Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 18.02.2010, Az.: 1 Ss 218/09
Grenzen tatrichterlicher Beweiswürdigung
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 18.02.2010
- Aktenzeichen
- 1 Ss 218/09
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 10995
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:2010:0218.1SS218.09.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Aurich - 08.09.2009 - AZ: 12 Ns 527/08
Rechtsgrundlagen
- § 176 Abs. 1 StGB
- § 176 Abs. 3 StGB
- § 261 StPO
Amtlicher Leitsatz
Bekundet eine inzwischen erwachsene Zeugin, an ihr sei im Alter von 12 Jahren ein Analverkehr bis zum Samenerguss vollzogen worden, und gibt sie ferner an, sie habe dabei geschlafen und erinnere sich nicht daran, durch die Tat wach geworden und Schmerzen gehabt zu haben, so ist ein solcher Hergang in einem Maße unwahrscheinlich, dass das Gericht ihn jedenfalls nicht ohne sachverständige Beratung für möglich halten darf.
Tenor:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 1. kleinen Strafkammer des Landgerichts Aurich vom 8. September 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Aurich zurückverwiesen, die auch über die Kosten des Rechtsmittels zu entscheiden hat.
Gründe
Das Amtsgericht - Schöffengericht - Aurich hat den Angeklagten mit Urteil vom 30. April 2008 wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt.
Die dagegen eingelegte Berufung der Staatsanwaltschaft ist später zurückgenommen worden. die Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Aurich mit Urteil vom 8. September 2009 verworfen.
Mit hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts.
Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist rechtsfehlerhaft.
Zwar obliegt die Beweiswürdigung allein dem Tatgericht. Dessen Überzeugung, die es sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gebildet hat, ist für das Revisionsgericht grundsätzlich bindend. Dies gilt auch dann, wenn eine andere Würdigung des Beweisergebnisses möglich gewesen wäre. Jedoch hat das Revisionsgericht die Beweiswürdigung des Tatrichters auf Rechtsfehler zu überprüfen. Ein solcher ist u. a. dann zu bejahen, wenn die Beweiswürdigung sich so sehr von einer tragfähigen Tatsachengrundlage löst, dass sich die vom Tatrichter gezogene Schlussfolgerung letztlich lediglich als bloße Vermutung erweist, vgl. BGHR StPO, § 261, Vermutung 7, 8, 11. So liegt der Fall hier.
Zu Fall 3 des Urteils hat die Strafkammer festgestellt, der Angeklagte sei mit seinem erigierten Penis in den Anus der damals zwölfjährigen schlafenden Zeugin H... eingedrungen und habe den Analverkehr bis zum Samenerguss durchgeführt (UA S. 5).
Diese Feststellung beruht ausweislich der Urteilsgründe auf der Aussage der Zeugin H.... Diese Zeugin hat aber auch angegeben (UA S. 31), sich nicht an Schmerzen bei dem Analverkehr und auch nicht daran erinnern zu können, hierdurch aufgewacht zu sein. Wach geworden sei sie davon, dass es zwischen ihren Beinen nass geworden sei. Die Strafkammer hat auch diese Angaben für glaubhaft gehalten, weil die Zeugin zunächst noch geschlafen und die Stöße des Angeklagten und Schmerzen deshalb möglicherweise nicht bewusst wahrgenommen habe, sondern dadurch nur in eine Aufwachphase geraten sei, die - wie es allgemein menschlicher Erfahrung entspreche - dazu geführt haben könne, dass sich die Zeugin als erstes an die Nässe zwischen ihren Beinen erinnert habe.
Ein solcher Hergang erscheint indessen als nahezu ausgeschlossen. Dass ein zwölfjähriges Mädchen nicht aus dem Schlaf erwacht und sich nicht an Schmerzen erinnern kann, wenn ein erwachsener Mann seinen erigierten Penis in den Anus des Mädchens einführt und den Analverkehr bis zum Samenerguss durchführt, ist in allerhöchstem Maße unwahrscheinlich, es sei denn, das Kind hätte einen abnorm tiefen Schlaf gehabt, etwa aufgrund einer besonderen Veranlagung, einer Erkrankung, wegen eines eingenommenen Schlafmittels oder aufgrund einer Intoxikation. Dergleichen ist hier aber nicht festgestellt worden. Deshalb ist der von der Zeugin geschilderte Hergang jedenfalls als in einem solchen Maß unwahrscheinlich anzusehen, dass die Strafkammer ihn nicht ohne die sachverständige Beratung eines Mediziners als möglich ansehen konnte. Die laienhaften Erwägungen der Strafkammer über Wahrnehmungsvorgänge in der Aufwachphase bilden keine ausreichend tragfähige Grundlage für die von ihr gezogene Schlussfolgerung.
Diese rechtsfehlerhafte Beweiswürdigung erfasst auch die übrigen Fälle. Die hierzu getroffenen Feststellungen der Strafkammer beruhen weit überwiegend auf der Aussage der Zeugin H.... Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass - sofern sich deren Aussage im Fall 3 als nicht glaubhaft erweist - der Beweiswert ihrer Aussagen auch zu den übrigen Fällen geringer zu bewerten ist.
Das angefochtene Urteil war deshalb insgesamt mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Aurich zurückzuverweisen. Diese wird auch zu prüfen haben, ob ein bisher nicht mit dem Fall befasster Glaubwürdigkeitsgutachter hinzuzuziehen ist. Im Falle eines erneuten Schuldspruchs wird sie bei der Strafzumessung auch zu berücksichtigen haben, dass das Strafbedürfnis dadurch deutlich verringert sein dürfte, dass die Taten des - weder zuvor noch danach jemals straffällig gewordenen - Angeklagten, dem keine Verfahrensverzögerung anzulasten ist, inzwischen rund 20 Jahre zurückliegen, vgl. BGH NStZRR 1999, 108.