Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 29.09.2023, Az.: 7 B 2413/23
Aufforderung; Aufforderung zur Vervollständigung des Impfschutzes; einstweiliger Rechtsschutz; Formeller Verwaltungsakt; Impfpflicht; Masern; Masernimpfung; Masernschutzimpfung; Masern-Schutzimpfung; Scheinverwaltungsakt; Vervollständigung des Impfschutzes gegen Masern; Verwaltungsakt; Zwangsvollstreckung; Aufforderung zur Vervollständigung des Impfschutzes gegen Masern gemäß § 20 Abs. 12 Satz 3 Alt. 2 IfSG durch Verwaltungsakt
Bibliographie
- Gericht
- VG Oldenburg
- Datum
- 29.09.2023
- Aktenzeichen
- 7 B 2413/23
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2023, 36405
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGOLDBG:2023:0929.7B2413.23.00
Rechtsgrundlagen
- IfSG § 20 Abs. 12 Satz 3
- IfSG § 20 Abs. 12 Satz 3 Alt. 2
- IfSG § 20 Abs. 12 Satz 7
- ff IfSG § 20 Abs. 8
- IfSG § 20 Abs. 9
- IfSG § 73 Abs. 1a Nr. 7d
- IfSG § 20 Abs. 12 Satz 1
- VwGO § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4
- VwGO § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2
- VwVfG § 35 Satz 1
Amtlicher Leitsatz
Die zuständige Behörde ist nicht befugt, in der Handlungsform des Verwaltungsaktes zur Vervollständigung des Masern-Impfschutzes nach § 20 Abs. 12 Satz 3 Alt. 2 IfSG aufzufordern. Die Aufforderung kommt über einen bloßen Appell nicht hinaus. Handelt die Behörde dennoch in Form eines Verwaltungsaktes und ordnet die sofortige Vollziehung an, kann dieser sog. Scheinverwaltungsakt/formelle Verwaltungsakt Gegenstand eines Antrags nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO sein. Der formelle Verwaltungsakt ist ohne weitere Sachprüfung vom Gericht aufzuheben, unabhängig davon, ob die als Verwaltungsakt getroffene Maßnahme inhaltlich rechtmäßig ist.
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 24. Juli 2023 wird wiederhergestellt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.500,00 € festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren einstweiligen Rechtsschutz gegen eine durch den Antragsgegner erlassene Aufforderung an die Antragsteller, den Impfschutz ihres minderjährigen schulpflichtigen Kindes gegen Masern zu vervollständigen. Die schriftliche Aufforderung des Antragsgegners vom 24. Juli 2023 ist unterteilt in einen Tenor, eine Begründung und eine Rechtsbehelfsbelehrung. Der Tenor enthält neben der in Ziffer 1 enthaltenen Aufforderung zur Vervollständig des Impfschutzes in Ziffer 2 die Anordnung der sofortigen Vollziehung. Der Antragsgegner stützt die Aufforderung auf § 20 Abs. 12 Satz 2 IfSG, die Anordnung der sofortigen Vollziehung auf § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO. Die Antragsteller hätten trotz mehrfacher Aufforderung einen entsprechenden Nachweis nicht vorgelegt.
II.
Der dahingehend auszulegende Antrag der Antragsteller, gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller vom 23. August 2023 gegen den Bescheid vom 24. Juli 2023 wiederherzustellen, ist zulässig und begründet.
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO ist statthaft, da die Anfechtungsklage der Antragsteller gegen den Bescheid nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 1 VwGO entfaltet, weil der Antragsgegner die sofortige Vollziehung der gegenständlichen Aufforderung, den Impfschutz des Kindes der Antragsteller zu vervollständigen, angeordnet hat. Unschädlich - da ohne weiteres der Auslegung zugänglich (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) - ist es, dass die Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO beantragt haben, mit Blick auf die gegenständliche behördlich angeordnete sofortige Vollziehung jedoch ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung die richtige Antragsart ist.
Der Antrag ist auch unabhängig davon statthaft, ob es sich bei der gegenständlichen Aufforderung materiell um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 35 Satz 1 VwVfG handelt (dazu sogleich). Vorliegend hat sich der Antragsgegner ausdrücklich und unzweifelhaft jedenfalls der äußeren Form nach der Handlungsform des Verwaltungsakts bedient und auch in der Rechtsbehelfsbelehrung auf die Möglichkeit der Anfechtungsklage hingewiesen. Die Antragsteller als Adressaten der behördlichen Verfügung durften dies so hinnehmen und die Wahl ihres Rechtsbehelfs danach ausrichten. Hieraus folgt, dass eine behördliche Maßnahme, sofern die Behörde den Rechtsschein eines entsprechenden Verwaltungsakts (auch sogenannter formeller oder Schein-Verwaltungsakt) setzt, ungeachtet der fehlenden materiellen Verwaltungsaktqualität statthafterweise im vorläufigen Rechtsschutz gemäß § 80 Abs. 5 VwGO beanstandet werden kann (Nds. OVG, Beschluss vom 22. Juni 2022 - 14 ME 258/22 -, Rn. 13, juris; VG Hannover, Beschluss vom 11. Mai 2022 - 15 B 1609/22 -, Rn. 6, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 20. Oktober 2016 - 1 S 1662/16 -, Rn. 13, juris; Bay. VGH, Beschluss vom 15. November 2002 - 3 CS 02.2258 -, Rn. 30, juris; OVG Bremen, Beschluss vom 21. August 2002 - 1 B 143/02 -, NordÖR 2002, 420; Schoch/Schneider/Schoch, 44. EL März 2023, VwGO § 80 Rn. 37). Aus dem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgt, dass dem Bürger auch in Fällen der nach ihrem objektiven Erklärungsinhalt missverständlichen Willensäußerung der Verwaltung effektiver Rechtsschutz zugänglich sein muss (BVerwG, Urteil vom 26. Juni 1987 - 8 C 21/86 -, Eufach0000000010E 78, 3-6, Rn. 9). Das Rechtsschutzbedürfnis für einen solchen Antrag wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Behörde - wie vorliegend - erklärt, die Maßnahme werde nicht vollstreckt. Der Rechtsschein des Verwaltungsaktes bleibt. Insbesondere muss sich der Betroffene auch nicht im Falle einer etwaigen Vollstreckung auf die Vollstreckungsabwehrklage verweisen lassen (Blunk/Schroeder, JuS 2005, 602, 605).
2. Der Antrag ist auch begründet.
a) Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde - wie hier - besonders angeordnet wurde (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO), die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag hat bereits dann Erfolg, wenn die sofortige Vollziehung nicht ordnungsgemäß gemäß § 80 Abs. 3 VwGO begründet wurde. Im Übrigen setzt die gerichtliche Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO eine Abwägung des Interesses der Antragsteller, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung voraus. Diese Abwägung fällt in der Regel zu Lasten der Antragsteller aus, wenn bereits im Aussetzungsverfahren bei summarischer Prüfung zu erkennen ist, dass der Rechtsbehelf offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet. Dagegen überwiegt das Interesse an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs in aller Regel, wenn sich der Rechtsbehelf als offensichtlich begründet erweist. Bleibt der Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache bei der in dem Aussetzungsverfahren nur möglichen summarischen Prüfung jedoch offen, kommt es auf eine reine Abwägung der widerstreitenden Interessen an (Nds. OVG, Beschluss vom 27. Januar 2022 - 14 ME 55/22 -, Rn. 8 m.w.N., juris).
b) Vorliegend überwiegt das Interesse der Antragsteller an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, weil nach der hier allein gebotenen summarischen Prüfung die Anfechtungsklage in der Hauptsache offensichtlich Erfolg haben wird, da sich der Verwaltungsakt als rechtswidrig erweist und die Antragsteller in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Der jedenfalls formelle Verwaltungsakt des Antragsgegners erweist sich als rechtswidrig, weil der Antragsteller nicht berechtigt war, die gegenständliche Aufforderung in der Form des Verwaltungsaktes gemäß § 35 Satz 1 VwVfG zu erlassen. Liegen die Voraussetzungen des § 35 Satz 1 VwVfG nicht vor, ist der formelle Verwaltungsakt ohne weitere Sachprüfung vom Gericht aufzuheben, unabhängig davon, ob die als Verwaltungsakt getroffene Maßnahme inhaltlich rechtmäßig ist (VG Hannover, Beschluss vom 11. Mai 2022 - 15 B 1609/22 -, Rn. 9, juris; Bay. VGH, Beschluss vom 15. November 2002 - 3 CS 02.2258 -, Rn. 34, juris; OVG Bremen, Beschluss vom 21. August 2002 - 1 B 143/02 -, Leitsatz 3, juris; Stelkens/Bonk/Sachs/U. Stelkens, 10. Aufl. 2022, VwVfG § 35 Rn. 16; BeckOK VwVfG/von Alemann/Scheffczyk, 60. Ed. 1.4.2023, VwVfG § 35 Rn. 39).
So liegt der Fall hier. Die Aufforderung zur Vervollständigung des Impfschutzes erfüllt nicht die Merkmale des § 35 Satz 1 VwVfG, die von dem Antragsgegner herangezogene Rechtsgrundlage des § 20 Abs. 12 Satz 2 (der Antragsgegner meint Satz 3 Alt. 2) IfSG räumt daher keine Befugnis zum Erlass eines Verwaltungsaktes ein. Nach dieser Vorschrift hat das Gesundheitsamt, wenn der Nachweis nach Absatz 9 Satz 1 nicht innerhalb einer angemessenen Frist vorgelegt wird, die zur Vorlage des Nachweises verpflichtete Person zu einer Vervollständigung des Impfschutzes gegen Masern aufzufordern.
Verwaltungsakt ist gemäß § 35 Satz 1 VwVfG jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Vorliegend fehlt es am Merkmal der Rechtswirkung (so schon im Hinblick auf die Anforderung eines Nachweises gemäß § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG BeckOK InfSchR/Aligbe, 17. Ed. 8.7.2023 Rn. 259c), da die Aufforderung zur Vervollständigung des Impfschutzes nicht mit Zwangsmitteln durchsetzbar und nicht bußgeldbewehrt ist sowie noch nicht einmal vorbereitenden Charakter zeigt.
Insbesondere kommt der Aufforderung keine Regelungswirkung in Form einer mittelbaren Impfverpflichtung zu. Die Vorschriften des §§ 20 Abs. 8 ff. IfSG ordnen - auch aus verfassungsrechtlichen Gründen - eine solche Impfpflicht nämlich nicht an, sondern belassen vielmehr den für die Ausübung der Gesundheitssorge zuständigen Eltern im Ergebnis einen relevanten Freiheitsraum (BVerfG, Beschluss vom 21. Juli 2022 - 1 BvR 469/20 -, Eufach0000000009E 162, 378-454, Rn. 145). Unabhängig von der bereits umstrittenen Frage, ob die - nicht in § 20 Abs. 12 Satz 3 Alt. 2 IfSG, sondern in Satz 1 geregelte - Anforderung eines Nachweises gemäß § 20 Abs. 9 IfSG mit Zwangsmitteln durchsetzbar ist, richtet sich die streitgegenständliche Aufforderung nach Satz 3 Alt. 2, den Impfschutz zu vervollständigen, ganz unmittelbar auf die Durchführung der Impfung, die verfassungsrechtlich nicht zwangsweise durchgeführt werden kann, sodass jedenfalls diese Aufforderung nicht im Wege der Zwangsvollstreckung durchsetzbar ist (Gerhardt, IfSG 6. Aufl. 2022, § 20 Rn. 138).
Auch die Verhängung eines Bußgeldes kommt gemäß § 73 Abs.1a Nr. 7d IfSG nur bei Verstößen gegen § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG und nicht bei Verstößen gegen Satz 3 Alt. 2 in Betracht.
Bereits das Verwaltungsgericht Hannover sowie das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht haben im Hinblick auf die bis Ende 2022 geltende - mit der Vorschrift des § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG vergleichbare - Regelung für die Anforderung eines Covid-Immunitätsnachweises entschieden, dass dieser keine Regelungswirkung zukomme, sondern es sich nur um eine Maßnahme mit vorbereitendem Charakter handele, die nämlich Voraussetzung sei, um insbesondere ein Tätigkeitsverbot erlassen zu können (Nds. OVG, Beschluss vom 22. Juni 2022 - 14 ME 258/22 -, Rn. 15, juris; VG Hannover, Beschluss vom 11. Mai 2022 - 15 B 1609/22, Rn. 11, juris). Auch hinsichtlich der Masernimpfung stellt sich die in § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG geregelte Anforderung eines Nachweises als vorbereitende Maßnahme für die Verhängung eines Betretens- oder Tätigkeitsverbot nach § 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG - die unzweifelhaft als Verwaltungsakt erlassen werden können - dar. Die hier allein gegenständliche Aufforderung zur Vervollständigung des Impfschutzes nach § 20 Abs. 12 Satz 3 IfSG ist aber (noch nicht einmal) Voraussetzung für die Verhängung eines Verbotes nach § 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG.
Die in § 20 Abs. 12 Satz 3 IfSG verankerte Aufforderung geht daher über einen bloßen Appell nicht hinaus, dem Verwaltungsaktqualität nicht zukommen kann (Stelkens/Bonk/Sachs/U. Stelkens, VwVfG 10. Aufl. 2022, § 35 Rn. 86). Hierfür spricht schließlich auch die Regelungssystematik des § 20 Abs. 12 IfSG, der in Satz 7 nur für Maßnahmen nach Satz 1, 2 und 4 IfSG den gesetzlich vorgesehenen Sofortvollzug anordnet und damit zu verstehen gibt, dass es sich bei diesen Maßnahmen um Verwaltungsakte handeln soll.
3. Die Nebenentscheidungen folgen aus den § 154 Abs. 1 VwGO sowie §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.