Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 23.06.2021, Az.: 2 AR (Ausl) 12/21

Zulässige Auslieferung nach Polen mit Fortdauer der Auslieferungshaft; Auslieferung nach Polen ohne vorherige Akteneinsicht

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
23.06.2021
Aktenzeichen
2 AR (Ausl) 12/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 28547
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2021:0623.2AR.AUSL12.21.00

Amtlicher Leitsatz

Es stellt kein Auslieferungshindernis gemäß § 73 Satz 2 IRG dar, wenn dem Verfolgten Akteneinsicht erst nach seiner Überstellung und seiner sich daran unverzüglich anschließenden Vernehmung im ersuchenden Staat (hier: Polen) gewährt werden soll.

Tenor:

Die Auslieferung des Verfolgten an die p. Justizbehörden zur Strafverfolgung wegen der in dem Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts in Szczecin vom 7. Dezember 2020 (Az.: III Kop 230/20) bezeichneten Straftat ist zulässig.

Der Auslieferungshaftbefehl des Oberlandesgerichts Celle vom 3. Februar 2021 bleibt aufrechterhalten und nach Maßgabe des Beschlusses vom 3. März 2021 außer Vollzug gesetzt.

Gründe

I.

Die p. Justizbehörden betreiben auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls des Bezirksgerichts in Szczecin vom 7. Dezember 2020 (Az.: III Kop 230/20) die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung. Wegen des dem europäischen Haftbefehl zugrundeliegenden Tatgeschehens wird auf den Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 3. Februar 2021 Bezug genommen.

Der Verfolgte wurde am 2. Februar 2021 in Hannover vorläufig festgenommen. Das Amtsgericht Hannover hat am selben Tage gemäß § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG angeordnet, dass der Verfolgte bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts festzuhalten ist.

Der Senat hat am 3. Februar 2021 die förmliche Auslieferungshaft gegen den Verfolgten angeordnet. Der Verfolgte hat sich mit einer vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden erklärt (§ 41 Abs. 1 IRG). Er hat zudem auf die Beachtung des Grundsatzes der Spezialität nicht verzichtet (§ 41 Abs. 2 IRG).

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Auslieferung für zulässig zu erklären und Haftfortdauer anzuordnen.

II.

Den Anträgen der Generalstaatsanwaltschaft war zu entsprechen.

1.

Der Senat ist zu einer Entscheidung über die Anträge der Generalstaatsanwaltschaft berufen, denn die Generalstaatsanwaltschaft hat vorliegend bei verständiger Würdigung der Ausführungen im dortigen Zulässigkeitsantrag vom 9. März 2021 die in § 79 Abs. 2 S. 1 IRG vorgesehene Vorabbewilligungsentscheidung getroffen. Die Generalstaatsanwaltschaft war trotz des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 24. November 2020 (EuGH, Urteil vom 24. November 2020 - C-510/19 -, juris), ausweislich dessen die Generalstaatsanwaltschaften in Deutschland aufgrund ihrer gesetzlich geregelten Weisungsgebundenheit nicht als "vollstreckende Justizbehörde" i.S. von Art. 3 ff. RB-EuHB anzusehen sind, auch zur Vorabbewilligungsentscheidung gem. § 79 Abs. 2 S. 1 IRG befugt (vgl. Senat, Beschluss vom 08. März 2021, 2 AR Ausl 17/21).

2.

Die Auslieferung des Verfolgten an die p.Justizbehörden ist zulässig.

a)

Der Europäische Haftbefehl liegt in deutscher Übersetzung vor und enthält alle nach § 83a Abs. 1 IRG erforderlichen Angaben.

b)

Die Auslieferungsfähigkeit der Straftat ist gegeben.Bei dem Tatgeschehen, das dem Verfolgten zur Last gelegt wird, handelt es sich nach dem Recht des ersuchenden Staates um ein Delikt des Betäubungsmittelhandels und damit um eine Katalogtat gemäß Art. 2 Abs. 2 des EU-Rahmenbeschlusses vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl (RB-EUHb), welche nach p. Recht mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist. Die Höchststrafe liegt nach Artikel 56 Abs. 1 und 3 des Gesetzes über die Rauschgiftgegenwirkung in Verbindung mit Artikel 113 des p. Strafgesetzbuches bei 12 Jahren Freiheitsstrafe. Die dem Senat insoweit obliegende Schlüssigkeitsprüfung ergibt, dass die Einordnung des dargestellten Sachverhaltes als Katalogtat nachvollziehbar erscheint, denn nach deutschem Recht wäre das dem Verfolgten zur Last gelegte Tatgeschehen ebenfalls als Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu bewerten (§§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG). Das Erfordernis einer beiderseitigen Strafbarkeit entfällt damit (§ 81 Nr. 4 IRG). Verfolgungsverjährung ist nicht eingetreten.

c) Die Grundsätze der Gegenseitigkeit und der Spezialität werden durch die von EU Staaten zu vollziehende innerstaatliche Transformation des insoweit bindenden RB-EuHB (vgl. Art. 27 RB-EuHB) gewährleistet. Einer besonderen Zusicherung des ersuchenden Staates bedarf es daher nicht (vgl. Böse, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, § 82 IRG Rn. 2, 18; Zimmermann/Hackner, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl. 2020, § 82 IRG Rn. 2, 5).

c)

Auch im Übrigen sind keine Gründe ersichtlich, die der Auslieferung nach den Bestimmungen des IRG entgegenstehen. Der Verfolgte besitzt nicht die d. Staatsangehörigkeit.

aa)

Die Auslieferung ist nicht gemäß § 9 IRG unzulässig. Denn gegen den Verfolgten ist in Deutschland kein Strafverfahren geführt und im Sinne des § 9 Nr. 1 IRG beendet worden. Nach deutschem Recht wäre die Tat auch nicht verjährt (§ 9 Nr. 2 IRG).

bb)

Der beantragten Zulässigkeitserklärung steht auch das Rechtshilfeverbot des § 73 IRG nicht entgegen.

(1)

Grundsätzlich kann § 73 IRG der Zulässigkeit einer Auslieferung allerdings entgegenstehen, wenn der ersuchende Staat dem Verfolgten Akteneinsicht vollständig verweigert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2019, 2 BvR 1832/19; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. November 2020, Ausl 301 AR 104/19, juris). Denn der Zugang zu den Ermittlungsakten ist eine Voraussetzung dafür, eine sachgerechte Verteidigung vorzubereiten und eine "Waffengleichheit" im Strafverfahren zu ermöglichen; seine Verweigerung kann deshalb eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) begründen (EGMR, Urteil vom 17.02.1997, NStZ 1998, 429 [OLG Stuttgart 11.03.1998 - 1 Ws 28/98]). Ein solcher Verstoß würde zugleich eine Verletzung der Verteidigungsrechte des Beschuldigten aus Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) darstellen, denn die Auslegung des Art. 6 EMRK ist gemäß Art. 52 Abs. 3 GrCh auch zur Bestimmung der Gewährleistung von Art. 48 GrCh heranzuziehen (vgl. EuGH, Urteil vom 06. November 2012, C-199/11).

Durch die Richtlinie 2012/13/EU wurden die mit Art. 6 EMRK und Art. 48 Abs. 2 GrCh garantierten Verteidigungsrechte durch detailliertere Bestimmungen konkretisiert (vgl. Erwägungsgrund 8 zur RL 2012/13/EU). Artikel 7 Abs. 1 dieser Richtlinie verpflichtet die Mitgliedsstaaten, einem Beschuldigten im Falle seiner Inhaftierung alle für die Anfechtung der Haft wesentlichen Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Artikel 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie bestimmen ferner, dass dem Beschuldigten zur Vorbereitung seiner Verteidigung rechtzeitig Einsicht in die Beweismittel zu gewähren ist, spätestens mit Einreichung der Anklageschrift.

(2)

Ein Verstoß gegen diese Verteidigungsrechte des Verfolgten liegt im vorliegenden Fall nicht vor.

Es ist im Lichte der europarechtlichen Regelungen nicht zu beanstanden, dass die p. Behörden dem Verfolgten während der Auslieferungshaft keine Einsicht in die Ermittlungsakten gewährt haben. Denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes gilt das Recht aus Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU nicht für Personen, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden (EuGH, Urteil vom 28.01.2021, C-649/19).

Ein entsprechender Anspruch kann auch nicht unmittelbar aus Art. 6 EMRK oder Art. 48 Abs. 2 GrCh abgeleitet werden, denn diese stellen selbst - ebenso wenig wie Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU - keine Vorgaben dazu auf, zu welchem Zeitpunkt dem Beschuldigten die Unterlagen zur Verfügung zu stellen sind. Auch der Europäische Gerichtshof geht deshalb davon aus, dass das Recht eines Beschuldigten auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz nicht allein deshalb verletzt ist, weil er erst nach seiner Übergabe an die zuständigen Behörden des um Auslieferung ersuchenden Staates Einsicht in die Verfahrensakte nehmen kann (EuGH, Urteil vom 28.01.2021, C-649/19).

(3)

Eine Verletzung der Verteidigungsrechte des Verfolgten, die das Rechtshilfeverbot des § 73 Satz 2 IRG auslösen würde, ist auch in der Zeit nach seiner Übergabe an die p. Behörden nicht zu erwarten.

Denn die p. Behörden haben auf Nachfrage des Senats mitgeteilt, dass der Verfolgte in P. unverzüglich vernommen werden und ihm anschließend - unabhängig von seinem Aussageverhalten - Akteneinsicht gewährt werden wird. Nach der Erklärung der p. Behörden werden dabei alle möglichen Handlungen unternommen, um den Zeitraum bis zur Vernehmung möglichst kurz zu halten. Abhängig vom Ort der Überstellung, der Terminvereinbarung mit seinem Verteidiger und möglicher Infektionsschutzmaßnahmen solle dies nicht länger als 14 Tage dauern.

Dieses Vorgehen der p. Behörden begegnet zwar noch insoweit Bedenken, als dem Verfolgten auch während der in P. zu vollziehenden Untersuchungshaft zumindest bis zu seiner Vernehmung weiterhin keine Akteneinsicht gewährt werden soll und dadurch das in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU vorgesehene Recht des Verfolgten berührt sein könnte.

Allerdings rechtfertigt nicht jeder Verstoß gegen Beschuldigtenrechte die Ablehnung von Rechtshilfe gemäß § 73 Satz 2 IRG. Im Rahmen einer europarechtskonformen Auslegung des Rechtshilfeverbots ist vielmehr die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu berücksichtigen, der für die Ablehnung einer Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls verlangt, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt verletzt wird (EuGH, Urteil vom 25.07.2018, C-216/18; vgl. zu diesem Maßstab KG, Beschluss vom 03. April 2020, (4) 151 AuslA 201/19 (234/19), juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. Juni 2019, 4 AR 38/19, juris; OLG Bremen, Beschluss vom 07. September 2018, 1 Ausl A 31/18, juris).

Diese Rechtsprechung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach Verstöße gegen Art. 6 EMRK nur ausnahmsweise von Verfassungs wegen ein Auslieferungshindernis begründen, namentlich wenn diese einer Zerstörung des Wesensgehalts des durch Art. 6 EMRK garantierten Rechts gleichkommen (BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 2018, 2 BvR 107/18; BVerfG, Beschluss vom 04. Dezember 2019, 2 BvR 1832/19). Im Hinblick auf die Beschränkung von Akteneinsicht hat das Bundesverfassungsgericht dies im Falle einer vollständigen Verweigerung von Akteneinsicht in einem Strafverfahren für möglich gehalten (BVerfG, Beschluss vom 04. Dezember 2019, 2 BvR 1832/19).

Hieran gemessen kann das von den p. Behörden angekündigte Vorgehen ein Rechtshilfeverbot gemäß § 73 Satz 2 IRG nicht begründen. Denn sie beabsichtigen nicht, dem Verfolgten die Akteneinsicht vollständig zu verweigern. Absehbar ist vielmehr eine um höchstens zwei Wochen verzögerte Gewährung von Akteneinsicht. Eine solche Verzögerung verletzt selbst dann, wenn sie gegen Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU verstößt, nicht den Wesensgehalt der Verfahrensrechte des Verfolgten aus Art. 6 EMRK und Art. 48 Abs. 2 GrCh. Denn der Verfolgte behält trotz der Verzögerung die Gelegenheit, seine Verteidigung vor Beginn des Hauptverfahrens aufgrund einer vollständigen Akteneinsicht vorzubereiten, und damit sein in Art. 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2012/13/EU konkretisiertes bedeutsames Verteidigungsrecht. Der von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU konkretisierte Teilaspekt seines Verteidigungsrechts, gegen die Haftanordnung vorzugehen, kann durch das absehbare Vorgehen demgegenüber zwar in zeitlicher Hinsicht beeinträchtigt sein. Die kurze Dauer des bis zur Vernehmung des Verfolgten vergehenden Zeitraums spricht dabei aber dagegen, dies als wesentliche Beeinträchtigung seines über diesen Gesichtspunkt deutlich hinausgehenden Rechts aus Art. 6 EMRK und Art. 48 Abs. 2 GrCh anzusehen. Dies gilt umso mehr, als die p. Behörden um eine Beschleunigung bemüht sind und der Vernehmungstermin maßgeblich von Umständen außerhalb des behördlichen Einflussbereichs mitbestimmt wird. Da zudem die Akteneinsicht nach Mitteilung der p. Behörden auch unabhängig vom Aussageverhalten des Verfolgten gewährt wird, ist eine den Wesensgehalt seiner Verteidigungsrechte berührende Verschlechterung seiner Stellung infolge der Verzögerung insgesamt nicht anzunehmen.

d)

Der Auslieferung stehen keine Bewilligungshindernisse nach § 83b Abs. 1 und 2 IRG entgegen.

Insbesondere liegen die Voraussetzungen eines Bewilligungshindernisses gemäß § 83b Abs. 2 Nr. 1 IRG nicht vor. Der Verfolgte hat zwar in D. seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort, gemäß § 80 Abs. 1 IRG wäre aber unter den gegebenen Umständen auch die Auslieferung eines D. zulässig. Denn die Generalstaatsanwaltschaft hat bereits erklärt, die Auslieferung nur unter der Bedingung einer Rücküberstellung zur Strafvollstreckung zu bewilligen (§ 80 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IRG). Die ihm zur Last gelegte Tat weist auch einen maßgeblichen Bezug zu P. auf (§ 80 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 IRG). Denn ausweislich der Erklärung der p. Behörden erfolgte die Tat im Rahmen eines organisierten Vorgehens, bei dem von einer Gruppe p. Staatsangehöriger - aus der zwei Mittäter des Verfolgten wegen dieser Tat bereits in P. verurteilt worden sind - Marihuana aus S. nach P. und D. sowie aus D. nach P. geschmuggelt wurde.

Die vom Senat vollumfänglich zu prüfenden Ermessenerwägungen der Generalstaatsanwaltschaft sind danach insgesamt zutreffend.

3.

Der Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 3. Februar 2021 bleibt wegen fortdauernder Fluchtgefahr aufrechterhalten. Der Haftfortdauer steht insbesondere nicht entgegen, dass der p. Haftbefehl zeitlich befristet ist und die angeordnete Haftdauer bei Anrechnung der Auslieferungshaft bereits verbraucht wäre. Denn im Regelfall ist davon auszugehen, dass die Frist erst ab Überstellung des Verfolgten zu laufen beginnt, weil erst dann die nach p. Recht notwendige Vernehmung erfolgen kann (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 3. April 2006, 1 AK 3/06). Dies trifft auch auf den vorliegenden Fall zu.

Der Auslieferungshaftbefehl bleibt aber - dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft entsprechend - nach Maßgabe des Beschlusses vom 3. März 2021 außer Vollzug gesetzt (§ 25 IRG).