Arbeitsgericht Osnabrück
Urt. v. 08.06.2005, Az.: 4 Ca 546/04

Unwirksamkeit einer ordentlichen Kündigung wegen fehlender Massenentlassungsanzeige des Arbeitgebers vor Ausspruch der Kündigung; Erfordernis der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts durch das Gericht, bei welchem ein Rechtsstreit ausschließlich unter Privaten anhängig ist

Bibliographie

Gericht
ArbG Osnabrück
Datum
08.06.2005
Aktenzeichen
4 Ca 546/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 33411
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:ARBGOSN:2005:0608.4CA546.04.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
LAG Niedersachsen - 09.12.2005 - AZ: 10 Sa 1169/05

Fundstellen

  • NZA-RR 2005, VI Heft 8 (amtl. Leitsatz)
  • NZA-RR 2005, 475-476 (Volltext mit red. LS)

Verfahrensgegenstand

Feststellung

Redaktioneller Leitsatz

Eine Kündigung ist gemäß § 134 BGB in Verbindung mit § 17 Abs. 1 KSchG unwirksam, wenn der Arbeitgeber die erforderliche Massenentlassungsanzeige erst nach dem Zugang der Kündigung erstattet.

In dem Rechtsstreit
hat die 4. Kammer des Arbeitsgerichts Osnabrück
auf die mündliche Verhandlung vom 08.06.2005
durch
den Richter am Arbeitsgericht ... als Vorsitzenden und
die ehrenamtlichen Richter ... als Beisitzer
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die Kündigung vom 29.07.2004, dem Kläger zugegangen am 29.07.2004, beendet worden ist.

  2. 2.

    Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

  3. 3.

    Der Streitwert wird auf 6.600,- EUR festgesetzt.

  4. 4.

    Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Arbeitgeberkündigung vom 29.07.2004.

2

Der am 12.09.1974 geborene Kläger war seit dem 01.01.2000 bei der Beklagten zu einem Bruttomonatseinkommen von 2.000,00 Euro als Aushilfe auf Abruf in der Versandstraße beschäftigt. Dem Arbeitsverhältnis lag der schriftliche Arbeitsvertrag vom 25.09.2000 (Bl. 11 bis 13 der Akte) zugrunde. Der Kläger wurde bei der Beklagten im Bereich der Ladezone sowie als Fahrer eingesetzt.

3

Die Beklagte beschäftigt etwa 500 Arbeitnehmer. Zum Stichtag 31.12.2004 hat die Beklagte 59 Mitarbeiter entlassen. Die Kündigungen wurden von der Beklagten mit Schreiben vom 29.07.2004 zum 31.12.2004 ausgesprochen. Auch das Arbeitsverhältnis des Klägers wurde mit Schreiben vom 29.07.2004 (Bl. 14 der Akte) von der Beklagten zum 31.12.2004 gekündigt.

4

Gegen diese Kündigung wendet sich der Kläger mit seiner am 18.08.2004 bei Gericht eingegangenen Klage, die der Beklagten am 21.08.2004 zugestellt wurde. Der Kläger bestreitet die ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung. Er hält die Kündigung für sozial ungerechtfertigt und rügt die getroffene Sozialauswahl als fehlerhaft. Mit Schriftsatz vom 21.02.2005 hat der Kläger ferner die Unwirksamkeit der Kündigung wegen fehlender Massenentlassungsanzeige vor Ausspruch der Kündigung geltend gemacht. Der Kläger beruft sich dazu auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27.01.2005.

5

Unstreitig hat die Beklagte die Anzeige bei der Bundesagentur für Arbeit - Agentur für Arbeit Osnabrück - erst mit Schreiben vom 18.11.2004 erstattet. Dies ergibt sich aus dem Bescheid der Bundesagentur für Arbeit - Agentur für Arbeit Osnabrück - vom 13.12.2004 (Bl. 114 und 115 der Akte).

6

Der Kläger beantragt,

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die Kündigung vom 29.07.2004 - dem Kläger zugegangen am 29.07.2004 - beendet worden ist.

7

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

8

Sie ist der Auffassung, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 27.01.2005 sei vorliegend nicht unmittelbar anwendbar, da eine richtlinienkonforme Auslegung ausscheide und zudem ein wirksamer Bescheid der Bundesagentur für Arbeit vorliege. Die Beklagte könne sich im Übrigen auch auf Vertrauensschutz vor dem Hintergrund des seit 1963 bestehenden Rechts- und Gesetzesverständnisses der §§ 17, 18 KSchG berufen.

9

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

10

Die Klage ist zulässig und begründet.

11

Gegen die Zulässigkeit der fristgerecht im Sinne von § 4 S. 1 KSchG in Verbindung mit § 167 ZPO erhobenen Klage bestehen keine Bedenken. Bei Eingang der Klageschrift am 18.08.2004 war die Klagefrist von 3 Wochen ausgehend vom Zugangszeitpunkt 29.07.2004 noch nicht abgelaufen. Die Zustellung der Klageschrift bei der Beklagten ist am 21.08.2004 und damit "demnächst" im Sinne von § 167 ZPO erfolgt.

12

Die Klage ist auch begründet. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Kündigung sozial gerechtfertigt im Sinne von § 1 KSchG ist und ob der Betriebsrat ordnungsgemäß beteiligt wurde. Die Kündigung ist nämlich gem. § 134 BGB i.V.m. § 17 Abs. 1 KSchG unwirksam. Gem. § 17 Abs. 1 KSchG ist der Arbeitgeber verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er unter anderem in Betrieben mit in der Regel mind. 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 vom Hundert der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt. Die Beklagte hat vorliegend bei etwa 500 insgesamt beschäftigten Arbeitnehmern 59 Arbeitnehmer zum 31.12.2004 entlassen. Damit werden die Zahlenwerte des § 17 Abs. 1 Nr. 2 oder Nr. 3 KSchG überschritten. Damit bestand die Verpflichtung der Beklagten, bei der Agentur für Arbeit eine Massenentlassungsanzeige zu erstatten.

13

Die von der Beklagten am 18.11.2004 erstattete Massenentlassungsanzeige genügt den Anforderungen des § 17 Abs. 1 KSchG nicht. Denn diese Anzeige ist erst nach Zugang der Kündigung vom 29.07.2004 erfolgt. Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 27.01.2005 (Rechtssache C-188/03-NZA 2005, 213 ff. [EuGH 27.01.2005 - C 188/03]) entschieden, dass die Art. 2 bis 4 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über Massenentlassungen dahingehend auszulegen sind, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis ist, dass als Entlassung gilt. Der Arbeitgeber darf Massenentlassungen danach erst nach Ende des Konsultationsverfahrens im Sinne des Art. 2 der Richtlinie 98/59 und nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung im Sinne der Art. 3 und 4 der Richtlinie vornehmen. Diese Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist vorliegend einschlägig und anwendbar. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs muss ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit ausschließlich zwischen Privaten anhängig ist, bei der Anwendung der Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, die zur Umsetzung der in einer Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen erlassen worden sind, das gesamte nationale Recht berücksichtigen und es so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes der Richtlinie auslegen, um zu einem Ergebnis zu gelangen, dass mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel vereinbar ist (Urteil vom 05.10.2004 -Rs C 397-01 - Pfeiffer). Bei der danach gebotenen richtlinienkonformen Auslegung ist Inhalt des Begriffs der Entlassung in § 17 Abs. 1 KSchG die Abgabe der Kündigungserklärung des Arbeitgebers. Die Kammer folgt insoweit der ausführlichen Begründung in der Entscheidung des Arbeitsgerichts Bochum vom 17.03.2005 (NJOZ 2005, 1804 ff.; ebenso Riesenhuber/Domröse, NZA 2005, 568 und 569). Entgegen der Auffassung der Beklagten ist insoweit auch eine Auslegung des § 17 Abs. 1 KSchG möglich.

14

Die Beklagte kann sich insoweit auch nicht auf Vertrauensschutz berufen. Denn vorliegend geht es nicht um Rechtsetzung, sondern um Rechtsprechung, also um Rechtsanwendung. Auch insoweit folgt die Kammer der zutreffenden und umfassenden Begründung des Arbeitsgericht Bochum in dessen Urteil vom 17.03.2005 (AZ: 3 Ca 307/04, NJOZ 2005, 1805 ff. - unter 1.5 der Gründe).

15

Der arbeitsgerichtlichen Prüfung und Feststellung ihrer Unwirksamkeit steht auch nicht die von der Beklagten geltend gemachte 'Bindungswirkung des Bescheides der Agentur für Arbeit entgegen. Eine solche Bindungswirkung besteht nämlich nicht, wie das Arbeitsgericht Bochum (Urteil vom 17.03.2005 -NJOZ 2005, 1804, 1814 f. unter 1.3 der Gründe) ausführlich begründet hat. Das erkennende Gericht schließt sich diesen Ausführungen an.

16

Die verspätete Massenentlassungsanzeige seitens der Beklagten führt zur Unwirksamkeit der Kündigung wegen Gesetzesverstoßes gem. § 134 BGB (so auch ArbG Berlin vom 01.03.2005 - NZA 2005, 585 und 586; ArbG Bochum, a.a.O.).

17

Der Kläger hat sich auch rechtzeitig auf diesen Unwirksamkeitsgrund berufen. Er hat dies zwar nicht innerhalb der Klagefrist von 3 Wochen geltend gemacht. Gem. § 6 KSchG konnte der Kläger aber bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung I. Instanz sich zur Begründung der Unwirksamkeit der Kündigung auch auf innerhalb der Klagefrist nicht geltend gemachte Gründe berufen.

18

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

19

Gem. § 64 Abs. 3 Nr. 1 ArbGG war die Berufung zuzulassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, da die der vorliegenden Entscheidung zugrunde liegende Rechtsfrage nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs noch nicht höchstrichterlich von einem deutschen Gericht beurteilt wurde.

Streitwertbeschluss:

Der Streitwert wird auf 6.600,- EUR festgesetzt.

Der Streitwert ist gem. den §§ 61 Abs. 1 ArbGG, 42 Abs. 4 S. 1 GKG festgesetzt worden.

Holzmann