Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 14.10.1998, Az.: L 1 RA 154/97
Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit; Bewertung der Erwerbsminderung anhand des bisherigen Berufs; Berufsschutz; Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen
- Datum
- 14.10.1998
- Aktenzeichen
- L 1 RA 154/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1998, 16644
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:1998:1014.L1RA154.97.0A
Rechtsgrundlagen
- § 43 Abs. 1 SGB VI
- § 43 Abs. 2 SGB VI
- § 44 SGB VI
Der 1. Senat des Landessozialgerichts Miedersachsen in Celle
hat auf die mündliche Verhandlung
vom 14. Oktober 1998
durch
den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht L.
den Richter am Landessozialgericht W.
den Richter am Landessozialgericht H. sowie
die ehrenamtlichen Richter K. und V.
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Unter den Beteiligten ist die Gewährung von Rente wegen Erwerbs-, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit streitig.
Die am 28. Mai 1942 geborene Klägerin hat von 1960 bis 1963 den Beruf der Krankenschwester erlernt und anschließend in diesem Beruf, zuletzt im Kreiskrankenhaus B. 20 Stunden wöchentlich (als Nachtwache) gearbeitet. Die Entlohnung erfolgte nach der Vergütungsgruppe Kr VI (Fallgruppe 21) des Tarifvertrages für Angestellte im Pflegedienst vom 30.06.1989. Seit dem 25. Oktober 1995 war die Klägerin arbeitsunfähig krank.
Im März 1996 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit und legte den Befundbericht der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. T., B., vom 6. Juni 1996 vor. Die Beklagte veranlaßte das internistische Gutachten des Dr. S., S., vom 5. Juli 1996. Der Gutachter diagnostizierte chronische Divertikulitis des Colons descendens, Zustand nach Hemicolektomie (am 2. November 1995) links, Zustand nach Dünndarmileus (am 5. Februar 1996) bei komplettem Verwachsungsbauch, psycho-vegetatives Syndrom und alimentäre Adipositas und hielt die Klägerin noch für fähig, vollschichtig als Krankenschwester zu arbeiten bzw leichte bis mittelschwere Arbeiten ihrer Altersgruppe zu verrichten. Mit Bescheid vom 15. August 1996 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente ab, weil die Klägerin noch in der Lage sei, in ihrem bisherigen Berufsbereich vollschichtig tätig zu sein. Im Verlauf des anschließenden Widerspruchsverfahrens hat die Barmer Ersatzkasse Buxtehude das Gutachten des Dr. F. MDKN, vom 28. August 1996 vorgelegt. Sodann hat die Beklagte das Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. M., S., vom 16. Oktober 1996 eingeholt. Der Gutachter äußerte den Verdacht auf ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom und meinte, die Klägerin könne aus nervenärztlicher Sicht ihren Beruf der Krankenschwester vollschichtig ausüben. Mit Widerspruchsbescheid vom 6. Dezember 1996 wies daraufhin die Widerspruchsstelle der Beklagten den Widerspruch zurück.
Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) S. das internistische Gutachten des Chefarztes Dr. M., Kreiskrankenhaus Land H. in O., vom 17. Juni 1997 eingeholt. Der Sachverständige hat die folgenden Gesundheitsstörungen festgestellt:
- 1.
Zustand nach Hemicolektomie links (11/95) wegen chronischer Divertikulitis mit Zustand nach Bridendünndarmileus 2/96 und Relaparotomie,
- 2.
arterielle Hypertonie, Belastungshypertonie und Adipositas,
- 3.
Karpaltunnelsyndrom rechts,
- 4.
WS-Syndrom.
Zum Leistungsvermögen hat er ausgeführt: Aufgrund des - unzureichend eingestellten - arteriellen Hypertonus mit Belastungshypertonie und der Adipositas bestehe gegenüber gleichaltrigen gesunden Versicherten eine Einschränkung der maximalen körperlichen Leistungsfähigkeit sowie der Dauerbelastungsfähigkeit. Leichte bis mittelschwere Arbeiten, überwiegend im Sitzen, ohne häufiges Bücken, insbesondere eine überwiegende Schreibtischtätigkeit, seien indes noch vollschichtig zumutbar. Die Tätigkeit als Nachtwache sei nicht mehr, die Tätigkeit als Pflegeschwester in Kurkliniken oder Sanatorien und als Stationssekretärin indes noch zumutbar. Im Vordergrund stehe bei der Klägerin eine depressive Grundhaltung. Der Sachverständige empfahl eine ambulante regelmäßige psychosomatische bzw psychiatrische Therapie.
Mit Gerichtsbescheid vom 15. September 1997 hat das SG S. die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Klägerin könne zwar nicht mehr als Stationsschwester oder Nachtschwester arbeiten, sie sei jedoch noch in der Lage, im Pflegebereich von Kurkliniken, Fachkliniken und Sanatorien vollschichtig zu arbeiten.
Gegen diesen ihr am 15. Oktober 1997 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 22. Oktober 1997 Berufung eingelegt und vorgetragen, ihr psychischer Zustand lasse eine Berufstätigkeit nicht mehr zu.
Die Klägerin beantragt,
- 1.
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts S. vom 15. September 1997 und den Bescheid der Beklagten vom 15. August 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 1996 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. April 1996 Rente wegen Erwerbs-, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend. Zur Begründung hat sie Stellungnahme ihrer berufskundlichen Beraterin B. vom 5. Februar 1998 vorgelegt.
Der Senat hat mehrere Auskünfte diverser medizinischer Rehabilitations- und Kurkliniken, u. a. die Auskunft des Ltd. vom 5. Februar 1997 und die berufskundliche Stellungnahme des Sachverständigen H. N. vom 12. April 1996, die vom SG ... in einem anderen Rechtsstreit (Az.: S 5 An 50046/94) eingeholt worden sind, in dieses Verfahren eingeführt, die Befundberichte der Frau Dr. T. vom 18. März 1998, des Orthopäden D., H. vom 16. April 1998 und die Auskunft des Kreiskrankenhauses B. vom 4. August 1998 eingeholt und das arbeitsamtsärztliche Gutachten der Arbeitsamtsärztin K. vom 24. Juni 1998 und das MDKN-Gutachten vom 23. August 1996 (Dr. F.) beigezogen. Schließlich hat der Senat noch die ergänzende berufskundliche Stellungnahme des Arbeitsberaters beim Arbeitsamt O. H. N. vom 22. August 1998 und die ergänzende Auskunft des Dr. D. vom 9. Juli 1998 eingeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozeßakten und die Renten- und Rehabilitationsakten der Beklagten, die dem Senat vorgelegen haben, Bezug genommen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß den §§ 143 f SGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und somit zulässig. Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet.
Der angefochtene Gerichtsbescheid vom 15. September 1997 und der Bescheid der Beklagten vom 15. August 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 1996 erweisen sich nicht als rechtswidrig. Die Beklagte und das SG haben zutreffend entschieden, daß die Klägerin noch keinen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit hat.
Voraussetzung der sich aus den §§ 43, 44 SGB VI ergebenen Rentenansprüche ist ua, daß die Klägerin berufs- bzw erwerbsunfähig ist.
Gemäß, § 43 Abs. 2 SGB VI sind berufsunfähig Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Bei der Beurteilung, ob diese gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind, ist in der Regel vom bisherigen Beruf des Rentenbewerbers, d. h. von seiner letzten versicherungspflichtigen und versicherten Beschäftigung oder Tätigkeit auszugehen (BSGE Bd. 55 S. 45, 47 m.w.N; BSG, Urteil vom 14. September 1995, Az.: 5 RJ 50/94 in NZS 1996 S. 228). Im Sinne dieser Rechtssprechung ist bisheriger Beruf der Klägerin derjenige der Krankenschwester, den sie in dreijähriger Ausbildungszeit erlernt und danach langjährig mit entsprechender Entlohnung im Kreiskrankenhaus Buxtehude ausgeübt hat. Sie genießt damit Berufsschutz als gelernte Angestellte. Diese Tätigkeit der gelernten Krankenschwester kann die Klägerin auch weiterhin ausüben. Zwar ist sie nicht mehr als Krankenschwester im Pflegedienst oder wie bisher in der Nachtwache einsetzbar. Denn hier ist die Verrichtung auch körperlicher schwerer Arbeiten erforderlich, die ihr aus medizinischer Sicht nach übereinstimmender Auffassung aller gehörten Sachverständigen nicht mehr zumutbar sind. Die Unfähigkeit zur Ausübung der letzten Tätigkeit bedeutet indes rentenversicherungsrechtlich noch nicht, daß die Klägerin damit auch berufsunfähig ist. Denn sie muß sich auf andere, ihr gesundheitlich zumutbare Tätigkeiten einer Krankenschwester verweisen lassen.
Aufgrund der zahlreichen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten und beigezogenen ärztlichen Unterlagen, insbesondere aufgrund des Gutachtens des ärztlichen Sachverständigen Dr. M. vom 17. Juni 1997 steht fest, daß bei der Klägerin ein Zustand nach Hemicolektomie links im November 1995, nach Bridendünndarmileus im Februar 1996 und Relaparotomie, eine (schlecht eingestellte) arterielle Hypertonie, Belastungshypertonie und Adipositas (Übergewicht), ein Karpaltunnelsyndrom rechts und ein Hals-, - Brust- und Lendenwirbelsäulensyndrom sowie ein psychophysischer Erschöpfungszustand besteht. Durch diese Gesundheitsstörungen ist das Leistungsvermögen der Klägerin nach Auffassung der ärztlichen Sachverständigen zwar insoweit eingeschränkt, als der Klägerin schwere Arbeiten nicht mehr zumutbar sind. Die Klägerin war und ist jedoch nach übereinstimmender Auffassung und zur Überzeugung des Senats seit Antragstellung noch in der Lage, leichte bis mittelschwere Arbeiten überwiegend im Sitzen vollschichtig zu verrichten, wobei zufolge Dr. M. im Hinblick auf das psychovegetative Erschöpfungssyndrom eine regelmäßige ambulante psychosomatische und psychiatrische Therapie versucht werden sollte. Die grobe Kraft der rechten Hand ist nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. M. nicht beeinträchtigt; rezidivierend treten nach Halteaktivität Parästhesien auf. Dem Senat erscheinen Bedenken gegen diese Beurteilung des Leistungsvermögens nicht begründet, zumal auch die Arbeitsamtsärztin K. und der Gutachter des MDKN in B., Dr. F., vollschichtig leichte Arbeiten ohne häufiges Heben und Tragen und häufiges Bücken für zumutbar und das Leistungsvermögen noch nicht für aufgehoben gehalten haben.
Mit diesem verbliebenen Leistungsvermögen kann die Klägerin nach den Bekundungen des berufskundlichen Sachverständigen N. in seinen Gutachten vom 12. April 1996 und 22. August 1998 durchaus noch Tätigkeiten als Krankenschwester in einem Sanatorium oder Kurheim verrichten; letzteres hat auch bereits der ärztliche Sachverständige Dr. M. in seinem Gutachten vom 17. Juni 1997 bestätigt. Bei diesen Tätigkeiten handelt es sich nach den vom SG O. eingeholten Auskünften in der Regel um leichte Arbeiten, die im Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen verrichtet werden können und bei denen ein Heben und Tragen von Lasten nur in Ausnahmefällen erforderlich ist. Insbesondere kommen hier die im Rahmen einer Tätigkeit als Krankenschwester im Stationsdienst anfallenden körperlich mittelschweren und schweren Arbeiten - etwa das Umbetten von Patienten - in der Regel nicht vor. Das Hauptaufgabengebiet umfaßt organisatorische Tätigkeiten sowie Patientenschulungen, die überwiegend im Sitzen verrichtet werden können. Letzteres ergibt sich u. a. aus der Auskunft des Leitenden Arztes Dr. D., Reha-Klinik T. in B. M. vom 5. Februar 1997. Auch Notfallsituationen, in denen von der Pflegekraft schweres Heben und Tragen durch Umlagerung bzw. Heben und Tragen von Patienten gefordert wird, treten in Sanatorien, Kurheimen und auch in einigen Reha-Kliniken, in denen keine Anschlußheilbehandlung durchgeführt werden, in der Regel nicht bzw. nur gelegentlich auf, wobei zufolge Dr. D. dann in der Regel mehrere Krankenpflegekräfte anwesend sind und helfen und zugreifen können (Auskunft vom 9. Juli 1998).
Die vom SG O. beigezogenen und den Beteiligten gänglich gemachten Auskünfte verschiedener Reha-Kliniken und Sanatorien haben darüber hinaus ergeben, daß für eine gelernte Krankenschwester mit den bei der Klägerin vorliegenden Einschränkungen des Leistungsvermögens Arbeitsplätze in mehr als nur geringfügiger Anzahl in diesen Einrichtungen vorhanden sind, wobei dort die Entlohnung der einer gelernten Krankenschwester entspricht.
Ob derartige Arbeitsplätze frei oder besetzt sind und ob es der Klägerin gelingt, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten, ist ein Risiko, das nicht von der gesetzlichen Rentenversicherung, sonderen von der Arbeitslosenversicherung zu tragen ist.
Ist die Klägerin danach nicht berufsunfähig, so ist sie erst recht nicht erwerbsunfähig im Sinne des § 44 SGB VI. Denn die Erwerbsunfähigkeit setzt eine noch größere gesundheitliche Einschränkung voraus, als es bereits bei der Berufsunfähigkeit der Fall ist.
Die Berufung konnte nach alledem keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Es bestand kein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG).