Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 02.12.2010, Az.: S 5 SO 177/09
Anrechnung einer Verpflegung im Krankenhaus als anrechnungsfähiges Einkommen im Zusammenhang mit der Gewährung von Sozialhilfe
Bibliographie
- Gericht
- SG Osnabrück
- Datum
- 02.12.2010
- Aktenzeichen
- S 5 SO 177/09
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 35423
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGOSNAB:2010:1202.S5SO177.09.0A
Rechtsgrundlagen
- § 28 Abs. 1 S. 2 SGB XII
- § 82 Abs. 1 S. 1 SGB XII
- § 1 Abs. 1 Nr. 11 ALG
- Art. 3 Abs. 1 GG
- § 1 Abs. 1 Nr. 11 ALG II-VO
Tenor:
- 1)
Der Bescheid vom 10.10.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.10.2009 wird insoweit aufgehoben, als darin eine Kürzung des Regelsatzes aufgrund des Krankenhausaufenthaltes der Klägerin vorgenommen worden ist.
- 2)
Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
- 3)
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen eine Kürzung ihrer Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) während eines Krankenhausaufenthaltes.
Die im Jahre 1963 geborene Klägerin ist voll erwerbsgemindert und steht im laufenden Bezug von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII. Sie gesetzlich krankenversichert, die Beiträge werden von dem Beklagten übernommen.
Der Beklagte hob die bewilligten Leistungen mit Bescheid vom 10.10.2008 teilweise auf, da die Klägerin am 1.11.2008 in ein Krankenhaus aufgenommen werde und ab diesem Zeitpunkt nur noch Anspruch auf einen reduzierten Regelsatz i.H.v. 200,07 EUR habe.
Die Klägerin legte gegen den Bescheid mit Schreiben vom 4.11.2008 Widerspruch ein, da es nicht zulässig sei, ihre Leistungen zu kürzen.
Die Klägerin wurde dann am 1.1.2009 aus dem Krankenhaus entlassen. Der Beklagte gewährte ihr daraufhin ab diesem Zeitpunkt mit Bescheid vom 14.1.2009 wieder den vollen Regelsatz.
Der Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 23.10.2009 zurück. Zur Begründung führte er aus, dass die Kürzung des Regelsatzes auf § 28 Abs. 1 SGB XII beruhe, da der Bedarf der Klägerin während des Krankenhausaufenthaltes teilweise gedeckt gewesen sei. Sie habe dort kostenlose Verpflegung enthalten, so dass der Regelsatz um den Anteil für Ernährung i.H.v. 122,85 EUR zu reduzieren sei. Darüber hinaus sei eine Ersparnis im Bereich Energie i.H.v. 28,08 EUR (8% des Regelsatzes) eingetreten. Die Klägerin habe daher während ihres Krankenhausaufenthaltes lediglich einen Anspruch auf einen Regelsatz i.H.v. 200,07 EUR gehabt.
Die Klägerin hat am 30.11.2009 Klage erhoben. Diese begründet sie damit, dass die Kürzung des Regelsatzes nicht rechtmäßig sei.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Bescheid vom 10.10.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.10.2009 insoweit aufzuheben, als darin eine Kürzung des Regelsatzes aufgrund des Krankenhausaufenthaltes der Klägerin vorgenommen worden ist.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte verteidigt die angefochtenen Bescheide, die er für rechtmäßig hält.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gem. § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte im vorliegenden Verfahren gem. § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben.
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid vom 10.10.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.10.2009 erweist sich als rechtswidrig, denn die Klägerin hatte auch während ihres Krankenhausaufenthaltes Anspruch auf den vollen Regelsatz.
Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII werden die Bedarfe abweichend festgelegt, wenn im Einzelfall ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor, denn eine solche abweichende Festlegung ist nur zulässig, wenn der Bedarf durch eine andere Leistung nach dem SGB XII gedeckt wird. Dies ist bei der Verpflegung im Krankenhaus nicht der Fall, da es sich dabei im Regelfall um eine Leistung nach dem SGB V handelt.
Eine bedarfsmindernde Berücksichtigung von Zuwendungen nach § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII nur in Betracht, wenn diese von einem Träger der Sozialhilfe als Leistung nach dem SGB XII erbracht werden. Eine Berücksichtigung als Einkommen scheidet dann nämlich schon deshalb aus, weil nach § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB XII Leistungen nach dem SGB XII von dem Einkommensbegriff ausdrücklich ausgenommen sind. Dies ist der maßgebende Gesichtspunkt für die Abgrenzung beider Vorschriften. Der Anwendungsbereich des § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII ist deshalb zur Vermeidung von Doppelleistungen dann eröffnet, wenn es bei der Gewährung von Leistungen zum Lebensunterhalt - etwa als Teil der Eingliederungshilfeleistung - zu Überschneidungen mit den durch den Regelsatz nach § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB XII pauschal abgegoltenen tatsächlichen Bedarfen kommt. Einer solchen Überschneidung kann nicht im Rahmen der Einkommensberücksichtigung, sondern allein durch Minderung des Bedarfs nach § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII begegnet werden, soweit die Voraussetzungen dieser Vorschrift für eine Absenkung des Regelsatzes vorliegen. In anderen Fällen, in denen - wie hier - die Leistung nicht (institutionell) als Sozialhilfe erbracht wird, ist im Rahmen der normativen Abgrenzung eine Berücksichtigung als Einkommen i.S. von § 82 SGB XII zu prüfen; Einkommen mindert also im Sinne der gesetzlichen Regelung nicht bereits den Bedarf (vgl. BSG, Urteil vom 23.3.2010 - B 8 SO 17/09 R). Im vorliegenden Fall wurde der Bedarf nicht durch eine andere Leistung nach dem SGB XII gedeckt, denn die Klägerin ist gesetzlich krankenversichert, so dass die Kosten des Krankenhausaufenthaltes von ihrer Krankenkasse getragen wurden.
Die kostenlose Verpflegung im Krankenhaus kann auch nicht als Einkommen gem. § 82 Abs. 1 SGB XII auf die Leistungen angerechnet werden, denn dies würde zu einer Ungleichbehandlung der Klägerin im Vergleich mit Beziehern von Leistungen nach dem SGB II führen. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 11 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (ALG II-VO) ist Verpflegung, die außerhalb der in den §§ 2, 3 und 4 Nummer 4 genannten Einkommensarten bereitgestellt wird, nicht als Einkommen zu berücksichtigen. Eine solche Regelung findet sich in der Verordnung zur Durchführung des § 82 SGB XII nicht. § 1 Abs. 1 Nr. 11 ALG II-VO ist jedoch nach Auffassung der Kammer entsprechend anzuwenden, denn die Bezieher von Leistungen nach dem SGB XII dürfen insoweit nicht schlechter gestellt werden (vgl. Gutzler, in: jurisPK-SGB XII, § 28, Rn. 58; allgemein zur Notwendigkeit einer Harmonisierung von SGB II und SGB XII: Stölting/Greiser, SGb 2010, 631 ff.).
Der allgemeine Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG verbietet es, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders zu behandeln, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen können. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Gesetzgeber also, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Zwar hat der Gesetzgeber bei Sozialleistungen, die an die Bedürftigkeit des Empfängers anknüpfen, grundsätzlich einen weiten Gestaltungsspielraum. Ungleichbehandlung und rechtfertigender Grund müssen aber in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmal reichen die Anforderungen an den Differenzierungsgrund dabei vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Differenzierungen, die dem Gesetzgeber verboten sind, dürfen auch von den Gerichten im Wege der Auslegung gesetzlicher Vorschriften nicht für Recht erkannt werden. Ist von mehreren Auslegungen nur eine mit dem Grundgesetz vereinbar, muss diese gewählt werden. Entsprechend sind unter Beachtung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) Bezieher von Leistungen nach dem SGB II und nach dem SGB XII bei der Bewertung von Sachbezügen gleich zu behandeln, soweit kein (rechtfertigender) Grund für eine unterschiedliche Behandlung erkennbar ist. Insoweit existiert bei der Bewertung von kostenlosem Essen als Einkommen im Recht des SGB II kein Bezug zu der dem SGB II immanenten Erwerbsbezogenheit (vgl. BSG, Urteil vom 23.3.2010 - B 8 SO 17/09 R). In Anbetracht dieser Rechtsprechung - der sich die Kammer anschließt - ist § 1 Abs. 1 Nr. 11 ALG II-VO im vorliegenden Verfahren aus verfassungsrechtlichen Gründen entsprechend anzuwenden, denn es ist nicht ersichtlich, wie sich die unterschiedliche Anrechnung von kostenloser Verpflegung im SGB II und im SGB XII rechtfertigen ließe. Wenn es sich nach § 1 Abs. 1 Nr. 11 ALG II-VO nicht um Einkommen handelt, dann muss dies auch für die Bezieher von Leistungen nach dem SGB XII gelten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Die Berufung bedurfte gem. § 144 Abs. 1 SGG der Zulassung, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 Euro nicht übersteigt. Die Kammer hat die Berufung gem. § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung der Sache zugelassen. Über die Frage der analogen Anwendung des § 1 Abs. 1 Nr. 11 ALG II-VO auf die Leistungen nach dem SGB XII ist - soweit ersichtlich - höchstrichterlich noch nicht entschieden worden.