Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 19.05.2008, Az.: 11 B 1235/08

Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen (Altfallregelung)

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
19.05.2008
Aktenzeichen
11 B 1235/08
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 46010
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOLDBG:2008:0519.11B1235.08.0A

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (auf Probe) nach § 104a Abs. 1 AufenthG vor, so besteht im Regelfall ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis.

  2. 2.

    Ein Ausnahmefall, der die Versagung der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 AufenthG rechtfertigt, kann nur angenommen werden, wenn schon im Zeitpunkt der erstmaligen Erteilung mit hinreichender Sicherheit prognostiziert werden kann, dass der Ausländer eine eigenständige Sicherung des Lebensunterhaltes auf Dauer nicht erreichen wird und im Verlängerungsfall auch die Voraussetzungen eines Härtefalls im Sinne des § 104a Abs. 6 AufenthG nicht vorliegen werden. Eine solche Prognose ist nur in extremen Ausnahmefällen gerechtfertigt (so auch VGH Mannheim, Beschluss vom 16. April 2008 - 11 S 100/08 -).

Tenor:

  1. Den Antragstellern wird Prozesskostenhilfe bewilligt.

  2. Ihnen wird Rechtsanwalt F. aus B. zur Vertretung in diesem Verfahren beigeordnet.

  3. Die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Antragsteller bis zur Entscheidung über ihre Klage gegen den Bescheid vom 20. März 2008 (11 A 1233/08) zu dulden.

  4. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

  5. Der Streitwert wird auf 10 000,- Euro festgesetzt.

Gründe

1

Das bei verständiger Würdigung (§§ 88, 122 VwGO) nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu beurteilende Begehren der Antragsteller, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie bis zu einer unanfechtbaren Entscheidung über ihre Klage (11 A 1233/08) gegen die Versagung der Aufenthaltserlaubnis im Bescheid des Antragsgegners vom 20. März 2008, zu dulden, ist zulässig und begründet.

2

Es besteht ein Anordnungsgrund, d.h. die Eilbedürftigkeit einer Entscheidung, weil die Antragsgegnerin den Antragstellern mit Schreiben vom 22. April 2008 ihre Abschiebung nach dem 21. Mai 2008 angekündigt hat.

3

Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsanspruch, d.h. ein materielles Recht vorläufig von der Abschiebung verschont zu bleiben, glaubhaft gemacht.

4

Es bestehen keine Bedenken gegen die Zulässigkeit der Klage, weil der Bescheid der Beklagten vom 20. März 2008 dem Prozessbevollmächtigten ausweislich des anwaltlichen Eingangsstempels erst am 31. März 2008 zugegangen ist, so dass die einmonatige Klagefrist (§ 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO) am 30. April 2008 noch nicht abgelaufen war.

5

Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (auf Probe) nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG haben.

6

Danach soll einem geduldeten Ausländer abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich am 1. Juli 2007 seit mindestens acht Jahren (...) ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im Bundesgebiet aufgehalten hat und er über ausreichenden Wohnraum verfügt, über hinreichende mündliche Deutschkenntnisse im Sinne der Stufe A2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen verfügt, bei Kindern im schulpflichtigen Alter den tatsächlichen Schulbesuch nachweist, die Ausländerbehörde nicht vorsätzlich über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände getäuscht oder behördliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung nicht vorsätzlich hinausgezögert oder behindert hat, keine Bezüge zu extremistischen oder terroristischen Organisationen hat und diese auch nicht unterstützt und nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylverfahrensgesetz nur von Ausländern begangen werden können, grundsätzlich außer Betracht bleiben.

7

Liegen diese tatbestandlichen Voraussetzungen - wie hier zu Recht unstreitig ist - vor, "soll" die Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilt werden. Dies bedeutet, dass im Regelfall ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis besteht und eine Versagung nur in atypischen Ausnahmefällen in Betracht kommt. Ob ein Ausnahmefall vorliegt, ist gerichtlich voll überprüfbar.

8

Grundsätzlich und im Regelfall wird der Aufenthaltstitel dem Personenkreis nach § 104a Abs. 1 AufenthG erteilt, auch wenn der Lebensunterhalt nicht im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG gesichert ist (Funke-Kaiser, in: Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz - GK-AufenthG -, Stand: Februar 2008, § 104a, Rn. 61). Da aber auch der Titel nach § 104a Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Satz 1 AufenthG darauf angelegt ist, in eine eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts zu münden (vgl. § 104a Abs. 5 AufenthG), kann ein Ausnahmefall bejaht und bereits die erstmalige Erteilung abgelehnt werden, wenn schon zum Zeitpunkt der erstmaligen Erteilung mit hinreichender Sicherheit prognostiziert werden kann, dass der Ausländer eine eigenständige Sicherung auf Dauer nicht erreichen wird und im Verlängerungsfall auch die Voraussetzungen eines Härtefalls im Sinne des Absatzes 6 nicht vorliegen werden ( VGH Mannheim, Beschluss vom 16. April 2008 - 11 S 100/08 - <juris>). In der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/5065, Seite 203) heißt es hierzu dementsprechend:

"Bei Ausländern, bei denen bereits zum Zeitpunkt der ersten Antragstellung auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Absatz 1 die Sicherung des Lebensunterhalts ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel nicht gewährleistet ist, kommt der das Ermessen bindenden Formulierung in Absatz 1 "soll erteilt werden" eine besondere Bedeutung zu. Ist bereits zu diesem Zeitpunkt der Lebensunterhalt nicht ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gesichert und liegen auch keine begründeten Anhaltspunkte dafür vor, dass zukünftig die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel entfällt, ist damit ein hinreichender Grund gegeben, von dem im Regelfall ermessensbindenden "soll" abzuweichen, denn es ist mit den Zielen des § 104a nicht vereinbar, Ausländern eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn bereits bei Erteilung feststeht, dass eine Verlängerung nicht erfolgen kann."

9

Bloße Zweifel genügen folglich nicht, denn das System der Legalisierung nach § 104a AufenthG ist gerade auf Probe angelegt (Funke-Kaiser, aaO, Rn. 64), so dass eine negative Prognose nur in extremen Ausnahmefällen gerechtfertigt ist (VGH Mannheim, aaO). Ein solcher Ausnahmefall, der trotz Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen die Versagung der Aufenthaltserlaubnis rechtfertigt, kann insoweit nur angenommen werden, wenn mit hinreichender Sicherheit absehbar ist, dass die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis weder nach § 104a Abs. 5 AufenthG noch nach den Härtefallvorschriften des § 104a Abs. 6 AufenthG in Betracht kommen wird (VGH Mannheim, aaO). Nach der Gesetzesbegründung (aaO) muss "feststehen", dass eine Verlängerung nicht erfolgen kann. Demgegenüber genügen bereits begründete Anhaltspunkte, dass zukünftig keine öffentlichen Mittel mehr in Anspruch genommen werden, um einen Ausnahmefall auszuschließen.

10

Daran gemessen liegt hier kein solcher extremer Ausnahmefall vor, der trotz Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG die Versagung der Aufenthaltserlaubnis rechtfertigen könnte.

11

Die Antragsteller bestreiten ihren Lebensunterhalt seit ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1994 vollständig mit staatlichen Sozialleistungen. Sie sind seit ihrer Einreise keiner Beschäftigung nachgegangen, obwohl sie für einen beachtlichen Zeitraum - vom 24. Juli 1995 bis zum 7. September 2006 -, aufgrund der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 51 Abs. 1 AuslG Aufenthaltstitel und auch Arbeitserlaubnisse besaßen; Bemühungen um die Aufnahme einer Beschäftigung haben sie nicht nachgewiesen.

12

Die Arbeitslosigkeit der Antragstellerin beruht im Wesentlichen auf einer psychischen Erkrankung. Ausweislich der Atteste des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. D. vom 31. Mai 2000 und 28. Januar 2004 befindet sich die Antragstellerin seit dem Jahre 1997 wegen einer Depression in ständiger ambulanter Behandlung. Sie könne wegen dieser Erkrankung nicht allein bleiben und sei auf die ständige Hilfe ihres Ehemannes, des Antragstellers, angewiesen. Seit dem Jahre 2006 befindet sich die Antragstellerin bei dem Nachfolger des Dr. med. D., dem Facharzt für Neurologie Dr. med. D. in Behandlung. Dessen Atteste vom 28. Juni 2007 und 24. August 2007 bestätigen die diagnostizierte Depression der Antragstellerin. Auch der Amtsarzt der Antragsgegnerin attestierte der Antragstellerin im Rahmen einer amtsärztlichen Untersuchung zur Überprüfung der Reisefähigkeit am 13. Juni 2006 und 15. Mai 2008 eine behandlungsbedürftige somatisierte depressive Störung.

13

Die Arbeitslosigkeit des Antragstellers ist ebenfalls in der psychischen Erkrankung der Antragstellerin begründet. Bei einer Vorsprache bei der Antragsgegnerin am 20. Mai 2005 teilte der Antragsteller mit, er könne aufgrund der Krankheit seiner Frau nicht arbeiten, da er sich um sie kümmern müsse. Diesen die Aufnahme einer Beschäftigung ausschließenden Betreuungsbedarf der Antragstellerin bestätigt auch Dr. med. D. in seinem Attest vom 31. März 2005. Dort heißt es u.a.:

"Außerdem bestehen depressive Verstimmungen mit Angstzuständen, die Patientin kann deswegen nicht alleine zu Hause bleiben, sie ist auf die ständige Hilfe des Ehemannes angewiesen. Da Frau B. keine Verwandten in D. hat, ist es dem Ehemann nicht möglich zu arbeiten."

14

Den fachärztlichen Attesten lässt sich allerdings entnehmen, dass der gesundheitliche Zustand der Antragstellerin, und damit auch ihr Betreuungsbedarf, maßgeblich auch durch die aufenthaltsstatusrechtliche Situation der Antragsteller beeinflusst wird. So heißt es in dem Attest des Dr. med. D. vom 28. Januar 2004 u.a.:

"Gegenüber der Voruntersuchung hatte sich eine deutliche Verschlechterung ergeben, nachdem die Patientin das Schreiben der Ausländerbehörde erhalten hatte."

15

Bei dem hier in Bezug genommenen "Schreiben der Ausländerbehörde" dürfte es sich um die Ankündigung des Widerrufs der Flüchtlingsanerkennung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl) vom 24. November 2003 handeln.

16

Im Attest des Dr. med. D. vom 24. August 2007 heißt es u.a.:

"Diagnostisch besteht eine somatisierte Depression, deren Symptomatik sich in den letzten Monaten deutlich verstärkt hat. Auslösend für diese Verschlechterung ist die Ungewissheit über ihre Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland, da schon seit längerer Zeit eine Abschiebung in den Kosovo geplant ist."

17

Dieser sachliche Zusammenhang zwischen dem Aufenthaltsstatus und dem gesundheitlichen Zustand der Antragstellerin ist überzeugend. Es ist ohne weiteres nachvollziehbar, dass die Ungewissheit über den weiteren Verbleib in Deutschland und eine mögliche zwangsweise Aufenthaltsbeendigung eine psychische Belastung für die Antragstellerin darstellt und diese Belastung eine Verschlechterung ihres gesundheitlichen Zustandes bewirkt.

18

Dieser Ursachenzusammenhang bedeutet aber auch, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine Verbesserung des Gesundheitszustandes der Antragstellerin einträte, wenn der Aufenthaltsstatus in der Weise geklärt wäre, dass die Antragsteller entsprechend ihrem Begehren im Klageverfahren bis zum 31. Dezember 2009, d.h. für einen relativ großen Zeitraum, eine Aufenthaltserlaubnis erhielten. Eine Verbesserung des Gesundheitszustandes der Antragstellerin würde wiederum einen geringeren Betreuungsbedarf und damit eine Entlastung des Antragstellers bedeuten.

19

Unter Berücksichtung dieser Umstände ist es nicht völlig ausgeschlossen, dass der Antragsteller zukünftig - spätestens bis zum 31. Dezember 2009 - eine Beschäftigung wird aufnehmen und so ihren Lebensunterhalt überwiegend eigenständig durch Erwerbstätigkeit wird sichern können.

20

Das Gericht verkennt hierbei nicht, dass der Antragsteller auch in der Zeit, als die Antragsteller Aufenthaltstitel besaßen und dadurch ihr aufenthaltsrechtlicher Status gesichert war, wegen der Erkrankung der Antragstellerin keine Beschäftigung aufgenommen hat. Gleichwohl bestehen gewichtige Unterschiede zwischen der damaligen und der jetzigen Situation.

21

Zum einen kann nicht völlig ausgeschlossen werden, dass sich der gesundheitliche Zustand - ohne die zusätzliche psychische Belastung durch die drohende Aufenthaltsbeendigung - infolge der langjährigen ärztlichen Behandlung und daraus resultierenden verbesserten medikamentösen und sonstigen Behandlungsmöglichkeiten im Vergleich zu der früheren Situation verbessert.

22

Zum anderen lässt sich nicht ausschließen, dass der Antragsteller durch die im Vergleich zur damaligen Situation für den Aufenthaltsstatus nunmehr maßgebliche Bedeutung der Aufnahme einer Beschäftigung motiviert wird, die Betreuungssituation der Antragstellerin so zu gestalten, dass ihm die Annahme einer Arbeitsstelle möglich ist.

23

Da Gericht verkennt ebenfalls nicht, dass der Antragsteller insbesondere aufgrund seiner nur "einfachen Deutschkenntnisse" und seiner bereits lange andauernden Arbeitslosigkeit Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben wird. Dies rechtfertigt aber nicht die sichere Prognose, es sei ausgeschlossen, dass er ein Einkommen in Höhe des Sozialhilfebedarfs der Antragsteller erzielen werde.

24

Die Frage der Reisefähigkeit bedarf daher derzeit keiner gerichtlichen Beurteilung.

25

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 3 Nr. 1, 39 Abs. 1 GKG.