Oberlandesgericht Braunschweig
Urt. v. 28.02.2019, Az.: 9 U 129/15

Ansprüche auf Schmerzensgeld und Schadensersatz wegen eines behaupteten Befunderhebungsfehlers; Verspätete Diagnose einer Krebserkrankung

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
28.02.2019
Aktenzeichen
9 U 129/15
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 25901
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Braunschweig - 12.11.2015 - AZ: 4 O 3112/11

Amtlicher Leitsatz

1. Ist ein Arzt wegen eines Behandlungsfehlers zum Schadensersatz verpflichtet, ist es ihm zwar nicht grundsätzlich verwehrt, sich auf ein Mitverschulden des Patienten zu berufen. Bei der Bejahung mitverschuldensbegründender Obliegenheitsverletzungen des Patienten ist allerdings Zurückhaltung geboten (BGH, Urt. v. 17.12.1996 - VI ZR 133/95, juris-Rn. 13).

2. Im Allgemeinen obliegt es zwar dem Patienten, grundsätzlich einen Arzt aufzusuchen, wenn eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes dies nahelegt (vgl. OLG München vom 23.09.2004 - 1 U 5198/03, juris-Rn. 83). Es hängt indes von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab, wann die Nicht-Konsultation eines Arztes diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt.

3. Treten bei dem Patienten erneut Symptome (hier: Darmblutungen) auf, für die aufgrund der vorangegangenen, auf unzureichender Befunderhebung basierenden Diagnose des Arztes dem Patienten Erklärungen (hier: Hämorrhoiden und Analfissur) genannt wurden, die keine zeitnahe Wiedervorstellung nahelegen, so stellt es keinen ein Mitverschulden begründenden Sorgfaltsverstoß dar, wenn sich der Patient beim Wiederauftreten der Symptome nicht sofort wieder in Behandlung begibt. Vielmehr darf insoweit der Patient zumindest eine Zeit lang darauf vertrauen, dass keine ernsthafte Erkrankung (hier: Darmkrebs) vorliegt.

4. Ist einem Arzt durch schuldhaftes Unterlassen der gebotenen Befunderhebung nach dem Grundsatz des groben Behandlungsfehlers zuzurechnen, dass eine an Darmkrebs erkrankte 47-jährige Patientin nach 4 ½ Jahren Überlebenszeit mit zahlreichen belastenden Therapien und Operationen verstorben ist, indem ihr die Chance auf eine zeitgerechte, weniger invasive Behandlung von 4-5 Monaten mit vollständiger Genesung genommen wurde, so ist die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 70.000,00 € angemessen und keinesfalls überhöht.

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 12. November 2015 - 4 O 3112/11 - wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Dieses und das vorbezeichnete Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 12. November 2015 - 4 O 3112/11 - sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht die Klägerinnen vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf die Wertstufe bis 125.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Klägerinnen machen als Erbinnen nach der verstorbenen, ehemaligen Klägerin M. F. (nachfolgend: Erblasserin) gegen den Beklagten als behandelnden Arzt Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche wegen eines behaupteten Befunderhebungsfehlers im Zusammenhang mit einer Behandlung der Erblasserin ab dem 31.08.2007 geltend.

Die Erblasserin stellte sich nach Überweisung des Internisten Dr. S. am 31.08.2007 wegen zum Teil spritzender Blutungen aus dem Anus beim Beklagten vor, der Hämorrhoiden und eine Analfissur diagnostizierte und behandelte. Eine erneute Vorstellung erfolgte am 09.10.2007. Eine Darmspiegelung (Koloskopie) oder eine Mastdarmspiegelung (Rektoskopie) wurden von dem Beklagten nicht veranlasst. Auf das Schreiben vom 11.10.2007 an den überweisenden Arzt Dr. S. (Bl. 152 d. A.), in dem der Beklagte mitteilte, dass bei Beschwerdefreiheit zunächst keine weiteren Sitzungen geplant seien und eine ergänzende hohe Koloskopie nicht zwingend erforderlich sei, wird Bezug genommen.

Vom 13.05.2008 bis zum 15.05.2008 befand sich die Erblasserin in stationärer Behandlung im Klinikum L.. Das Klinikum L. diagnostizierte Darmkrebs bei der Erblasserin, der bereits in die Leber metastasiert hatte. Im vorläufigen Entlassungsbrief vom 15.05.2008 (vgl. Anlage K1, K27, Bl. 13-15) heißt es zur Anamnese und zum Aufnahmegrund: "Die Patientin berichtet von seit ca. 6 Monaten bestehenden Diarrhoen (ca. 6 bis 7 Mal täglich) mit hellroten Blutauflagerungen sowie ausgeprägtem Meteorismus. Darüber hinaus habe sie eine zunehmende Müdigkeit und Schlappheit seit ca. 6 Monaten bemerkt." Die Erblasserin musste sich in der Folgezeit zahlreichen Behandlungen (u.a. Operationen, mehreren Chemotherapien) unterziehen.

Die Erblasserin nahm wegen der unterbliebenen Darmspiegelung einen groben Behandlungsfehler des Beklagten an und behauptete, dass bei Durchführung der Darmspiegelung der Tumor früher erkannt und seine Vergrößerung sowie die Metastasenbildung verhindert worden wären. Nach erfolgloser außergerichtlicher Aufforderung hat sie im Dezember 2011 Klage erhoben. Am 13.12.2012 verstarb die Erblasserin an den Folgen ihrer Krebserkrankung. Sie ist von den Klägerinnen beerbt worden, die den Rechtsstreit aufgenommen haben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands I. Instanz und der darin gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils (S. 3 - 6 LGU = Bl. 394 - 397 d. A.) Bezug genommen.

Das Landgericht hat der Klage nahezu vollumfänglich stattgegeben und dies wie folgt begründet:

Der Beklagte hafte den Klägerinnen aus §§ 823 Abs. 1, 280 Abs. 1, 611, 249 ff., 1922 Abs. 1 BGB auf materiellen Schadensersatz und Schmerzensgeld. Ihm sei anlässlich der Behandlung vom 31.08.2007 ein Behandlungsfehler in Form eines Befunderhebungsfehlers vorzuwerfen.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme aufgrund des eingeholten Gutachtens des Sachverständigen Priv.-Doz. Dr. B. und dessen ergänzenden Ausführungen in der mündlichen Verhandlung hätte jedenfalls eine Rektoskopie durchgeführt werden müssen. Für die Klägerinnen ergebe sich danach eine Beweiserleichterung, weil bei Durchführung der Rektoskopie ein reaktionspflichtiger Befund, namentlich ein Darmkrebsbefund oder eine Vorstufe, hinreichend wahrscheinlich und das Nichtreagieren auf diesen Befund ein grober Behandlungsfehler gewesen wäre. Diese Beweiserleichterung umfasse die geltend gemachten Behandlungsfehlerfolgen, und zwar nicht nur das Fortschreiten des Tumors, sondern auch die Metastasierung und die daraus resultierenden weiteren Krankheitsfolgen einschließlich des Todes. Ob es sich hierbei um unmittelbare Behandlungsfehlerfolgen handele, könne offenbleiben, weil es sich jedenfalls um typische Folgen des Primärschadens handele, deren Verhinderung die frühzeitige Diagnostik dienen solle.

Dem Beklagten sei der ihm obliegende Beweis, dass die um neun Monate verspätete Diagnose der Krebserkrankung bzw. ihrer Vorstufe für den weiteren Krankheitsverlauf nicht ursächlich geworden sei, nur teilweise gelungen: Von dem Beklagten bewiesen sei lediglich das schicksalhafte Vorliegen eines Tumorstadiums T2 im August 2007, nicht jedoch bereits das Stadium T3/T4. Der Sachverständige habe in seiner mündlichen Anhörung zwar ausgeführt, dass mit "überwiegender" Wahrscheinlichkeit bereits ein Tumorstadium T3/T4 bestanden habe. Diese Aussage habe der Sachverständige in Abgrenzung zu seiner direkt zuvor abgegebenen Aussage, dass ein Tumorstadium von (nur) T1 mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit (99,9%) im August 2007 ausgeschlossen werden könne, gemacht. Dies bedeute im Umkehrschluss, dass mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bereits zumindest ein Stadium T2 vorgelegen habe. Aus dem Zusammenspiel beider Aussagen folge aber weiter, dass der Nachweis nach § 286 ZPO für ein Stadium T3/T4 im August 2007 nicht erbracht sei. Eine nur überwiegende Wahrscheinlichkeit bedeute, dass eine nicht zu vernachlässigende und daher vernünftige Zweifel an der Kausalität begründende Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, dass das Stadium T3/T4 noch nicht erreicht gewesen sei.

Hinsichtlich der Metastasen habe der Sachverständige ausgeführt, dass er mit einer Wahrscheinlichkeit zwischen 50% und 75% davon ausgehe, dass bereits im August 2007 eine Metastasierung stattgefunden habe. Die verbleibende Wahrscheinlichkeit von 25%, dass eine entsprechende Metastasierung damals noch nicht stattgefunden habe, stehe aber einer für § 286 ZPO erforderlichen Überzeugung entgegen.

Nach alledem sei festzustellen, dass im August 2007 zwar schon ein Tumorstadium T2 bestanden habe und die Erblasserin daher einer neodjuvanten Chemotherapie, einer Operation sowie einer Nachbehandlung durch Chemotherapie und Bestrahlung bedurft hätte, der Erblasserin aber nach dieser Behandlung die weiteren Chemotherapien und Leiden wegen aufgetretener Metastasen erspart geblieben wären.

Ob die bei der Erblasserin im August 2007 aufgetretenen Blutungen überhaupt vom Tumor hergerührt hätten, sei unerheblich, weil auch im Zusammenhang mit einer erforderlichen Untersuchung zu erwartende Zufallsbefunde grundsätzlich zu einer Haftung des behandelnden Arztes, der die erforderlichen Untersuchungen unterlassen habe, führen würden.

Die danach bestehenden Schadensersatzansprüche seien auch nicht anteilig gemäß § 254 BGB wegen eines Mitverschuldens der Erblasserin zu kürzen. Selbst wenn nach der abschließenden Untersuchung beim Beklagten im Oktober 2007 zu den vorhandenen rektalen Blutungen Durchfall, Müdigkeit und Erschöpfung als neue Symptome hinzugekommen seien, sei der Erblasserin kein Mitverschulden anzulasten. Grundsätzlich könne nämlich ein Patient, der vom Arzt die Mitteilung erhalten habe, nicht krank zu sein, auf diese Einschätzung des Arztes vertrauen. Bei den Blutungen sei es nachvollziehbar, dass die Erblasserin diese auf ein Hämorrhoidenleiden zurückgeführt habe. Durchfälle bzw. Verdauungsbeschwerden und Müdigkeit seien Symptome, die einen Patienten nicht zwangsläufig dazu veranlassten, an eine ernsthafte Erkrankung im Sinne eines Darmkrebses zu denken. Deshalb sei es durchaus nachzuvollziehen, dass die Erblasserin zunächst einige Monate zugewartet habe, bis sie sich erneut in ärztliche Behandlung begeben habe.

Das Landgericht hat deshalb und unter Bezugnahme anderer gerichtlicher Entscheidungen ein Schmerzensgeld in Höhe von 70.000,00 € für erforderlich, aber auch ausreichend angesehen. Dabei hat es insbesondere das Alter der Erblasserin (1960 geboren, d. h. im Zeitpunkt des Befunderhebungsfehlers 47 Jahre) und die wiederholten Chemotherapien mit einem sich immer weiter verschlimmernden Krankheitsbild berücksichtigt. Das Landgericht hat bei der Bemessung des Schmerzensgeldes auch zugrunde gelegt, dass davon auszugehen sei, dass sich die Erblasserin einer belastenden zweimaligen Chemotherapie nebst Operation und Bestrahlung auch bei Diagnose der Erkrankung bereits im August 2007 hätte unterziehen müssen.

Den begehrten Verdienstausfallschaden hat das Landgericht erst für die Zeit ab dem 01.03.2009 und in Höhe von insgesamt 42.243,83 € zugesprochen. Für die Zeit davor müssten sich die Klägerinnen im Wege der Vorteilsausgleichung den Verdienstausfall anrechnen lassen, den die Erblasserin erlitten hätte, wenn die Krebserkrankung aufgrund der Durchführung der erforderlichen Rektoskopie bereits im August 2007 erkannt worden wäre. Ausgehend von dem tatsächlichen Behandlungsverlauf von Mitte Mai 2008 bis zum Ende der postoperativen ersten Chemotherapie Mitte November 2008 unter Hinzurechnung einer unterstellten Rekonvaleszenz von weiteren 3 Monaten ergebe sich eine gemäß § 287 ZPO geschätzte Arbeitsunfähigkeit nach unterstellter frühzeitiger Diagnose von 9 bis 10 Monaten, so dass erst ab dem 01.03.2009 Verdienstausfall verlangt werden könne. Auf dieser Grundlage hat das Landgericht einen Schadensersatzanspruch aus Verdientsausfall für den Monat März 2009 in Höhe 380,33 € (Differenz zwischen Nettoverdienst 1.774,73 € und Krankengeld 1.394,40 €), für den Zeitraum April 2009 bis Dezember 2011 in Höhe von 30.718,05 € (Differenz zwischen Nettoverdienst iHv 58.566,09 € und Erwerbsunfähigkeitsrente iHv 27.848,04 €) und für das Jahr 2012 in Höhe von 11.145,84 € (Differenz zwischen Nettoverdienst iHv 1.774,73 €/mtl und Erwerbsunfähigkeitsrente 845,94 €/mtl) zuerkannt.

Ein Anspruch auf Erstattung außergerichtlicher Anwaltskosten stehe den Klägerinnen nicht zu, weil dieser auf die Rechtsschutzversicherung übergegangen sei. Die Zinsansprüche nach §§ 288, 286 BGB richteten sich nach der Zustellung der Klageschrift am 11.01.2012.

Die Kostenentscheidung folge aus §§ 92 Abs. 2, 91a ZPO. Soweit der Rechtsstreit wegen des Todes der Erblasserin in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt worden sei (Rente), seien die Kosten dem Beklagten nach billigem Ermessen aufzuerlegen, weil die weitergehenden Rentenanträge im Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses begründet gewesen seien. Hinsichtlich der Klagerücknahme über 3.100,00 € und der teilweisen Abweisung bezüglich des Verdienstausfallschadens in Höhe von 3.317,28 € sei die Zuvielforderung im Verhältnis zum Gesamtstreitwert geringfügig gewesen, § 92 Abs. 2 ZPO.

Gegen dieses seinem Prozessbevollmächtigten am 16.11.2015 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 16.12.2015, eingegangen beim Oberlandesgericht am selben Tag, Berufung eingelegt (Bl. 419 d. A.) und diese nach antragsgemäß bis zum 15.02.2016 gewährter Fristverlängerung (Bl. 428 d. A.) mit Schriftsatz vom 15.02.2016, eingegangen beim Oberlandesgericht am selben Tag (Bl. 432 d. A.), und ergänzend mit Schriftsatz vom 21.06.2016 begründet.

Zur Begründung führt er an, die Kausalität sei vom Landgericht nicht bzw. nur äußerst ungenügend aufgeklärt worden. Der Beklagte meint, es hätte der Beiziehung "sämtlicher Behandlungsunterlagen" bedurft, um "zu prüfen, welche der einzelnen Behandlungen der Grunderkrankung oder deren Fortschreiten infolge verzögerter Diagnose zuzuordnen" sei.

Fehlerhaft habe das Landgericht den Nachweis eines Tumorstadiums T3/T4 im August 2007 verneint. Die Ausführungen des Sachverständigen zur Wahrscheinlichkeit eines Tumorstadiums T3/T4 seien falsch interpretiert worden. Im schriftlichen Gutachten habe der Sachverständige noch angegeben, dass "mit sehr hoher Sicherheit" bereits im August 2007 ein weit fortgeschrittener Tumor vorgelegen habe, mindestens T3 (S. 15 GA, Bl. 322 d. A.). Im Termin habe er dann erklärt, er gehe "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit" davon aus, dass ein Tumor im Stadium T3 bzw. T4 vorgelegen habe (S. 9 des landgerichtlichen Protokolls, Bl. 382 d. A.). Dieser Widerspruch hätte aufgeklärt und der Sachverständige aufgefordert werden müssen, den sehr allgemeinen Ausdruck "überwiegende Wahrscheinlichkeit" durch Prozentzahlen zu erläutern.

Zur Frage der bereits eingetretenen Metastasierung im August 2007 hätte ein spezielles Gutachten eines Onkologen eingeholt werden müssen, weil die Behandlung eines vom Gastroenterologen diagnostizierten Tumors durch einen Onkologen erfolge. Die vom Sachverständigen zitierten Studien seien von einer anderen Konstellation ausgegangen (Metastasierung nach erfolgter Therapie). Hier sei es aber um die Frage der Wahrscheinlichkeit des Vorliegens von Metastasen bei der Erstdiagnose gegangen, ohne dass der Sachverständige konkret berücksichtigt habe, dass definitiv nach neun Monaten eine Fernmetastasierung vorgelegen habe. Der Sachverständige habe die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit, dass eine Fernmetastasierung bereits im August 2007 gegeben gewesen sei, nicht konkret beantwortet, ebenso wenig die Frage, ob die Fernmetastasierung auch bei frühzeitigerer Diagnose und Behandlung eingetreten wäre. Hier hätte ein Onkologe sich mit dem weiteren Verlauf, dem Beschwerdebild und den einzelnen Diagnosen auseinandersetzen müssen, wobei die erheblichen Beschwerden (bis zu 7x Durchfälle am Tag, starker Meteorismus, Müdigkeit und Schwäche) möglicherweise hätten Hinweise sein können. Auch seien die Widersprüche zwischen schriftlichem Gutachten und den Angaben in der mündlichen Verhandlung zur Höhe des Risikos einer bereits eingetretenen Metastasierung nicht abgeklärt worden.

Vom Sachverständigen gar nicht beantwortet worden sei die Frage, wie der weitere Verlauf gewesen wäre, wenn der Tumor im T3/T4-Stadium im August 2007 diagnostiziert und behandelt worden wäre. Auch in diesem Fall hätte wenig Aussicht auf eine komplette Heilung bestanden.

Die Ausführungen des Landgerichts zur Verneinung des Mitverschuldenseinwandes seien nicht nachvollziehbar. Lediglich Blutungen nach Defäkation bzw. ihr Wiederauftreten hätte die Erblasserin dem Hämorrhoidalleiden zuordnen dürfen. Ihr erneutes Auftreten hätte die Erblasserin stutzig machen müssen, weil ja genau dieses Hämorrhoidalleiden zuvor erfolgreich behandelt worden sei. Zudem seien über Monate persistierende Durchfälle in einer Häufigkeit von 6 bis 7mal am Tag, noch dazu mit Blutauflagerungen, für jeden medizinischen Laien ein deutliches Warnsignal und mit einem Hämorrhoidalleiden nicht mehr zu erklären. Sich mit derart gravierenden Symptomen nicht in ärztliche Behandlung zu begeben, sondern sechs Monate zuzuwarten, sei völlig unverständlich und dem Beklagten nicht zuzurechnen. Zwar setze die Annahme eines Mitverschuldens eine zutreffende und vollständige Therapieanweisung des Arztes voraus, jedoch könne eine Unterrichtung und Therapieanweisung immer nur so vollständig sein, wie die dem Arzt bekannten und durch den Patienten geschilderten Symptome es erlaubten. Die später aufgetretenen, neuen Symptome (Durchfall mit Blutauflagerungen, Meteorismus, Müdigkeit) hätten vom Beklagten jedoch mangels Kenntnis nicht berücksichtigt werden können. Die Klägerseite könne sich daher nicht auf eine unvollständige Therapieentscheidung berufen, die deswegen unvollständig gewesen sei, weil (naturgemäß) hierin eine erst später hinzutretende und dem Beklagten nicht bekannt gemachte Symptomatik nicht berücksichtigt wurde und werden konnte. Es wäre die Verpflichtung der Patientin sich selbst gegenüber gewesen, dem Arzt durch Wiedervorstellung und Schilderung der hinzugetretenen Symptomatik die Möglichkeit zu geben, die Vollständigkeit der ursprünglichen Therapieanweisung im Lichte des geänderten Krankheitsbildes neu zu überprüfen. Der Beklagte habe auch keinen entsprechenden Vertrauenstatbestand geschaffen. Gegenstand seiner Gespräche mit der Erblasserin seien stets nur Lokalreaktionen gewesen, die durch seine Behandlung verschwunden seien. Das Landgericht hätte daher die Frage stellen müssen, wie der weitere Verlauf gewesen wäre, wenn die Erblasserin sich bereits im November oder Dezember 2007 in ärztliche Behandlung begeben hätte. Die weitere Verzögerung sei dem Beklagten nicht zuzurechnen. Wie der weitere Verlauf gewesen wäre, sei offen und müsse durch einen Sachverständigen geklärt werden.

Bei der Höhe des Schmerzensgeldes habe das Landgericht die Frage, wie der genaue Verlauf gewesen sei, welche weiteren Chemotherapien aus welchen Gründen durchgeführt worden seien, nicht einmal ansatzweise aufgeklärt. Die vom Landgericht zitierten Referenzentscheidungen beträfen durchweg deutlich jüngere Frauen als die Erblasserin. Unberücksichtigt geblieben sei die Tatsache, dass die Erblasserin auch bei früherer Diagnose mit dem Krankheitsbild eines weit fortgeschrittenen Tumors mit schlechter Prognose konfrontiert gewesen wäre. Das zugesprochene Schmerzensgeld sei daher übersetzt.

Beim Verdienstausfallschaden bleibe unklar, aufgrund welcher Erkenntnisse das Landgericht zu dem Ergebnis gelangt sei, dass bei frühzeitigerer Diagnose und früher einsetzender Behandlung die Arbeitsfähigkeit ab dem 01.03.2009 wiederhergestellt gewesen wäre. Es hätte eines onkologischen Sachverständigen bedurft, um zu ermitteln, welcher Teil der chemotherapeutischen Behandlung grunderkrankungsbedingt erforderlich und welcher allein durch die verzögerte Diagnose der Grunderkrankung bedingt gewesen sei.

Auch sei es fehlerhaft gewesen, den tatsächlichen Behandlungsverlauf von Mitte Mai 2008 bis zum Ende der postoperativen ersten Chemotherapie Mitte November als Ausgangspunkt für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit zu nehmen. Wäre nämlich der Tumor im August 2007 entfernt worden, wäre zunächst eine neoadjuvante Chemotherapie und dann erst eine Operation mit folgender Chemotherapie durchgeführt worden.

Schließlich sei durch das Landgericht nicht ermittelt worden, worauf die Erwerbsunfähigkeit der Erblasserin beruhte. Ob die Erwerbsunfähigkeit tatsächlich ihren Grund in der verzögerten Diagnose und Behandlung der Erkrankung oder gegebenenfalls in der Grunderkrankung und der deswegen erforderlichen belastenden Therapie habe, sei völlig offen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 12. November 2015 - 4 O 3112/11 - aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerinnen beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerinnen verteidigen das landgerichtliche Urteil. Ergänzend führen sie aus, dass keine Zweifel an der notwendigen Fachkunde und Qualifikation des Sachverständigen bestünden. Er habe auf Frage des Gerichts darauf hingewiesen, dass zur Gastroenterologie-Ausbildung auch eine spezielle Ausbildung für gastroenterologische Tumore gehöre und insofern auch die speziell auf diesen Bereich bezogene Onkologie.

Der Beklagte stelle den Sachverhalt falsch dar. Die Erblasserin habe im eigenen Interesse sowohl dem überweisenden Arzt Dr. S. am 30.08.2007 als auch dem Beklagten am 31.08.2007 geschildert, seit längerer Zeit unter anhaltendem Durchfall und Müdigkeit zu leiden.

Zutreffend habe das Landgericht einen groben Behandlungsfehler des Beklagten bejaht. Aus diesem groben ärztlichen Behandlungsfehler resultiere die Beweislastumkehr hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs zwischen dem ärztlichen Fehler und dem bei der Patientin eingetretenen Gesundheitsschaden. Den Beweis dafür, dass die verspätete Diagnose des Karzinoms für den weiteren Verlauf, insbesondere für die Metastasierung, nicht ursächlich geworden sei, habe der Beklagte nicht erbracht und könne der Beklagte auch nicht bringen.

Ein Mitverschulden der Erblasserin liege nicht vor, weil eine zutreffende und vollständige Therapieanweisung und Unterrichtung des Patienten (hier der Erblasserin) durch den Arzt (dem Beklagten) nicht erfolgt sei. Die Erblasserin habe auf die Aussage des Beklagten, dass eine weitergehende Diagnostik nicht erforderlich sei und die Befunde auf die bei ihr festgestellten Hämorrhoiden zurückzuführen seien, vertrauen dürfen. Die Erblasserin habe sich auf die Aussage verlassen dürfen, weil sie kein Anhalt dafür hatte, an der Fachkunde des Beklagten zu zweifeln. Im Rahmen der zweiten Untersuchung habe der Beklagte die Erblasserin gerade nochmals hinsichtlich ihrer Bedenken beruhigt. Die Blutung, die in der Folge auftraten, habe sie gemäß der Aussage des Beklagten Facharztes schlichten Hämorrhoiden zugeordnet. Erst als sich das Beschwerdebild der Erblasserin in den folgenden Monaten erheblich verschlechtert habe, habe sie sich im Mai 2008 im Klinikum L. Untersuchung und behandeln lassen.

Die Schätzungsgrundlagen für den ausgeurteilten Verdienstausfallschaden und das Schmerzensgeld seien durch das Landgericht ordnungsgemäß ermittelt worden.

Der Senat hat gemäß Beweisbeschluss vom 07.12.2016 Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Ergänzungsgutachtens des Sachverständigen PD Dr. S. B.. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftlichen Ergänzungsgutachten vom 10.05.2018 (Bl. 551-564 d.A.) sowie die mündliche Erläuterung des Ergänzungsgutachtens durch PD Dr. S. B. auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 24.01.2019 (Bl. 605-625 d. A.) Bezug genommen.

II.

Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg.

A.

Nach dem Ergebnis der vom Senat ergänzten Beweisaufnahme steht den Klägerinnen als Erbinnen der verstorbenen M. F. aus übergegangenem Recht gegenüber dem Beklagten gemäß §§ 823 Abs. 1, 280 Abs. 1, 611, 249ff., 1922 Abs. 1 BGB ein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 70.000,00 € sowie materieller Schadensersatz für Verdienstausfall in Höhe von insgesamt 42.243,83 € zu.

Rechtsfehlerfrei - und mit der Berufung auch nicht angegriffen - hat das Landgericht einen Behandlungsfehler in Form eines Befunderhebungsfehlers angenommen, indem es der Beklagte am 31.08.2007 unterlassen hat, bei der Erblasserin eine Rektoskopie durchzuführen, welche mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einen reaktionspflichtigen Befund ergeben hätte und das Nichtreagieren auf diesen Befund ein grober Behandlungsfehler gewesen wäre (S. 8-10 LGU, Bl. 399-401 d.A.). Ebenso zutreffend hat Landgericht festgestellt, dass aus diesem grob ärztlichen Fehler eine Beweislastumkehr folgt, die sich auf das Fortschreiten des Tumors, auf die Metastasierung und auf das Versterben der Erblasserin bezieht (S. 10 LGU, Bl. 401 d.A.).

Auch nach der in der Berufungsinstanz durchgeführten ergänzenden Beweisaufnahme ist es dem Beklagten nicht gelungen, den ihm - aufgrund der Beweislastumkehr - obliegenden Beweis zu führen, dass die um 9 Monate verspätete Diagnose nicht oder auch nur teilweise nicht für den weiteren Krankheitsverlauf der Erblasserin ursächlich geworden ist. Der Beklagte hat nicht mit der gemäß § 286 ZPO erforderlichen Überzeugung nachgewiesen, dass bereits im August 2007 bei der Erblasserin ein Tumorstadium T3 oder T4 vorlag, sondern lediglich das Vorliegen eines Tumors im Stadium T2 bewiesen (dazu Ziffer 1.). Ebenso wenig hat der Beklagte den Nachweis erbracht, dass bei der Erblasserin bereits im August 2007 (Fern- und Lymphknoten-)Metastasen bestanden (dazu Ziffer 2.) oder bei der Erblasserin in jedem Fall Metastasen aufgetreten wären (dazu Ziffer 3.). Daraus resultierend hat der Beklagte nicht bewiesen, dass die notwendigen Behandlungen der Krebserkrankung (mit Ausnahme der Tumoresektion-OP), die Erwerbsunfähigkeit und das Versterben der Erblasserin nicht auf seine verspätete Diagnose zurückzuführen sind (Ziffer 4.). Ein Mitverschulden der Erblasserin liegt nicht vor (dazu Ziffer 5.). Vor diesem Hintergrund ist das zugesprochene Schmerzensgeld in Höhe von 70.000,00 € nicht überhöht (dazu Ziffer 6.) und materieller Schadensersatz wegen Verdienstausfall in Höhe von 42.243,83 € erstattungsfähig (dazu Ziffer 7.).

1.

Aufgrund der ergänzenden Beweisaufnahme ist es dem Beklagten nicht gelungen nachzuweisen, dass im August 2007 bereits ein Tumor der Größe T3 oder gar T4 vorgelegen hat. Der Beklagte konnte lediglich den Beweis führen, dass kein Tumor der Größe T1 vorlag, sondern mindestens ein Tumorstadium T2 gegeben war.

Der Senat folgt bei seiner Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge den Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen PD Dr. S. B., dessen fachliche Qualifikation zur Überzeugung des Senates feststeht (dazu sogleich). Der Sachverständige hat unter Auswertung der vollständig beigezogenen Krankenunterlagen ein in jeder Hinsicht in sich schlüssiges, nachvollziehbares und mit wissenschaftlichen Belegen versehenes schriftliches Gutachten erstattet und dieses mündlich ergänzend erläutert. Seine Darlegungen und Ausführungen waren dabei klar, widerspruchsfrei und ohne Verstöße gegen die Denkansätze. Der Senat hat sich mit den Erläuterungen des Sachverständigen und mit den von ihm vertretenen Ergebnissen intensiv und kritisch auseinandergesetzt. Der Senat hat nach eigener sorgfältiger Prüfung keine Bedenken, sich diesen Ausführungen anzuschließen und hierauf seine juristische Betrachtung aufzubauen.

Es bestehen keine Zweifel an der fachlichen Qualifikation des Sachverständigen PD Dr. S. B.. Die (zusätzliche) Begutachtung durch einen onkologischen Sachverständigen ist nicht veranlasst. PD Dr. S. B. ist Arzt und Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie. Bereits in I. Instanz hat er nachvollziehbar ausgeführt, dass Teil seiner gastroenterologischen Ausbildung auch eine spezielle Ausbildung für gastroenterologische Tumore sei, wozu auch die speziell auf diesen Bereich bezogene Onkologie gehöre (vgl. S. 2 des landgerichtlichen Protokolls, Bl. 377 d. A.). In der mündlichen Verhandlung am 24.01.2019 hat der Sachverständige ergänzend erläutert, dass und warum die zu beantwortenden Fragen im hiesigen Verfahren in sein Fachgebiet und seine Expertise fallen. Er habe sich im speziellen auch mit dem Bereich der Tumorbiologie beschäftigt, auch wenn dies nicht zur grundsätzlich vorgesehenen Ausbildung der Ärzte gehöre (S. 2 des Protokolls, Bl. 606 d. A.).

Soweit der Beklagte einwendet, der Sachverständige habe keine dem Fall entsprechenden Studien herangezogen, greift das nicht durch. Der Sachverständige hat insoweit, wenngleich auch ohne förmliche Aufnahme in das Protokoll, nachvollziehbar ausgeführt, dass es belastbare Studien zu den Fragestellungen und der Konstellation des vorliegenden Falles schon aus ethischen Gründen nicht gebe. Denn man könne einen an Krebs erkrankten Patienten nicht unbehandelt lassen. Um vorliegend das hypothetische Szenario zur Tumorentwicklung anhand der späteren Befunde zu klären, sei er auf die vorgenommene Literaturrecherche angewiesen, mit der er im Übrigen im Rahmen seiner Laufbahn auch ausreichend vertraut sei. An die Professoren Wedemann und Schumacher, die sich in dem Bereich der Tumorbiologie mit Grundlagenforschung befassen würden, habe er sich einzig deshalb gewandt, um etwaige aktuelle belastbare Erkenntnisse in Erfahrung zu bringen, die noch nicht veröffentlicht worden seien. Solche gebe es indes nicht.

Nachvollziehbar, schlüssig und widerspruchsfrei sind auch die Ausführungen des Sachverständigen zur hypothetischen Größe des Tumors im August 2007. Die Ermittlung bzw. (Rück-)Berechnung des lokalen Tumorstadiums im August 2007 sei durch die fehlenden Angaben zur makroskopischen Tumorgröße im Mai 2008 erschwert (S. 4 des Ergänzungsgutachtens [EGA], Bl. 554). Der Gutachter hat deshalb zunächst anhand der anatomisch bedingt in Betracht kommenden zwei Berechnungsvarianten das Tumorvolumen im Mai 2008 plausibel eingegrenzt (vgl. S. 5 EGA, Bl. 555), wonach dieses etwa zwischen 94,2 cm³ bis 125,7 cm³ betrug. Aufgrund der wissenschaftlichen und praktischen Literaturdaten hinsichtlich der Tumorverdopplungszeiten von Rektumkarzinomen könne am ehesten davon ausgegangen werden, dass sich der Tumor der Erblasserin in den neun Monaten vor Mai 2008 verdoppelt oder vervierfacht habe (S. 4 EGA, Bl. 555). Hieraus ergäbe sich im August 2007 im Falle der Verdopplung (47,1 cm³ bzw. 62,9 cm³) ein Tumor der Größe T2 bis T3, im Falle der Vervierfachung (23,6 cm³ bzw. 31,4 cm³) der Größe T1 bis T2. Lasse man die hypothetischen Tumorvolumenberechnungen unter Zuhilfenahme des Hohlzylindermodells beiseite und berücksichtige die für T4-Tumore genannten Volumen in den Literaturstellen, ergäben sich für August 2007 bei einer Tumorverdopplung ein Volumen von circa 92cm³ oder bei einer Tumorvervierfachung von circa 46cm³; diese Volumina entsprächen einem T2 bis T3 Stadium (S. 6 EGA, Bl. 556). Zusammenfassend hat der Sachverständige PD Dr. B. in seinem Ergänzungsgutachten erläutert, dass es sich hierbei lediglich um eine Annäherung an die Wirklichkeit handele, die sich auf das statistische Mittel von Studien beziehe und niemals die exakte Wirklichkeit eines Individuums beschreiben könne (vgl. S. 6 EGA, Bl. 556). Insgesamt habe vorliegend am ehesten ein T2- oder T3-Tumor vorgelegen, ein T4- oder T1-Tumor sei weniger wahrscheinlich (S. 6 EGA, Bl. 556).

Ergänzend hat der Sachverständige PD Dr. B. in der mündlichen Verhandlung am 24.01.2019 nachvollziehbar hervorgehoben, dass sich aus den Modellrechnungen eine große Streubreite ergebe und Unsicherheiten beständen. Die von ihm vorgenommene Gewichtung, wonach am ehesten ein T3-Tumor vorgelegen habe, liege daran, dass die Mehrheit der von ihm ausgewerteten Literaturquellen von einer Tumorverdopplungszeit von 9 bis 12 Monaten ausgingen und nur eine Minderheit von einer Tumorverdopplungzeit in 4,7 Monaten. Die letztgenannte Verdopplungszeit erlaube es, auf einen T2-Tumor zum genannten Zeitpunkt rückzuschließen (S. 5 des Protokolls, Bl. 609 d. A.). Einfacher sei in diesem Zusammenhang die Abgrenzung zum Tumorstadium T4, der eher unwahrscheinlich vorgelegen habe. Dies ergebe sich insbesondere auch daraus, dass eine relativ geringe Eindringtiefe des Tumors in das perirektale Fettgewebe von 4 mm beschrieben worden sei. Diese Eindringtiefe ließe darauf schließen, dass der Vorgang des Eindringens noch nicht so geraume Zeit her sein konnte (S. 5 des Protokolls, Bl. 609 d. A.). Die "Wahrscheinlichkeitsabgrenzung" zwischen einem Tumor der Größe T2 und der Größe T3 knüpfe schlicht an die diesbezüglichen Publikationen an. Es lägen weniger Studien vor, die sich mit einer Tumorverdopplungszeit von 4,7 Monaten beschäftigten, währenddessen sich die Mehrheit der ausgewerteten Literaturquellen mit einer Tumorverdopplungszeit von 9 bis 12 Monaten befasse. Mangels anderer Anhaltspunkte ergebe sich daraus seine Gewichtung und höhere Wahrscheinlichkeit für einen T3-Tumor (vgl. S. 5 des Protokolls, Bl. 609 d.A.). Es sei aber aus den genannten Gründen nicht so, dass die Betrachtung einer Tumorverdopplungszeit von 4,7 Monaten eine rein theoretische sei. Insgesamt könne das Vorliegen eines T3-Tumors im August 2007 bei allen Unsicherheiten für am Wahrscheinlichsten erachtet werden, das Vorliegen eines T2-Tumors zum selben Zeitpunkt für vergleichsweise dazu weniger wahrscheinlich, aber auch nicht völlig unwahrscheinlich (vgl. S. 5/6 des Protokolls, Bl. 609/610 d.A.).

Mit dem Sachverständigen ist davon auszugehen, dass es nahezu ausgeschlossen ist, dass im August 2007 nur ein Tumorstadium T1 vorgelegen hat (S. 4 des Protokolls, Bl. 608 d. A.). Insoweit gebe es dafür nur eine extrem geringe Restwahrscheinlichkeit, er - der Sachverständige PD Dr. B. - halte einen T1-Tumor für sehr unwahrscheinlich. Diese Aussage deckt sich mit seinen Erläuterungen in der öffentlichen Sitzung am 29.10.2015 vor dem Landgericht (vgl. S. 7 des landgerichtlichen Protokolls, Bl. 382 d.A.).

2.

Dem Beklagten ist es aufgrund der ergänzenden Beweisaufnahme ebenfalls nicht zur Überzeugung des Senates gelungen, den Nachweis zu führen, dass bereits im August 2007 bei der Erblasserin (Fern- und/oder Lymphknoten-)Metastasen vorgelegen haben.

Bereits in seinem Ausgangsgutachten hat der Sachverständige zur Frage des Vorliegens von Fernmetastasen im August 2007 erläutert, dass man sich nur mithilfe von historischen Daten versuchen könne, sich dieser Frage anzunähern und jeder Antwortversuch letztlich spekulativ bleiben müsse (vgl. S. 14 GA, Bl. 321). Das Wachstum von Metastasen sei, so der Sachverständige anschaulich in seinem Ergänzungsgutachten, ein hochkomplexer Prozess, der vielen individuellen Einflüssen unterliege (S. 6 EGA, Bl. 556): Tumorzellen müssten sich aus dem Primärtumor lösen, in den Blutkreislauf gelangen und sich dann z.B. in der Leber ansiedeln. Das anschließende Wachstum könne nach Wochen oder Monaten auftreten. Auch ein "Langzeitschlaf" der Tumorzelle als Mikrokolonie sei möglich, wobei die Tumorzelle jederzeit aus ihrem Schlaf (z.B. durch eine Schwächung des Immunsystems/Stimulation von Wachstumsfaktoren) aufwachen könne.

Der Sachverständige PD Dr. B. hat hierzu ausführlich und belegt verschiedene, der Literatur zu entnehmende mögliche Verdopplungszeiten von Metastasen erläutert, wobei eine ganz erhebliche Schwankungsbreite bei einzelnen Patienten zwischen 10 - 411 Tagen und Mittelwerten der verschiedenen Studien zwischen 33 - 199 Tagen gegeben sei (S. 7 EGA, Bl. 556f. d. A.). Der Sachverständige hat davon ausgehend nachvollziehbar zum Zwecke der Rückberechnung anhand der Behandlungsunterlagen und Befunde der Erblasserin eine annähernde Größe des Volumens der größten Metastase im Mai 2008 (110,3 cm³) ermittelt (S. 7 EGA, Bl. 557 d. A.). Je nach der individuellen Verdopplungszeit könnten die im Mai 2008 diagnostizierten Metastasen seit August 2007 von 1 bis 26 Verdopplungszyklen durchlaufen haben (S. 8 EGA, Bl. 558 d. A.). Bei Zugrundelegung der langsamsten Verdopplungszeit (1-2 Zyklen) wären die Metastasen im August 2007 vorhanden und durch Bildgebung sichtbar gewesen, bei der schnellsten Verdopplungszeit seien sie wegen der geringen Größe durch Bildgebung nicht erkennbar. Auch könne das Wachstum der Metastasen durch die bei der Erblasserin am 17.04.2008 durchgeführten Hysterektomie stimuliert worden sein, was die Wahrscheinlichkeit der Präsenz von Metastasen schon im August 2007 verringern würde (S. 8 EGA, Bl. 558 d. A.). Angesichts der skizzierten Unsicherheiten in der retrospektiven Abschätzung der Entwicklung von Metastasen erscheine es - vor dem Hintergrund der abgeschätzten Metastasengröße im Mai 2008 und der in der Literatur überwiegend angegebenen Fällen von Verdopplungszeiten - gerechtfertigt, die Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein von Metastasen im August 2007 mit 50 - 75 % anzugeben (vgl. S. 8 EGA, Bl. 558 d. A.).

In der öffentlichen Sitzung am 24.01.2019 hat der Sachverständige ergänzend erläutert, dass die genaue Anzahl der Lebermetastasen im Mai 2008 - wie auch unstreitig ist und von der Berufung nicht weiter angegriffen wird - nicht bekannt sei, sodass sich ein Rückschluss für den vorliegenden Fall nicht anstellen lasse (vgl. S. 6 des Protokolls, Bl. 610 d. A.). Aufgrund der regelmäßig vorkommenden großen Schwankungsbreite der Tumorverdopplungszeiten sowie der Unsicherheiten des aus dem CT-Befund vom 09.05.2008 grob abzuschätzenden Metastasenvolumens sei eine genaue Angabe eben nicht möglich. Das ist (auch) in der Gesamtbetrachtung in jeder Hinsicht überzeugend.

Der Sachverständige ist nachvollziehbar bei seiner Aussage geblieben, dass die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins von Metastasen am 31.08.2007 mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % bis 75 % - genauer: von 50,1 % bis 75 % - gegeben sei. Das bedeute, es sei wahrscheinlicher, dass Metastasen vorgelegen hätten, als dass sie nicht vorgelegen hätten. Dies sei aber nur eine bloße Tendenzangabe. Es sei mithin keineswegs fernliegend, dass noch keine Metastasen vorgelegen hätten (vgl. S. 6 des Protokolls, Bl. 610 d. A.).

Des Weiteren hat der Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten ausgeführt, dass die Beschwerden der Erblasserin "7xtäglich Diarrhoe und Meteorismus" ausschließlich Auswirkungen des Primärtumors gewesen seien und keine Aussage hinsichtlich der Metastasierung zuließen (S. 9 EGA, Bl. 559 d.A.). Die Beschwerden Müdigkeit und Schwäche seien ebenfalls nicht geeignet, um Aussagen zum Zeitpunkt der Metastasierung abzuleiten. Dies vor allem deshalb, weil diese Symptome auch auf die Schilddrüsenunterfunktion der Erblasserin oder die Hypermenorrhoen bei Uterus myomatosus zurückgeführt werden könnten (S. 10 EGA, Bl. 560 d.A.). Dass die genannten Symptome insoweit keine eindeutige Zuordnung erlaubten, hat die Berufung überdies nicht infrage gestellt.

3.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist ebenfalls nicht zur Überzeugung des Senates bewiesen, dass auch bei (unverzögerter) Behandlung im August 2007 bei der Erblasserin Metastasen aufgetreten wären. Im Hinblick auf die nachvollziehbaren und schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen ist keinesfalls hinreichend sicher festzustellen (§ 286 ZPO), dass bei der Erblasserin wegen der Grunderkrankung in jedem Fall (irgendwann) Metastasen aufgetreten wären.

Entgegen der Behauptung des Beklagten in seiner Berufungsbegründung hat der Sachverständige die Frage, ob die Fernmetastasierung auch bei frühzeitigerer Diagnose und Behandlung eingetreten wäre, konkret beantwortet. Der Sachverständige hat bereits in seinem Ausgangsgutachten verschiedene Studien und Arbeiten im Zusammenhang mit der generellen Entwicklung bzw. Entstehung von Metastasen erörtert (S. 14 GA, Bl. 321 d. A.): Das Auftreten von Metastasen sei stark vom Tumorstadium bei der Diagnose abhängig. Aus der französischen Studie "Leporrier" ergebe sich, dass Metastasen im UICC-Stadium I bei 6,9 % der Patienten, im UICC-Stadium II bei 17,6 % der Patienten und im UICC-Stadium III bei 40,3 % der Patienten auftraten (S. 14 GA, Bl. 321 d. A.). Eine Arbeit aus dem Tumorregister München ("Hölzel") gebe das Risiko der Fernmetastasierung für einen T1-Tumor mit 1,2 %, für einen T2-Tumor mit 4,2 %, für eine T3-Tumor mit 21,2 % und für einen T4-Tumor mit 45,4 % an (S. 14 GA, Bl. 321 d. A.).

Im Hinblick auf diese Risiko-Studien und - aufgrund der Beweislast - davon ausgehend, dass bei der Erblasserin im August 2007 ein Tumor der Größe T2 und keine Metastasen vorlagen, wäre bei rechtzeitiger Behandlung die Wahrscheinlichkeit für eine Metastasierung allein wegen der Grunderkrankung der Erblasserin im weiteren Verlauf gering gewesen.

4.

Nach den Ergebnissen der ergänzenden Beweisaufnahme steht nicht zur Überzeugung des Senates fest (§ 286 ZPO), dass die bei der Erblasserin durchgeführten Behandlungen infolge der Krebserkrankung (mit Ausnahme einer Tumoresektion-Operation), die eingetretene Erwerbsunfähigkeit und das Versterben der Erblasserin nicht kausal auf die verzögerte Diagnose zurückzuführen sind.

a) Die Therapie nach einer Krebsdiagnose hängt nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen PD Dr. B. ganz wesentlich davon ab, ob Metastasen vorliegen. Bei Vorliegen von Metastasen würden die therapeutischen Bemühungen in erster Linie der Metastasierung gelten (vgl. S. 12 EGA, Bl. 562). Eine Resektion des Primärtumors erfolge nicht notwendigerweise. Bei Vorliegen der Metastasierung werde vorrangig angestrebt, die Metastasen entweder sofort oder nach einer Therapie bestehend aus klassischer Chemotherapie sowie gegen Wachstumsfaktoren gerichtete Antikörper zu resezieren (kurative Therapie). Könnten die Metastasen nicht reseziert werden, werde eine palliative Therapie mit dem Ziel der Tumormassenreduktion ohne Aussicht auf Heilung durchgeführt (vgl. S. 12 EGA, Bl. 562). Wenn keine Fernmetastasen vorlägen, hänge die Therapie im Wesentlichen von der Tumorgröße und dem Vorliegen von Lymphknotenmetastasen ab.

Im Hinblick auf die Beweislastverteilung und die Ergebnisse der durchgeführten Beweisaufnahme (vgl. oben Ausführungen unter Ziffer 1. - Ziffer 3.) ist davon auszugehen, dass bei der Erblasserin im August 2007 ein Tumor der Größe T2 vorlag sowie keine Lymphknotenmetastasen und keine Fernmetastasen gegeben waren. Hieraus resultierend ergibt sich ein UICC-Stadium I (vgl. S. 3 EGA, Tab. 3, Bl. 553 d. A.), welches als gesicherte erforderliche/notwendige Therapie lediglich die operative Entfernung des Tumors zur Folge hat (vgl. S. 12 EGA, Tab. 3, Bl. 562 d. A.). Eine neoadjuvante Tumortherapie, eine Chemotherapie oder eine Bestrahlung sind im UICC-Stadium I in der Regel nicht erforderlich. Der Sachverständige hat zudem die diesbezüglichen (vermeintlichen) Widersprüche zwischen seinen schriftlichen Ausführungen und den mündlichen Erklärungen in der öffentlichen Sitzung vom 29.10.2015 vor dem Landgericht (vgl. S. 7 des landgerichtlichen Protokolls, Bl. 382 d. A.) aufklären können. Der Sachverständige hat nachvollziehbar und glaubhaft in der mündlichen Verhandlung am 24.01.2019 erläutert, dass er offenbar durch das Landgericht falsch verstanden worden sei. Soweit dort auf Seite 7 des landgerichtlichen Protokolls in Zeile 5 und 6 des dritten Absatzes "die verschiedenen Stadien T1 bis T4" und "Tumorstadium T2 bzw. 3" aufgeführt sei, habe er die "verschiedenen Stadien I - IV" angegeben und nicht "T1 bis T4". Hiermit sei die Bezifferung nach UICC gemeint. In der Zeile 6 müsse es "Tumorstadium II bzw. III" heißen, der Buchstabe "T" sei fehlerhaft eingefügt worden. Diese Richtigstellung ist überzeugend. Sie ist anhand der in der Berufungsverhandlung erörterten UICC- Klassifizierung nachzuvollziehen.

Bei der Erblasserin sind auch nicht lediglich Maßnahmen für eine Tumorresektion durchgeführt worden, sondern unstreitig folgende zahlreiche Therapien und medizinische Behandlungen; diese sind kausal auf die verspätete Diagnose des Beklagten zurückzuführen:

Unstreitig erfolgte aufgrund der Krebserkrankung der Erblasserin während der stationären Behandlung im Klinikum L. im Mai/Juni 2008 eine anteriore Rektumresektion (Dickdarm) und wegen des Metastasenverdachtes eine Leber-PE. In der Folgezeit schloss sich von Juni 2008 bis November 2008 eine palliativ intendierte, kombinierten Antikörper-Chemotherapie mit 11 Zyklen (Folfiri und Bevacizumab) nach Portimplantation an. Bis April 2010 unterzog sich die Erblasserin einer weiteren Chemotherapien mit 20 Zyklen (Xeloda und Bevacizumab). Im Mai/Juni 2010 begann die Erblasserin eine dritte Chemotherapie mit 3 Zyklen (Oxaliplatin/Xeloda). Nach der Einholung verschiedener Zweitmeinungen (Prof. Dr. med. Li., Prof. Dr. R., Prof. Dr. med. I., Prof. Dr. med. h.c. J.) führte die Erblasserin im Juli/August 2010 eine SIRT-Therapie durch. Vom 8. bis 13.09.2010 befand sich die Erblasserin zur stationären Untersuchung im Klinikum Großhardern. Im Zeitraum 22. bis 27.09.2010 musste sich die Erblasserin im Klinikum Großhadern wegen Metastasierungen Eileiter, Eierstöcke und Blinddarm entfernen lassen. Im Jahr 2011 wurde eine weitere Chemotherapie (Xeloda und Oxaliplatin) durchgeführt. Im Juli und August 2012 erfolgten weitere Behandlung (endoskopische Behandlung, CT, Punktierungen wegen Bauchwasser) im Klinikum L. aufgrund der vorliegenden Metastasen sowie eine weitere Chemotherapie (Xeloda). Wegen der genauen Einzelheiten der Behandlung wird auf die bei der Akte befindlichen zahlreichen Behandlungsunterlagen und Arztbriefe Bezug genommen, insbesondere die Anlagen K27 bis K31 (u.a. Bl. 198 - 208 d.A.).

Soweit die Berufung pauschal rügt, es hätte der Beiziehung "sämtlicher Behandlungsunterlagen" bedurft, um "zu prüfen, welche der einzelnen Behandlungen der Grunderkrankung oder deren Fortschreiten infolge verzögerter Diagnose zuzuordnen" sei, verfängt das nicht. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass und gegebenenfalls welche Behandlungsunterlagen noch hätten fehlen können und inwieweit sich daraus eine andere Beurteilung der Kausalität ergeben sollte.

b) Der Beklagten hat auch nicht den Nachweis geführt, dass die Erwerbsunfähigkeit der Erblasserin, die im April 2009 festgestellt wurde, nicht kausal auf die verzögerte Diagnose des Beklagten zurückzuführen ist. Dem Beklagten ist nicht der Beweis gelungen, dass die Erblasserin auch bei einer frühzeitigen Krebsdiagnose im August 2007 wegen der Grunderkrankung erwerbsunfähig geworden wäre.

Insoweit hat der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung am 24.01.2019, dass im Falle des Vorliegens eines Tumorstadiums I nach optimaler Behandlung in 7-20 % der Fälle die Patientin erwerbsunfähig werden (vgl. S. 7 und Anlage des Protokolls, Bl. 611 und 622 d.A.). Nach seiner klinischen Erfahrung und unter Zugrundelegung des Therapieszenarios "Situation 1a" gemäß Seite 12 des Ergänzungsgutachtens (vgl. Tab. 3, Bl. 562 d. A.) wäre die Erblasserin im September 2007 operiert worden und die Arbeitsfähigkeit wäre spätestens nach drei Monaten - mithin im Dezember 2007/Januar 2008 - wieder gegeben gewesen. Hierbei sei zu unterstellen, dass es während der Operation nicht zu Komplikationen gekommen wäre, insbesondere keine anschließende Inkontinenz vorgelegen hätte. Dies sei zwar eine abstrakte Betrachtung. Allerdings seien auch keine Anhaltspunkte gegeben, dass im konkreten Verlauf (nach der Operation im Mai 2008) derartige Komplikationen aufgetreten seien.

c) Letztlich konnte der Beklagte zur Überzeugung des Senates auch nicht nachweisen, dass das Versterben der Erblasserin am 13.12.2012 nicht kausal auf die verzögerte Diagnose des Beklagten zurückzuführen ist. Dem Beklagten ist nicht der Beweis gelungen, dass die Erblasserin auch bei einer frühzeitigen Krebsdiagnose im August 2007 ebenfalls wegen der Erkrankung frühzeitig verstorben wäre.

Die Überlebenschance bei einer Krebserkrankung, so der Sachverständige, seien stadienabhängig. Von wesentlicher Bedeutung - wie auch allgemein bekannt ist - für die Lebenserwartung sei das Vorliegen von Metastasen, vordergründig Fernmetastasen. Die Überlebensraten würden nach Ablauf einer bestimmten Zeit nach Erstdiagnose ausgedrückt, wobei in 2-Jahres- und 5-Jahres-Überlebensraten differenziert werde. Insoweit kann auf die Tabelle im Ausgangsgutachten vom 15.02.2015 auf Seite 13 (vgl. Bl. 320 d.A.) Bezug genommen werden. Bei einem Tumor im UICC-Stadium I liege die 2-Jahres-Überlebensrate bei 97,8 % und die 5-Jahres-Überlebensrate bei 93,4 %. Bei einem Tumor im UICC-Stadium IV, wie er bei der Erblasserin im Mai 2008 diagnostiziert und festgestellt wurde, sinke die 2-Jahres-Überlebensrate auf 35 %, die 5-Jahres-Überlebensrate liege bei nur noch 11 % (vgl. GA S. 13, Bl. 320).

Im Hinblick auf die Beweislastverteilung ist davon auszugehen, dass bei der Erblasserin im August 2007 ein Tumor im UICC-Stadium I vorlag. Mit diesem - zu unterstellenden - Tumorstadium hätte die Erblasserin sehr gute Überlebenschancen gehabt.

Auf die von der Berufung weiter aufgeworfene Frage, wie der weitere Verlauf gewesen wäre, wenn im August 2007 der Tumor als im T3/T4-Stadium befindlich diagnostiziert und behandelt worden wäre und ob insbesondere auch in diesem Fall wenig Aussicht auf eine komplette Heilung bestanden hätte, kommt es nicht an. Dass im August 2007 ein Tumor im Stadium T3/T4 und nicht T2 vorlag, ist nicht festzustellen (s. o.).

5.

Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht ein Mitverschulden der Erblasserin verneint. Für den Einwand des Mitverschuldens ist der Beklagte voll beweisbelastet. Allein aufgrund des Vermerks in dem vorläufigen Entlassungsbrief vom 15.05.2008 (vgl. Anlage K1, K27, Bl. 13-15) "Die Patientin berichtet von seit ca. 6 Monaten bestehenden Diarrhoen (ca. 6 bis 7 Mal täglich) mit hellroten Blutauflagerungen sowie ausgeprägtem Meteorismus. Darüber hinaus habe sie eine zunehmende Müdigkeit und Schlappheit seit ca. 6 Monaten bemerkt." kann ein haftungsbegründendes Mitverschulden der Erblasserin nicht angenommen werden.

Grundsätzlich kann sich auch der Arzt gegenüber dem Patienten, der ihn wegen fehlerhafter Behandlung und Beratung in Anspruch nimmt, darauf berufen, dass dieser den Schaden durch sein eigenes schuldhaftes Verhalten mitverursacht hat (BGH, Urt. vom 30.06.1992 - VI ZR 337/91, juris-Rn. 8). Ein solches Mitverschulden liegt vor, wenn der Patient diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt (BGH, a.a.O.). Der Schaden wird durch das Mitverschulden nur berührt, wenn er vom Schutzbereich der den Geschädigten treffenden Obliegenheiten erfasst ist; das ist nur der Fall, wenn die in der Situation des Geschädigten konkret von ihm geforderte Mitwirkungspflicht gerade die Vermeidung des eingetretenen Schadens bezweckt (vgl. BGH, Urt. vom 08.10.1985, - VI ZR 114/84, juris-Rn. 14). Grundsätzlich ist bei der Bejahung mitverschuldensbegründender Obliegenheitsverletzungen des Patienten allerdings Zurückhaltung geboten ist (BGH, Urt. vom 17.12.1996, - VI ZR 133/95, juris-Rn. 13). Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann der Erblasserin ein Mitverschulden nicht angelastet werden.

Als Ausgangspunkt der zu beantwortenden Frage kann zunächst nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Angaben in dem vorläufigen Entlassungsbericht vom 15.05.2008 des Klinikums L. lediglich die Zusammenfassung dessen sind, was die behandelnden Ärzte in ihren eigenen Worten aufgrund der Mitteilungen der Erblasserin bei Aufnahme am 13.05.2008 vermerkt haben. Eine stückweise Einschränkung erhält die Anamnese bereits durch das mehrfach verwendete Kürzel "ca.", welches sich auf den Zeitraum und die Häufigkeit der Symptome bezieht. Darüber hinaus ist eine gewisse Ungenauigkeit der Wiedergabe der Angaben der Erblasserin durch die Ärzte ebenfalls nicht gänzlich ausschließbar. Letztlich konnte - wie bei jedem medizinischen Laien - die Vorstellung der Erblasserin bei der Angabe von "Durchfall" divergieren zum ärztlichen Befund von bestehenden echten "Diarrhoen".

Bei der Prüfung des Mitverschuldens kommt es nicht darauf an, ob es der Erblasserin möglich gewesen wäre, sich nach der letzten Vorstellung bei dem Beklagten früher in Behandlung zu geben und ob das unter Berücksichtigung des weiteren Verlaufs vernünftig gewesen wäre. Es kommt allein auf die damalige Perspektive der Erblasserin als Patientin an. Die vorliegende Konstellation stellt keinen Fall des Nichtbefolgens eines ärztlichen Rates/Anordnung bzw. der Missachtung von Therapie- oder Kontrollanweisungen eines Facharztes dar. Vielmehr hat die Erblasserin den Beklagten als Facharzt konsultiert, ist behandelt worden und hat eine abschließende Diagnose nach Beendigung der Behandlung erhalten. Im Allgemeinen obliegt es zwar dem Patienten, grundsätzlich einen Arzt aufzusuchen, wenn eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes dies nahelegt (vgl. OLG München vom 23.09.2004 - 1 U 5198/03, juris-Rn. 83). Es hängt indes von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab, wann die Nicht-Konsultation eines Arztes diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt. Solche Umstände, die einen derartigen Sorgfaltsverstoß begründen, sind in der Gesamtschau vorliegend aber nicht gegeben. Dabei ist insbesondere zu Gunsten der Erblasserin zu berücksichtigen, dass sie zuvor bei dem Beklagten wegen ihrer rektalen Blutungen abschließend behandelt worden ist und hierfür die Diagnose "Verursachung durch Hämorrhoiden und Analfissur" erhalten hat. Insoweit konnte und dürfte die Erblasserin zumindest eine Zeit lang darauf vertrauen, dass im Hinblick auf ihren Darm keine ernsthafte Erkrankung vorliegt.

Darüber hinaus sind bei der Prüfung eines Sorgfaltsverstoßes aber auch besonders die weiteren Erkrankungen der Erblasserin zu berücksichtigen. Diese weiteren Erkrankungen haben nicht ausschließbar die Verschlechterung geraume Zeit verschleiert. Einerseits litt die Erblasserin seit längerem unter einer ausgeprägten Unterfunktion der Schilddrüse, wie der Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten ausgeführt hat (vgl. S. 10 EGA, Bl. 560 d. A.). Die Erblasserin hatte sich etwa zum Jahreswechsel 2006/2007 wegen einer Schilddrüsenüberfunktion (Hypothyreose) einer Radiojodtherapie unterzogen und nahm sodann deshalb 50ug L-Thyroxin. Die Schilddrüsenunterfunktion kann gemäß der Erläuterungen des Sachverständigen einerseits Müdigkeit und Schwäche hervorrufen (vgl. S. 10 EGA, Bl. 560 d. A.). Darüber hinaus kann die Einnahme von L-Thyroxin nach den allgemein zugänglichen Quellen (https://www.ratiopharm.de/assets/products/de/label/L-Thyroxin-Na-ratiopharm%20Tabletten%20-%203.pdf?pzn=10089662) bereits nach dem Beipackzettel - wenn auch in nicht quantifizierbarer Anzahl - als Nebenwirkung zu Diarrhoen führen. Des Weiteren hat sich die Erblasserin wegen bestehender Hypermenorrhoen bei Uterus myomatosus bei erniedrigten Hb-Wert von 10,3 g/dl am 17.04.2008 einer totalen laparaskopischen Hysterektomie in der Frauenklinik des Klinikums L. unterzogen. Auch diese Erkrankung kann die Müdigkeit und Schwäche der Erblasserin hervorgerufen haben, wie der Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten überzeugend und unangegriffen ausgeführt hat (vgl. S. 10 EGA, Bl. 560 d. A.). Da sowohl die Unterfunktion der Schilddrüse als auch die Hypermenorrhoen Müdigkeit und Schwäche hervorrufen können, die Einnahme von L-Thyroxin darüber hinaus laut Beipackzettel Diarrhoen verursachen kann, musste die Erblasserin nicht zwangsläufig bei Vorliegen dieser Symptome an eine weitere und schwerwiegende Erkrankung denken, die das Aufsuchen eines Arztes zur Abklärung im Frühjahr 2008 schlechterdings erforderte.

Im Hinblick auf diese Gesamtumstände und insbesondere die mangelnde medizinische Sachkunde der Erblasserin kann ein Sorgfaltsverstoß und eine Obliegenheitsverletzung der Erblasserin im Sinne des § 254 BGB nicht festgestellt werden.

6.

Das vom Landgericht zugesprochene Schmerzensgeld in Höhe von 70.000,00 € ist unter Berücksichtigung des Ergebnisses der ergänzenden Beweisaufnahme des Senates angemessen, erforderlich und keinesfalls überhöht.

Bei frühzeitiger Diagnose der Krebserkrankung im August 2007 hätte sich die Erblasserin - ausgehend von der Beweislastverteilung und den Ergebnissen der Beweisaufnahme - lediglich einer Tumorresektion-Operation unterziehen müssen und wäre bei optimalem Verlauf spätestens im Dezember 2007/Januar 2008 wieder arbeitsfähig gewesen. Die Erblasserin hätte sich nicht den zahlreichen Behandlungen und Therapien über einen Zeitraum von 4,5 Jahren unterziehen müssen (vgl. oben unter Ziffer 4. a)), wobei insbesondere die mehrfachen Chemotherapien und die operative Entfernung der Eileiter, Eierstöcke sowie des Blinddarms hervorzuheben sind. Die (damals) 47-jährige Erblasserin hätte zudem eine aussichtsreiche Chance auf vollständige Heilung und vor allem eine sehr gute Überlebensprognose gehabt.

Stattdessen war die der Erblasserin aufgrund der Diagnoseverzögerung verbleibende Überlebenszeit von 4,5 Jahren geprägt von zahlreichen und schwerwiegenden Behandlung und Therapien mit erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen, einem sich weiter verschlimmerten Krankheitsbild und der Gewissheit, dass keine Chance auf Heilung besteht und sie versterben wird.

Das vom Landgericht zugesprochene Schmerzensgeld in Höhe von 70.000,00 € ist - insbesondere im Hinblick auf die Ergebnisse der ergänzenden Beweisaufnahme - erforderlich, um die durch die Verschlimmerung der Krebserkrankung hervorgerufenen Folgen und Belastungen auszugleichen. Insoweit kann auch auf die vor dem Landgericht zitierten Entscheidungen in der Schmerzensgeldtabelle von Hacks/Wellner/Häcker Bezug genommen werden (die in der aktuell 37. Auflage 2019 unter der lfd. Nr. 37.2360, der lfd. Nr. 37.2373, der lfd. Nr. 37.2416 und der lfd. Nr. 37.2417 geführt werden) sowie ergänzend auf die folgenden Entscheidungen verwiesen werden: fd. Nummer 37.683 (Nichterkennen eines Brusttumors bei 54-jähr., bei unverzögerter Therapie 7 Monate vorher wären radikale Entfernung des Tumors mit der ganzen Brust, Entfernung der Achsellymphknoten, die Chemotherapie und Eingriff an der Wirbelsäulen möglicherweise erspart geblieben, auf Dauer arbeitsunfähig; LG Berlin vom 21.10.2004 - 6 O 298/02: 50.000,00 € + immat. Vorbehalt/Indexanpassung [2019] 60.898,00 €), lfd. Nummer 34.1282 (Nichterkennung Adenokarzinoms, Entfernung rechte Lungenhälfte, schwerwiegende Operationen sowie die Berufsunfähigkeit/vorzeitiger Ruhestand wären vermieden worden, Lebenserwartung nicht unerheblich herabgesetzt; LG Göttingen vom 23.10.1991 - 4 O 314/90: 115.000,00 DM = 57.500,00 € + immat. Vorbehalt/Indexanpassung [2019] 89.177,00 €) und lfd. Nummer 37.2419 (Nichterkennung Hautkrebs bei 55-jähriger Frau führte zum Tod, 3 Jahre Leidenszeit, Vielzahl von belastenden Untersuchungen, mehrere OPs, hypothetische Chance auf vollständige Heilung; OLG Hamm vom 27.10.2015 - 26 U 63/15: 100.000,00 €/Indexanpassung [2019] 103.925,00 €).

7.

Letztlich steht den Klägerinnen aufgrund der Ergebnisse der Beweisaufnahme materieller Schadensersatz wegen des Verdienstausfalls der Erblasserin in Höhe von 42.243,83 € zu. Dem Beklagten ist nicht der Beweis gelungen, dass die Erblasserin auch bei einer frühzeitigen Krebsdiagnose im August 2007 in jedem Fall erwerbsunfähig geworden wäre. Bei frühzeitiger Diagnose der Krebserkrankung im August 2007 wäre die Erblasserin - ausgehend von den Ergebnissen der Beweisaufnahme - in Bezug auf die Krebserkrankung spätestens im Dezember 2007/Januar 2008 wieder arbeitsfähig gewesen.

Das Landgericht hat einen Verdienstausfallschaden für die Zeit ab 01.03.2009 bis zum Tod der Erblasserin im Dezember 2012 in Höhe von insgesamt 42.243,83 € zugesprochen, namentlich für den Monat März 2009 in Höhe 380,33 € (Differenz zwischen Nettoverdienst 1.774,73 € und Krankengeld 1.394,40 €), für den Zeitraum April 2009 bis Dezember 2011 in Höhe von 30.718,05 € (Differenz zwischen Nettoverdienst iHv 58.566,09 € und Erwerbsunfähigkeitsrente iHv 27.848,04 €) und für das Jahr 2012 in Höhe von 11.145,84 € (Differenz zwischen Nettoverdienst iHv 1.774,73 €/mtl und Erwerbsunfähigkeitsrente 845,94 €/mtl). Die diesbezüglichen Beträge sind unstreitig. Die Berechnungen nachvollziehbar und korrekt.

B.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1 ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen. Die Voraussetzungen des i.S.v. § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 48 Abs. 1 GKG, § 3 ZPO. Hierbei entfallen auf den mit der Berufung angegriffenen Schmerzensgeldanspruch 70.000,00 € und auf den Verdienstausfallschaden 42.243,86 €.