Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 11.03.2010, Az.: 1 Ws 116/10
Haftverschonung bei dringendem Tatverdacht eines Tötungsdelikts
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 11.03.2010
- Aktenzeichen
- 1 Ws 116/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 12077
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:2010:0311.1WS116.10.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Oldenburg - 02.03.2010 - AZ: 6 KLs 6/10
- AG Wildeshausen - 17.12.2009 - AZ: 3 Gs 216/09
Rechtsgrundlagen
- § 112 Abs. 3 StPO
- § 116 StPO
Fundstelle
- StRR 2010, 163 (amtl. Leitsatz)
Amtlicher Leitsatz
Wer wiederholt mit bedingtem Tötungsvorsatz 'aus Jux' Leitpfosten von einer Autobahnbrücke auf die Fahrbahn wirft, handelt nicht vernunftgesteuert. Da eine weitere Tatwiederholung deshalb nicht sicher ausgeschlossen werden kann, kommt eine Verschonung von der mit dem Haftgrund der schweren Tat begründeten Untersuchungshaft gegen Auflagen nicht in Betracht.
Tenor:
Auf die Beschwerden der Staatsanwaltschaft Oldenburg werden die Beschlüsse der 1. großen Jugendkammer des Landgerichts Oldenburg vom 2. März 2010 dahin abgeändert, dass die gegen die Angeschuldigten erlassenen Haftbefehle des Amtsgerichts Wildeshausen vom 17. Dezember 2009 wieder in Vollzug gesetzt werden.
Gründe
Das Amtsgericht Wildeshausen hat gegen jeden der Angeschuldigten am 17. Dezember 2009 einen jeweils auf Schwere der Tat (§ 112 Abs. 3 StPO) gestützten Haftbefehl erlassen.
In diesen Haftbefehlen wird den Angeschuldigten vorgeworfen, gemeinschaftlich versucht zu haben, einen Menschen heimtückisch und mit gefährlichen Mitteln zu töten und zugleich die Sicherheit des Straßenverkehrs dadurch beeinträchtigt zu haben, dass sie einenähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriff wie ein Hindernisbereiten vornahmen und dadurch Leib und Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdeten, §§ 211, 315b Abs. 1 Nr. 3, 22, 23, 25 Abs. 2, 52 StGB. §§ 1, 105 JGG.
Dem liegt zugrunde, dass die Angeschuldigten am 16. Dezember 2009 gegen 22 Uhr aufgrund gemeinsamen Tatentschlusses im Bereich der Gemeinde H... von einer Brücke über die Autobahn A 1 zunächst einen Leitpfosten auf den Hauptfahrstreifen der Autobahn in den fließenden Verkehr warfen, der von einem Sattelzug überfahren wurde, und zeitgleich einen zweiten Leitpfosten auf die Überholspur warfen, der ein dort fahrendes Fahrzeug zweimal traf und vorne rechts und links erheblich beschädigte.
In der am 22. Februar 2010 beim Landgericht eingegangenen Anklageschrift wird den Angeschuldigten ferner zur Last gelegt, bereits am 1. Dezember 2009 gemeinschaftlich zwei Leitpfosten von jener Autobahnbrücke auf die Autobahn geworfen zu haben, wobei ein Leitpfosten zu einem Viertel auf der Hauptfahrspur und im Übrigen auf der Standspur liegen blieb, während der zweite Leitpfosten unmittelbar vor einem Sattelzug auf die rechte Fahrbahn fiel und den Sattelzug dabei nur knapp verfehlte, weil der Fahrer nach links auswich.
Das Landgericht Oldenburg hat die Haftbefehle, aufgrund welcher sich die Angeschuldigten seit dem 17. Dezember 2009 in Untersuchungshaft befanden, durch Beschlüsse vom 2. März 2010 unter Auflagen außer Vollzug gesetzt.
Die dagegen eingelegten Beschwerden der Staatsanwaltschaft Oldenburg, denen das Landgericht nicht abgeholfen hat und denen die Angeschuldigten mit Verteidigerschriftsätzen vom 10. März 2010 entgegengetreten sind, haben Erfolg. Sie führen zur Invollzugsetzung der Haftbefehle.
Es besteht der Haftgrund der Schwerkriminalität nach § 112 Abs. 3 StPO. Die Angeschuldigten sind aufgrund ihrer Teilgeständnisse und der in der Anklage bezeichneten Beweismittel des in den Haftbefehlen bezeichneten Mordversuchs dringend verdächtig.
Der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO kann allerdings nur angenommen werden, wenn mindestens eine nach den Fallumständen nicht ausschließbare Flucht oder Verdunkelungsgefahr oder die ernstliche Befürchtung besteht, der Beschuldigte werde weitere Verbrechenähnlicher Art begehen. Von Letzterem ist hier auszugehen. Denn die Angeschuldigten sind dringend verdächtig, im Abstand von 15 Tagen Leitpfosten von einer Brücke auf die Autobahn geworfen zu haben und dabei den Tod von Insassen dort fahrender Fahrzeuge mindestens billigend in Kauf genommen zu haben. Zur zweiten Tat entschlossen sie sich, nachdem sie bei dem ersten Mal mit den Leitpfosten kein fahrendes Fahrzeug getroffen hatten. Sie handelten dabei nach Angabe des Angeschuldigten M... "aus Jux". Das völlig Verantwortungslose und Irrationale der Taten lässt es als nicht ausgeschlossen erscheinen, dass die Angeschuldigten - kämen sie in Freiheit - gleichartige Taten wiederholten.
Bei dieser Sachlage kann die vom Landgericht angeordnete Haftverschonung keinen Bestand haben. Allerdings ist auch bei Vorliegen des Haftgrundes der Schwerkriminalität eine Haftverschonung nach § 116 StPO, den das Landgericht hier angewendet hat, nicht vollends ausgeschlossen. Das entspricht zwar nicht dem Wortlaut der Norm, ist aber zwingende Folge des Verfassungsgebots der Verhältnismäßigkeit, vgl. BVerfG NJW 1966, 243 [BVerfG 15.12.1965 - 1 BvR 513/65].
Es fehlen jedoch die Voraussetzungen einer solchen Haftverschonung. Diese wären wegen der oben aufgezeigten Besonderheiten des Haftgrundes der Schwerkriminalität nur gegeben, wenn durch die den Angeschuldigten bei der Haftverschonung gemachten Auflagen hinreichend sicher ausgeschlossen werden könnte, sie würden gleichartige Taten nicht mehr begehen. Das hat das Landgericht zu Unrecht bejaht.
Zwar mag, wie das Landgericht zur Begründung seiner Entscheidung anführt, die inzwischen vollzogene Untersuchungshaft die noch jungen Angeschuldigten, die bislang noch nie vor Gericht standen und bisher auch nicht als dissozial auffielen, stark beeindruckt haben. Die weitere Erwägung des Landgerichts, die Angeschuldigten würden dadurch "zumindest in nächster Zukunft" von weiteren Straftaten abgehalten, stellt aber auf ein vernunftgesteuertes Verhalten der Angeschuldigten ab. Hiervon kann wegen der Irrationalität ihrer wiederholten Versuche, ihnen völlig unbekannte Autobahnbenutzer "aus Jux" mit Leitpfosten zu bewerfen und dadurch möglicherweise zu töten, aber gerade nicht mit einem Grad der Gewissheit ausgegangen werden, der eine Tatwiederholung hinreichend sicher ausschlösse. Soweit das Landgericht schließlich auf die geordneten familiären Verhältnisse der Angeschuldigten abstellt, ist dies schon deshalb nicht tragfähig, weil eben diese Verhältnisse zu den Tatzeiten in gleicher Weise bestanden, ohne dass sie die Angeschuldigten vom wiederholten Werfen von Leitpfosten auf die Autobahn abgehalten hätten.
Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft ist angesichts der Schwere der Taten, derer die Angeschuldigten dringend verdächtig sind, und den zu erwartenden langjährigen Haftstrafen auch nicht unverhältnismäßig.