Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 02.08.2012, Az.: 2 B 490/12

Dublin II Verordnung; Italien; einstweiliger Rechtsschutz; Statthaftigkeit

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
02.08.2012
Aktenzeichen
2 B 490/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 44449
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Ist ein Überstellung- bzw. Wiederaufnahmeverfahren nach der Dublin-II-Verordnung noch nicht eingeleitet, ist ein Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO nur mit dem Ziel statthaft, zwischen Zustellung der Abschiebungsanordnung und der Rückführung eine ausreichende Frist zu belassen, um einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zu stellen.

Gründe

Der Antrag der Antragsteller,

der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung der Antragsteller nach Italien vorläufig zu untersagen,

hilfsweise,

im Wege einer einstweiligen Anordnung die Antragsgegnerin zu verpflichten, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung der Antragsteller nach Italien vorläufig auszusetzen und – soweit bereits eine Abschiebungsanordnung erlassen und der zuständigen Ausländerbehörde übergeben wurde – der Antragsgegnerin aufzugeben, der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Abschiebung der Antragsteller nach Italien nicht durchgeführt werden darf,

hat nur im tenorierten Umfang Erfolg.

In der Vergangenheit hat die Kammer Anträge nach § 123 Abs. 1 VwGO für statthaft und ggf., z.B. auch in Bezug auf Italien, für begründet gehalten, um dem Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG Genüge zu tun. Dies hätte in Fällen wie diesem, in dem das Wiederaufnahmeverfahren nach Art. 20 EG-AsylZustVO (Dublin-II-Verordnung) noch nicht einmal eingeleitet ist, zur Folge dass es systemwidrig zu einem Ausschluss des Hauptsacheverfahrens kommen würde, weil die Antragsgegnerin durch die einstweilige Anordnung gehindert würde, das Dublin-II-Verfahren überhaupt in Gang zu setzen. Dadurch würde die Hauptsache in unzulässiger Weise vorweggenommen. Zumindest in den Fällen, in denen ein Überstellungs- oder Aufnahmeverfahren nach Art. 19 und 20 Dublin-II-Verordnung noch nicht eingeleitet ist, hält die Kammer an ihrer bisherigen Rechtsprechung nicht mehr fest. Zur Sicherung des Anspruchs des Antragstellers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes reicht es aus, die Antragsgegnerin wie tenoriert zu verpflichten, weil der Antragsteller dann einstweiligen Rechtsschutz im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO finden kann. Nur insoweit ist der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft. Der weitergehende Antrag des Antragstellers ist daher abzulehnen.

Für das solchermaßen ausgelegte Begehren besteht ein Rechtsschutzbedürfnis.

Trotz der grundsätzlichen Unstatthaftigkeit einstweiligen Rechtsschutzes in sog. Dublin-II-Verfahren nach § 34 a AsylVfG muss es dem Ausländer möglich sein, geltend zu machen, dass in seinem Fall Gründe vorliegen, die nicht vom Programm der normativen Vergewisserung erfasst sind oder, dass der Aufnahmestaat nicht die europarechtlichen Mindeststandards eines Asylverfahrens erfüllt (OVG Lüneburg, Beschluss vom 2.5.2012 -13 MC 22/12, zitiert nach juris). Für letzteres gibt es im Hinblick auf Italien und in Bezug auf den Antragsteller gewichtige Anhaltspunkte. Insoweit ist zunächst auf den Beschluss der Kammer in dieser Sache vom 14. November 2011 -2 B 240/11- Bezug zu nehmen. Aktuell findet die Auffassung, dass Italien nicht die Kernanforderungen des EU Flüchtlingsrechts erfüllt z.B. Unterstützung durch das VG Magdeburg, Beschluss vom 17.07.2012 -9 B 148/12-, zitiert nach juris. Der Antragsteller wird sich auch auf die Auskunft des UNHCR an das VG Braunschweig vom 24. April 2012 berufen können, wonach Unterkunft, Ernährung und medizinische Versorgung in Italien nicht sichergestellt ist, wenn ein Zeitraum von sechs Monaten ab formaler Antragstellung überschritten ist. Ebenso wenig gibt es danach ein europarechtskonformes Asylverfahren für besonders schutzbedürftige Asylbewerber. Zu diesem Personenkreis gehören die Antragsteller, die ihre Asylanträge in Italien im Juli 2011 gestellt haben. Zudem ist der Antragsteller zu 1.) als alter Mensch besonders schutzbedürftig im Sinne von Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (Abl L 31/18 vom 6. Februar 2003).

Das Gericht geht davon aus, dass es dem Antragsteller möglich sein wird, rechtzeitig effektiven Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO zu erlangen. Mit Erlass den Nds. Innenministerium vom 23. Juli 2012 –A 11.10-46119/41-1- ist mitgeteilt worden, dass die bisherige Amtshilfepraxis, dass Bescheide im Dublin-II-Verfahren nach Möglichkeit erst am Überstellungstag ausgehändigt werden sollen, aufgegeben wird. Die Ausländerbehörden stellen nunmehr unverzüglich zu. Nur durch Verzögerungen bei der Antragsgegnerin, die diese nach telefonischer Rücksprache nicht ausschließen konnte, kann es noch vorkommen, dass die Frist zwischen Zustellung der Entscheidung und Rücküberstellungsdatum für einen effektiven Rechtsschutz zu kurz bemessen ist. Dem vorzubeugen dient diese einstweilige Anordnung.