom 9. März 1990 wird aufgehoben.
Die Staatsanwaltschaft ... ist verpflichtet, dem Antragsteller eine anonymisierte Abschrift des Urteils des Landgerichts ... vom 18. Dezember 1987 - 39 KLs 14 Js 28142/85 StA ... - zu überlassen.
Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Antragstellers fallen der Landeskasse zur Last.
Der Geschäftswert wird auf DM 500,- festgesetzt.
Gründe
Der Antragsteller hat an den ... in ... den Antrag gerichtet, ihm eine anonymisierte Ablichtung des Urteils des Landgerichts ... vom 18.12.1987 in der Strafsache gegen einen Vorsitzenden Richter an diesem Gericht - 39 KLs 14 Js 28142/85 StA ... - zu überlassen. Diesen Antrag hat der Antragsgegner zurückgewiesen. Der Antragsteller begehrt nunmehr gem. § 23 EGGVG eine gerichtliche Entscheidung, die den Antragsgegner zum Erlaß der beantragten Entscheidung verpflichtet.
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist zulässig. Der Antrag richtet sich gegen einen Akt der Justizverwaltung, der eine Angelegenheit der Strafrechtspflege betrifft (vgl. Senatsbeschluß vom 7.2.1990 - 1 VAs 19/89 -). Er ist gem. § 26 EGGVG fristgemäß gestellt, da er am 26.3.1990 eingegangen ist und den am 14.3.1990 vom ... in ... abgesandten Bescheid angreift (vgl. Bl. 2 d.A. mit Bl. 24 d. Beiakten). Die Zulässigkeit ist auch nicht deshalb zu verneinen, weil der Antrag Art und Datum der angefochtenen Maßnahme nicht bezeichnet. In der Tat enthält die Antragsschrift nur folgende Antragsformulierung:
"Hiermit beantrage ich, unter Aufhebung des Bescheids des Herrn ... in ... die Verpflichtung des Antragsgegners auszusprechen, dem Antragsteller eine anonymisierte Ablichtung des Urteils des Landgerichts ... vom 18.12.1987 in der Strafsache gegen einen Vorsitzenden Richter am Landgericht auszusprechen," (gemeint ist wohl: auszuhändigen).
Da die Konkretisierung der angefochtenen Maßnahme nur dem Zweck dient, die Nachprüfung zu ermöglichen, ob eine Verletzung des Antragstellers "in seinen Rechten" in Frage kommt (LR-Schäfer, StPO 23. Aufl., § 24 EGGVG Rn 2; KG GA 1978, 244; Röhl, NJW 1960, 414), genügt es, wenn der Antrag die Möglichkeit eröffnet, den angefochtenen Verwaltungsakt zu identifizieren; eine Angabe des Datums ist - entgegen Kleinknecht/Meyer, StPO, 39. Aufl., Vorbem. 3 zu § 23 EGGVG - nicht erforderlich. Die Identifizierung des angefochtenen Verwaltungsakts ist aber durch die im Antrag enthaltenen Angaben möglich, die auch Aufschluß über die "Art" des Verwaltungsakts geben, da dieser offensichtlich die erbetene Ablichtung verweigert hat.
Die Zulässigkeit ist schließlich auch nicht deshalb zu verneinen, weil der Antragsteller nicht die Möglichkeit dargetan hätte, in seinen Rechten verletzt zu sein. Zu beachten ist, daß sich das Begehren des Antragstellers nicht auf Akteneinsicht richtet, sondern auf Überlassung einer anonymisierten Urteilsabschrift. Demgemäß sind Nr. 185 und Nr. 185 a RiStBV jedenfalls nicht unmittelbar anwendbar. Auch die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, denen zufolge das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit keinen Individualanspruch auf Einsicht in Gerichtliche Akten gewährt (BVerwG NJW 1986, 127) und auch der gem. Art. 5 Abs. 1 GG gegebene Zugang zu allgemein zugänglichen Quellen keinen solchen Anspruch eröffnet (BVerfG NJW 1986, 1243), können demgemäß die Zulässigkeit nicht hindern.
Vielmehr ist auszugehen von der Erwägung, daß eine Verpflichtung der Gerichte selbst besteht, ihre Urteile in angemessener Weise zu veröffentlichen (OLG München, OLGZ 1984, 477, 479; OVG Bremen, NJW 1989, 926 [OVG Bremen 25.10.1988 - 1 BA 32/88] m.zust.Anm. Hoffmann-Riem JZ 1989, 637; Grundmann, DVBl. 1966, 57; Hirte, NJW 1988, 1698). Diese Rechtspflicht zur Eigendokumentation ist allerdings nur selten gesetzlich geregelt. Lediglich für einige Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtshöfe bestehen gesetzliche Vorschriften; so z.B. in § 5 AGVwGO Rhld.-Pfalz und in Art. 8 AGVwGO Bayern, darüber hinaus ist in § 47 Abs. 6 S. 2 VwGO die Veröffentlichung der Beschlüsse im Normenkontrollverfahren bei Nichtigerklärung gesetzlich vorgeschrieben.
Diese Verpflichtung dokumentiert sich in der Veröffentlichungspraxis der oberen Gerichte der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Leistner, Über die Veröffentlichungspraxis oberster und höherer Gerichte in Westeuropa, 1975, S. 11 ff.) und hat ihren materiellen Grund im Publizitätsgebot für jegliches staatliche Handeln (Kramer, Richterrecht und Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen, in: Studien zur Theorie der Gesetzgebung, hg. von Rödig, 1976, insbes. S. 724 ff.).
Ist demgemäß die Sorge für eine angemessene Veröffentlichung von Entscheidungen eine richterliche Amtspflicht, so kann dieser Informationspflicht in bestimmten Fällen ein Recht einzelner gegenüberstehen, zu einem Urteil Zugang zu erhalten, so etwa dann, wenn ein Verlag durch eine diskriminierende Veröffentlichungspraxis eines Gerichts von der Veröffentlichung von Urteilen ausgeschlossen ist (OVG Bremen NJW 1989, 926 [OVG Bremen 25.10.1988 - 1 BA 32/88]), oder wenn ein Rechtsanwalt die Kenntnis eines bestimmten Urteils für die Rechtsberatung in einem ähnlich geregelten Fall benötigt (OLG München OLGZ 1984, 477). Das Recht des einzelnen kann sich in Verallgemeinerung dieses Gedankens immer dann ergeben, wenn die Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes oder - noch allgemeiner - der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung durch eine Behörde die Position eines Antragstellers so "verdichtet", daß, anders als bei einer bloßen Popularklage, der Antragsteller geradezu ein subjektives Recht auf Kenntnis von einem konkreten Rechtsprechungsakt erwirbt (vgl. BVerwG 58, 45). Im Hinblick auf die hier begehrte Übersendung einer anonymisierten Urteilsabschrift zu Zwecken der Veröffentlichung und Besprechung ist ein solcher Ermessensfehler denkbar, so daß die Zulässigkeit des Antrags auf gerichtliche Entscheidung gegeben ist.
Der Antrag ist auch begründet. Die Veröffentlichung von obergerichtlichen Entscheidungen in Fachzeitschriften leistet einen wichtigen Beitrag zur Funktionsfähigkeit der Rechtspflege.
Sie dokumentiert das Recht so, wie es - über den Gesetzeswortlaut hinaus - in der Rechtsprechung Gestalt annimmt. Dadurch wird die in einer rechtsstaatlichen Demokratie unerläßliche Information der Bürger ermöglicht. Da eine Rechtsordnung - zumal im Bereich des Strafrechts - immer auch die Funktion hat, das Verhalten des einzelnen zu steuern, dürfen ihre Entscheidungen nicht der Geheimhaltung unterliegen, soweit nicht ausnahmsweise unabweisbare höhere Interessen die Unterrichtung der Allgemeinheit oder einer einzelnen Person verbieten, was beispielsweise bei Tatsachen der Fall sein kann, die die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder den Schutz persönlicher Daten betreffen. Diesem Publizitätsgebot dienen sowohl die Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes als auch des Art. 6 Abs. 1 MRK, die grundsätzlich ein öffentliches Gerichtsverfahren fordern (zu Art. 6 Abs. 1 MRK vgl. die Entscheidungen des EuGH in EuGRZ 1985, 225; 548- Fälle Axen und Pretto).
Davon abgesehen hat die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen in Fachzeitschriften zusätzlich die Funktion, die wissenschaftliche Diskussion und Kritik zu ermöglichen, die ihrerseits wieder zur Rechtsfortbildung beitragen kann (vgl. OVG Bremen NJW 89, 926, 927). In vielen Fällen dient die Veröffentlichung auch der Information der Gerichte untereinander, so daß etwa die Oberlandesgerichte auf diese Weise ihrer Vorlagepflicht gem. § 121 GVG genügen können. Handelt es sich um Entscheidungen der Instanzgerichte, so kommt ihnen insbesondere dann eine hohe Bedeutung zu, wenn sie - wie hier - rechtskräftig geworden sind. Auch unter dem Blickwinkel des Demokratieprinzips hat die Information der Öffentlichkeit über Gerichtsentscheidungen wichtige Funktionen. Denn dem Gesetzgeber wird dadurch in nicht wenigen Fällen die Konsequenz einer gesetzgeberischen Entscheidung vor Augen geführt, die sich in der Anwendung seiner Gesetze offenbart, insbesondere in Fällen gesellschaftspolitischer Brisanz. Die Entscheidungen zum Tatbestand des Schwangerschaftsabbruchs und der Nötigung sowie zu mietrechtlichen Fragen bilden hierfür Beispiele.
Wird die Überlassung eines Urteils zur Veröffentlichung und zur Besprechung unter rechtswissenschaftlichem Aspekt erbeten, so kann dies nach alledem nur verweigert werden, wenn gegenüber diesen zugunsten von Urteilsveröffentlichungen sprechenden Gründen, die eine ständige Veröffentlichungspraxis und Weröffentlichungspflicht der Gerichte begründeten, im Einzel fall schwerwiegende Argumente sprechen. Der Antragsgegner weist insofern auf den Persönlichkeitsschutz des damals angeklagten und rechtskräftig freigesprochenen Richters hin, der dadurch ein zusätzliches Gewicht erhalte, daß das Urteil bereits im Dezember 1987 ergangen sei. Da auch bei einer Anonymisierung des Urteils für weite Kreise des damals aufschenerregenden Prozesses der Angeklagte identifizierbar bleibe, so daß die Bejahung des objektiven Tatbestands der Rechtsbeugung im Urteil diesen (erneut) seelisch schwer belasten müsse, lasse sich die Veröffentlichung und Besprechung des Urteils nicht rechtfertigen.
Diese Erwägungen führen jedoch nicht zur Versagung der Herausgabe einer Urteilsabschrift. Da der Prozeß gegen den der Rechtsbeugung angeklagten Richter einschließlich der Urteilsverkündung öffentlich stattgefunden hatte, waren die Urteilsgründe in der Öffentlichkeit bekannt, wenn auch nicht in der schriftlich ausgearbeiteten Form. Eine ... Tageszeitung hatte überdies über den Prozeß und auch über die Tatsache berichtet, daß das freisprechende Urteil objektiv den Tatbestand der Rechtsbeugung bejaht hatte. Das Urteil hat schließlich schwierige Rechtsprobleme zum Gegenstand, die den Tatbestand des in vielen Punkten ohnehin nicht einfach strukturierten § 336 StGB für die Fortentwicklung des Rechts und die wissenschaftliche Diskussion erneut vor schwierige Fragen stellt. Unter diesen Umständen mußte zur Zeit des Urteilserlasses das Interesse des freigesprochenen Richters am Schutz seiner Persönlichkeit gegenüber dem oben dargestellten Interesse der Allgemeinheit und der Fachöffentlichkeit an der Information über Gerichtsentscheidungen zurücktreten, auch soweit trotz Anonymisierung der freigesprochene Richter noch identifizierbar blieb. Insoweit kann nichts anderes gelten als beispielsweise in den Erkenntnissen BGHSt 20, 81 oder BGHSt 31, 264 [BGH 10.03.1983 - 4 StR 3745/82]. Gegenüber den veröffentlichten Berichten in der Tageszeitung und über die unmittelbare Gerichtsöffentlichkeit hinaus wäre eine erhebliche weitere Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts nicht eingetreten.
Aber auch nach Ablauf von nahezu drei Jahren kann im vorliegenden Fall das Interesse am Persönlichkeitsschutz das Informationsinteresse der Allgemeinheit nicht aufliegen. Gleichgültig, ob bei einer Besprechung des Urteils in einer Fachzeitschrift eine zustimmende oder eine ablehnende Stellungnahme zum Urteil das Ergebnis ist, geht es um einen Beitrag zur Fortbildung des Rechts und um die Unterrichtung der Fachöffentlichkeit über die Rechtspraxis unserer Gerichte. Würde ein Staat über die oben erwähnten, eng begrenzten Fälle hinaus seine Richtersprüche geheimhalten, wäre die rechtsprechende Gewalt sehr schnell in ihrer Funktion ausgehöhlt.
Dem stehen auch nicht die vom Bundesverfassungsgericht im sog. Lebach-Urteil entwickelten Grundsätze entgegen (BVerfG NJW 73, 1226), die eine Fernsehsendung mit "Namensnennung, Abbildung und Darstellung des Straftäters" betrafen (BVerfG a.a.O.). Allerdings ist der Senat ebenso wie das Bundesverfassungsgericht der Ansicht, daß auch ein Täter, der durch eine schwere Straftat in das Blickfeld der Öffentlichkeit getreten ist und die allgemeine Mißachtung erweckt hat, dennoch ein Glied dieser Gemeinschaft bleibt und einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Schutz seiner Individualität hat. Der Senat verkennt auch nicht, daß bei einem - wie im vorliegenden Fall - freigesprochenen Angeklagten an die Gefahr gedacht werden muß, daß eine Berichterstattung über das Urteil bei entsprechender Formulierung des Berichts und der Besprechung des Urteils eine Art sozialer Verurteilung ausgesprochen werden kann, die das gerichtliche Urteil in der öffentlichen Wirkung geradezu in sein Gegenteil verkehren kann. Anders als im Bereich der allgemeinen öffentlichen Medien und speziell des Fernsehens, auf den auch das Bundesverfassungsgericht entscheidend abstellt (BVerfG a.a.O. S. 1229 f), hat diese Gefahr im Bereich rechtswissentschaftlicher Fachzeitschriften eine erheblich verminderte Dimension, so daß das Informationsinteresse immer noch wesentlich überwiegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 30 Abs. 1 EGGVG, 2 KostO.
Streitwertbeschluss:
Der Geschäftswert wird auf DM 500,- festgesetzt.
Der Geschäftswert ist nach §§ 30 Abs. 3 EGGVG, 30 Abs. 2 KostO festgesetzt worden.