Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 22.09.2009, Az.: 2 Ws 206/09
Einbeziehung einer nach allgemeinen Strafrecht rechtskräftig abgeurteilten Tat gegen einen Heranwachsenden; Erforderlichkeit einer ausdrücklichen Ergänzungsentscheidung; Vertrauensschutz bei einer das gesetzliche Höchstmaß überschreitenden Festsetzung der Bewährungszeit
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 22.09.2009
- Aktenzeichen
- 2 Ws 206/09
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2009, 24567
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2009:0922.2WS206.09.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Stade - 05.08.2009 - AZ: 10 BRs 42/06
Rechtsgrundlagen
- § 31 Abs. 2 S. 1 JGG
- § 66 Abs. 1 S. 1 JGG
- § 105 Abs. 2 JGG
- § 109 Abs. 2 S. 2 JGG
Fundstelle
- NStZ-RR 2010, 27
Amtlicher Leitsatz
1. Wird bei der Festsetzung der Bewährungszeit das gesetzliche Höchstmaß überschritten, bleibt ein Widerruf wegen erneuter Straftaten unter Berücksichtigung des Vertrauensschutzes möglich.
2. Ist bei Verurteilung eines Heranwachsenden die Einbeziehung einer nach allgemeinen Strafrecht rechtskräftig abgeurteilten Tat gemäß den §§ 105 Abs. 2, 31 Abs. 2 S. 1 JGG unterblieben, so ist diese durch eine Ergänzungsentscheidung gemäß §§ 109 Abs. 2 S. 2, 66 Abs. 1 S. 1 JGG nachzuholen, und zwar auch dann, wenn beabsichtigt ist, die beiden Sanktionen nebeneinander bestehen zu lassen.
3. Die Ablehnung einer rechtlich möglichen Einbeziehung durch eine Ergänzungsentscheidung nach § 66 Abs. 1 JGG darf nicht stillschweigend erfolgen, sondern ist ausdrücklich durch Beschluss auszusprechen.
Tenor:
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der 2. großen Strafkammer als Jugendkammer des Landgerichts Stade vom 05.08.2009 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil der Jugendkammer des Landgerichts Stade vom 18.05.2006 wegen Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sieben Fällen sowie wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu einer Jugendstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Jugendstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, die Bewährungszeit auf 4 Jahre festgesetzt. Bereits am 09.05.2006 war der Beschwerdeführer durch Urteil des Amtsgerichts Stade wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten verurteilt und auch schon die Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe war zur Bewährung ausgesetzt worden. Die Verurteilung vom 09.05.2006 fand in dem Urteil der Jugendkammer vom 18.05.2006 keine Erwähnung. Die Möglichkeit einer Einbeziehung wurde nicht erörtert.
Am 07.05.2008 erkannte das Landgericht Stade gegen den Beschwerdeführer wegen Geiselnahme in Tateinheit mit Körperverletzung auf eine Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 10 Monaten. Das Urteil ist seit dem 28.01.2009 rechtskräftig. Wegen der erneuten Straftat widerrief die Jugendkammer mit Beschluss vom 05.08.2009 die Strafaussetzung zur Bewährung. Gegen den Widerrufsbeschluss wendet sich der Beschwerdeführer mit der sofortigen Beschwerde.
II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig (§§ 453 Abs. 2, 311 StPO i. V. m. § 2 Abs. 2 JGG). Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
Die Jugendkammer hat die Strafaussetzung zu Recht widerrufen. Die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Nr. 1 JGG sind gegeben. Der Verurteilte hat innerhalb der Bewährungszeit eine schwerwiegende Straftat begangen und dadurch gezeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat.
Dem Widerruf steht auch nicht entgegen, dass das Landgericht bei der Festsetzung der Bewährungszeit mit 4 Jahren die gesetzliche Obergrenze des § 22 Abs. 1 S. 2 JGG von drei Jahren überschritten hat. Die Rechtswirkungen der Strafaussetzung zur Bewährung, insbesondere die Bedingung einer straffreien Führung, treten mit Aussetzung der Vollstreckung sogar dann ein, wenn überhaupt kein Bewährungsbeschluss erlassen wurde (vgl. OLG Düsseldorf, StV 2008, 512). Eine lediglich fehlerhafte Bestimmung der Bewährungszeit lässt daher die sich aus der Strafaussetzung ergebenden Pflichten und die Möglichkeit zum Widerruf erst recht nicht entfallen.
Die Bewährungszeit begann mit Rechtskraft der Verurteilung zu Jugendstrafe, also am 18.05.2006. Tatzeit der neuen Tat war der 01.04.2007. Zwischen dem Beginn der Bewährungszeit und der Tat lag somit weniger als 1 Jahr. Es kann daher offen bleiben, ob die fehlerhafte Anordnung der Bewährungszeit durch die vom Gesetz vorgesehene höchstmögliche Bewährungszeit oder deren Mindestmaß von 2 Jahren zu ersetzen ist. Die erneute Straftat fällt zweifelsfrei in einen Zeitraum, in dem der Verurteilte unter Bewährung stand.
Allerdings erging der Widerrufsbeschluss erst am 05.08.2009 und damit außerhalb der gesetzlich zulässigen Bewährungszeit. Ein Bewährungswiderruf kann aber auch noch nach Ablauf der Bewährungszeit erfolgen (ganz allg. Meinung, vgl. BGH NStZ 98, 586; Fischer, 56. Auflage, § 56f StGB, Rn. 19 m. w. N.) Er wird aus Gründen des Vertrauensschutzes erst dann unzulässig, wenn die Entscheidung aufgrund von Umständen, die im Verantwortungsbereich der Justiz liegen, ungebührlich lang herausgezögert wurde und bei dem Verurteilten ein schützenswertes Vertrauen darauf entstehen konnte, ein Widerruf werde nicht mehr erfolgen (vgl. OLG Düsseldorf, NStZ-RR 1997, 254; OLG Celle, NStZ 1991, 206).
Hier ergeben sich keine Anhaltspunkte für ein solches Vertrauen. Die Jugendkammer hat das Widerrufsverfahren nach Rechtskraft der erneuten Verurteilung zügig eingeleitet. Zudem befand sich der Beschwerdeführer bereits seit dem 31.03.2007 in Untersuchungshaft und konnte angesichts der Schwere der ihm nunmehr zur Last gelegten Tat nicht damit rechnen, dass das neue Verfahren in der Bewährungssache ohne Konsequenzen bleiben würde.
Die Jugendkammer hat in ihrer Widerrufsentscheidung zutreffend dargelegt, dass mildere Maßnahmen nicht ausreichen. Der erneuten Verurteilung liegt eine schwerwiegende Straftat zugrunde, durch die die Aussetzungsprognose nachhaltig erschüttert wurde. Irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass sich diese Prognose zwischenzeitlich wieder verbessert hätte, sind nicht ersichtlich.
III.
Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass die Jugendkammer ungeachtet des Widerrufs eine nachträgliche Entscheidung gemäß §§ 66 Abs. 1 S. 1, 31 Abs. 2 S. 1, 105 Abs. 2, 109 Abs. 2 S. 2 JGG zu treffen und zu entscheiden hat, ob eine Zusammenfassung der durch ihr Urteil vom 18.05.2006 und durch Urteil des Amtsgerichts Stade vom 09.05.2006 ausgesprochenen Sanktionen erfolgen soll (vgl. Eisenberg, 13. Auflage, § 105, Rn. 44; Ostendorf, 6. Auflage, § 105 JGG, Rn. 28). Eine Einbeziehung der nach allgemeinem Strafrecht am 09.05.2006 rechtskräftig abgeurteilten Tat hätte gemäß § 105 Abs. 2 JGG bereits im Urteil vom 18.05.2006 erfolgen können und ist nunmehr durch eine Ergänzungsentscheidung gemäß § 66 Abs. 1 S. 1 JGG nachzuholen. § 66 Abs. 1 S. 2 JGG entfaltet keine Sperrwirkung, da eine Einbeziehung des amtsgerichtlichen Urteils nicht ausdrücklich unter Anwendung des § 31 Abs. 3 JGG abgelehnt wurde. Die Entscheidung über eine Einbeziehung ist vielmehr unterblieben, ohne dass sich aus dem Urteil ein Grund ersehen ließe. Einem nachträglichen Beschluss gemäß § 66 Abs. 1 S. 1 JGG steht auch nicht entgegen, dass das einzubeziehende Urteil ausschließlich wegen einer als Erwachsener verübten Straftat ergangen ist (vgl. BGH 37, 34).
Die Einleitung des nachträglichen Verfahrens hat nunmehr von Amts wegen zu erfolgen (vgl. Eisenberg, a. a. O., § 66 JGG, Rn. 23), und zwar selbst dann, wenn die Jugendkammer beabsichtigen sollte, die Freiheitsstrafe gemäß §§ 66 Abs. 1, 31 Abs. 3 JGG neben der Jugendstrafe bestehen zu lassen. Auch eine Ablehnung der Einbeziehung darf nicht stillschweigend erfolgen, sondern ist in einer Ergänzungsentscheidung ausdrücklich auszusprechen (vgl. BGH NJW 07, 447; Eisenberg, a. a. O., § 66 JGG, Rn. 8).
IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1. S. 1 StPO.