Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 20.10.1998, Az.: L 3 P 41/97
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen
- Datum
- 20.10.1998
- Aktenzeichen
- L 3 P 41/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1998, 34183
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:1998:1020.L3P41.97.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Aurich - 20.02.1997 - AZ: S 12 P 12107/95
Fundstellen
- Breith. 1999, 119-126
- PflR 2000, 350-355
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 20. Februar 1997 und der Bescheid der Beklagten vom 1. Juni 1995 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 12. September 1995 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 1. April 1995 Pflegegeld nach Pflegestufe III unter Anrechnung bereits erbrachten Pflegegeldes zu zahlen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten aus beiden Rechtszügen zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten für die Zeit ab April 1995 Pflegegeld nach Pflegestufe III (§§ 18 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 37 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 Sozialgesetzbuch, Elftes Buch, Soziale Pflegeversicherung - SGB XI - vom 26.05.1994 - BGBl. I S. 1014).
Der am ... J. geborene Kläger beantragte mit Schreiben vom 7. August 1994 Pflegegeld der Stufe III. Die Beklagte veranlaßte die Erstattung eines Gutachtens durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN). In einem Gutachten vom 6. Februar 1995 vermerkte der Landesmedizinialdirektor Dr. ... als pflegebegründende Diagnosen einen Zustand nach früherem Schenkelhalsbruch, einen Zustand nach schwerem Schlaganfall mit Hemiparese links, einen Zustand nach TEP des rechten Hüftgelenks mit vollständig aufgehobenem Geh- und Stehvermögen, eine Gebrauchsunfähigkeit des linken Armes, ein cerebrales Anfallsleiden und eine Sehminderung u.a. Die vitalen Funktionen würden bedingt selbständig wahrgenommen, der Kläger könne sich bedingt selbständig situativ anpassen und teilweise nur unselbständig für seine Sicherheit sorgen, er könne sich teilweise unselbständig bewegen, sich nur unselbständig sauberhalten, bedingt selbständig essen und trinken sowie bedingt selbständig ausscheiden, er könne sich ebenfalls nur bedingt selbständig beschäftigen und kommunizieren sowie ruhen und schlafen, die vitalen Bereiche des Lebens könne er teilweise unselbständig wahrnehmen.
Bei ihm bestehe ein täglicher Hilfebedarf im Bereich der Körperpflege zweimal beim Waschen, zweimal pro Woche beim Duschen, einmal bei der Zahnpflege, einmal beim Kämmen/Rasieren und bei der Darm- und Blasenentleerung nach Bedarf, intensive Hilfe sei bei der Toilettenbenutzung notwendig. Im Bereich der Ernährung habe der Kläger einen täglichen Hilfebedarf fünfmal bei der mundgerechten Zubereitung und gelegentlich bei der Nahrungsaufnahme. Im Bereich der Mobilität bestehe nach seinen Angaben ein täglicher Hilfebedarf achtmal beim Aufstehen/Zu-Bett-Gehen, viermal beim An-/Auskleiden, beim Stehen nach Bedarf, ebenfalls beim Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung und beim Gehen nach Bedarf. Im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung habe der Kläger einen wöchentlichen Hilfebedarf dreimal beim Einkaufen, siebenmal beim Kochen, beim Reinigen der Wohnung nach Bedarf, einundzwanzigmal beim Spülen sowie beim Beheizen der Wohnung nach Bedarf und beim Wechsel/Waschen der Kleidung ebenfalls nach Bedarf. Der Kläger sei in allen wiederkehrenden Verrichtungen des Alltags ständig und in erheblichem Umfang auf intensive Fremdhilfe angewiesen. Es lägen nach der durchgeführten Untersuchung weiterhin die Voraussetzungen für die Anerkennung von Schwerpflegebedürftigkeit vor. Der Kläger sei aber nicht schwerstpflegebedürftig, da keine vollständige Immobilität bestehe.
Gegen dieses Gutachten wandte sich der Kläger mit Schreiben vom 20. März 1995, in dem er u.a. geltend machte, nachts bedürfe er dreimal der Hilfe bei der Darm- und Blasenentleerung und bei der Umlagerung. Am Tage müsse er aus dem Bett gehoben werden und brauche Hilfe beim Anziehen. Er müsse zur Toilette begleitet und gereinigt werden und dies mehrmals am Tag. Zahnpflege, Kämmen und Rasieren seien nicht selbständig möglich, ebensowenig das tägliche Waschen und das Duschen. Er könne nur bedingt selbständig stehen und gehen und dies nur für kurze Zeiten und Strecken mit einem Dreipunkt-Gehstock. Bei Arztbesuchen und Krankengymnastik bedürfe er der Hilfe seiner Frau, ebenso beim An- und Ausziehen, das dreimal am Tag und zusätzlich dreimal in der Woche bei der Krankengymnastik erforderlich sei. Da er mit einem TENS-Gerät versorgt sei, müsse er nachmittags Bettruhe halten. Wenn er die Wohnung mit einem E-Fahrer verlassen bzw wiederaufsuchen wolle, sei beim Hinsetzen und Aufstehen die Hilfe der Ehefrau erforderlich. Die Nahrung werde mundgerecht zubereitet, die Nahrungsaufnahme geschehe aber weitgehend selbständig, wobei allerdings wegen der Krampfanfälle und der Gefahr des Verschluckens die Ehefrau zugegen sein müsse.
Im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung sei er total auf fremde Hilfe angewiesen. Insgesamt sei sein Hilfebedarf größer, als im Gutachten des MDKN angenommen. Daraufhin veranlaßte die Beklagte eine ergänzende gutachtliche Stellungnahme nach Aktenlage vom 26. Mai 1995. In ihr führte die Sozialmedizinerin ... aus, daß der Kläger zwar in erheblichem Umfang intensiver Fremdhilfe bedürfe, daß aber seine Angaben zur Häufigkeit der einzelnen Hilfeleistungen nicht nachvollziehbar seien. So sei nicht zu verstehen, warum der Kläger siebenmal am Tag gekämmt werden müsse, fünfzehnmal Hilfe bei der Toilettenbenutzung habe und sechzehnmal beim Gehen bzw fünfzehnmal beim Stehen. Gerade in der Mobilität könnten eigentlich keine zahlenmäßigen Angaben gemacht werden, da diese Hilfen immer bedarfsweise erfolgten. Unter Berücksichtigung aller vorliegenden Unterlagen und bei kritischer Würdigung der festgestellten Befunde sei wohl denkbar, daß der Zeitaufwand im Tagesdurchschnitt fünf Stunden betrage. Es sei indessen nicht nachvollziehbar, daß vier Stunden Pflege an der Person erforderlich seien, auch unter Berücksichtigung der nächtlichen Hilfestellungen. Der Zeitaufwand für die Pflege an der Person liege unter vier Stunden täglich. Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 1. Juni 1995 ab.
Mit seinem Widerspruch vom 15. Juni 1995 verfolgte der Kläger sein Begehren weiter und verwies zur Begründung u.a. auf eine ärztliche Bescheinigung des Allgemeinmediziners ... vom 15. Juni 1995. In ihr ist u.a. ausgeführt, der Kläger bedürfe bei den Verrichtungen des täglichen Lebens ständiger Pflege, Betreuung und Hilfe und zwar in einem Umfang, daß die Voraussetzungen für die Annahme der Pflegestufe III erfüllt seien. Mit Widerspruchsbescheid vom 12. September 1995 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung nahm sie Bezug auf die Gutachten des MDKN.
Vor dem Sozialgericht (SG) hat der Kläger erneut eine Bescheinigung des Allgemeinmediziners ... (vom 30.11.1995) vorgelegt. Des weiteren hat er sich auf eine Aufstellung seines täglichen Pflegeaufwands bezogen. Das SG Aurich hat die Klage mit Urteil vom 20. Februar 1997 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger erfülle nicht die Voraussetzungen für Gewährung von Leistungen nach Pflegestufe III. Dies ergebe sich aus den Gutachten des MDKN, die beide widerspruchsfrei, in sich stimmig und überzeugend seien. Die Angaben des Klägers zum Umfang seines Hilfebedarfs unterschieden sich von den Gutachten des MDKN im wesentlichen lediglich in der zeitlichen Bewertung. Nicht in Ansatz gebracht werden könnten Hilfestellungen bei der Hautpflege, dem Einreiben mit einer schmerzstillenden Salbe sowie bei dem Massieren der Nackenmuskulatur, da es sich insoweit nicht um Verrichtungen iS des § 14 Abs. 4 SGB XI handele. Auch aus dem Bericht des Allgemeinmediziners Birkner vom 30. November 1995 ergebe sich kein weitergehender Hilfebedarf.
Gegen das - am 3. April 1997 zugestellte - Urteil hat der Kläger am 2. Mai 1997 Berufung eingelegt. Zur Begründung macht er geltend, aufgrund der vielfältigen gesundheitlichen Einschränkungen, die in den Berichten des Allgemeinmediziners ... vom 15. Juni 1995 und 30. November 1995 mitgeteilt würden, ergäben sich erhebliche Pflegeerschwernisse, die von der Beklagten nicht hinreichend berücksichtigt worden seien. Die mit der Herzerkrankung verbundenen Schwindelerscheinungen sowie die mit der Halbseitenlähmung verbundenen Spastiken wirkten sich stets bei Veränderung der Körperlage sowie beim Gehen und Stehen, aber auch beim Sitzen, pflegeerschwerend aus. Dies habe in den von der Beklagten eingeholten Gutachten keine Berücksichtigung gefunden. Auch das Aufstehen und Zu-Bett-Gehen sowie das An- und Auskleiden erfordere zeitlich einen sehr viel höheren Umfang, als die Gutachter des MDKN angenommen hätten. Dies gelte auch für die Darm- und Blasenentleerung. Unberücksichtigt geblieben seien auch die Transferleistungen, die dadurch notwendig würden, daß der Kläger Hilfestellungen benötige beim Wechsel vom Bett in den Rollstuhl und umgekehrt. Entsprechendes gelte für die Toilettengänge und das Duschen. Für die mindestens 25 Transferleistungen täglich sei ein zusätzlicher Hilfebedarf von 25 Minuten zu berücksichtigen. Auch das nächtlich erforderliche Umlagern habe in den Gutachten keine Berücksichtigung gefunden. Alles in allem errechne sich ein Gesamt-Hilfebedarf für die Verrichtungen des täglichen Lebens von 230 Minuten, der aber wegen der bestehenden Behinderungen und der damit verbundenen Erschwernisse um mindestens 10 % zu erhöhen sei, so daß sich insgesamt im Bereich der Grundpflege ein Hilfebedarf von mehr als vier Stunden ergebe.
Der Kläger beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Aufich vom 20. Februar 1997 und den Bescheid der Beklagten vom 1. Juni 1995 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 12. September 1995 aufzuheben;
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. April 1995 Pflegegeld nach Pflegestufe III zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Selbst wenn man mit dem Kläger im Bereich der Grundpflege von einem Hilfebedarf von 230 Minuten ausgehe, rechtfertige dies nicht die Gewährung von Leistungen nach Pflegestufe III. Der im wesentlichen auf eine allgemeine Erschwernis bei der Pflege gestützte Zuschlag von 10 % zu diesen Pflegezeiten sei nicht nachvollziehbar. Ein nicht nach den einzelnen Verrichtungen differenziert erfolgender Zuschlag erscheine nicht sachgerecht und sei auch vom Gesetzgeber nicht vorgesehen. Des weiteren sei nicht erkennbar, woran sich die Höhe eines solchen Zuschlags zu den Pflegezeiten orientiere. Insbesondere ergäben sich aus den krankheitsbedingten funktionellen Einschränkungen des Klägers keine Anhaltspunkte dafür, daß die Pflege über die ohnehin erforderlichen Hilfeleistungen erschwert werde. Im übrigen aber sei auch nicht erkennbar, inwiefern im Bereich der Grundpflege ein Hilfebedarf von 230 Minuten gegeben sei.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat der Senat von der Pflegefachkraft ... ein Gutachten vom 17. Juli 1998 eingeholt. Die Verwaltungsakten der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand des Verfahrens gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten sowie der Ergebnisse der Beweisaufnahme wird auf die Prozeß- und Beiakten ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger ab 1. April 1995 Pflegegeld nach Pflegestufe III zu zahlen.
Nach § 14 Abs. 1 SGB XI sind pflegebedürftig iS dieses Buches Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen. Das Gesetz selbst, erläutert in § 14 Abs. 4 SGB XI, was unter gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens zu verstehen ist. Dazu gehören
im Bereich der Körperpflege (Nr. 1) das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung;
im Bereich der Ernährung (Nr. 2) das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme von Nahrung;
im Bereich der Mobilität (Nr. 3) das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung.
Neben den drei Bereichen der Körperpflege, Ernährung und Mobilität, die als Grundpflege bezeichnet werden, gehören zu den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen
im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (Nr. 4) das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.
Für die Gewährung von Leistungen, insbesondere auch des Pflegegeldes nach § 37 SGB XI sind pflegebedürftige Personen iS des § 14 SGB XI einer von drei Pflegestufen zuzuordnen. Nach § 15 SGB XI sind Pflegebedürftige der Stufe III (Schwerstpflegebedürftige) Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.
Während das Gesetz selbst in § 15 SGB XI zunächst für die Einordnung in eine der Pflegestufen lediglich auf Art und Häufigkeit des Hilfebedarfs abgestellt und die Bestimmung des zeitlichen Umfangs der benötigten Hilfe als weiteres Einordnungskriterium der Konkretisierung durch die Spitzenverbände überlassen hat (vgl. dazu § 15 Abs. 3 SGB XI a.F. und die Pflegebedürftigkeits-Richtlinien - PflRI - vom 07.11.1994 unter 4.), sind durch das Erste Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Erstes SGB XI-Änderungsgesetz - 1. SGB XI-ÄndG) vom 14. Juni 1996 (BGBl. I S. 31) mit Wirkung ab 25. Juni 1996 nunmehr auch Zeitparameter für die Zuordnung zu den unterschiedlichen Stufen der Pflegebedürftigkeit aufgestellt worden. Nach § 15 Abs. 3 SGB XI nF muß der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe III mindestens 5 Stunden betragen, wobei auf die Grundpflege mindestens 4 Stunden entfallen müssen (für den Zeitraum vom 01.04.1995 bis 24.06.1996 gilt entsprechendes; vgl. dazu BSG Urteil vom 19.02.1998 - Az.: B 3 P 2/97 R - Umdruck S. 4; Urteil vom 06.08.1998 - Az.: B 3 P 9/97 R - Umdruck S. 4).
Der Hilfebedarf des Klägers erfüllt seit dem 1. April 1995 diese Voraussetzungen. Die abweichenden Feststellungen des SG sind unzureichend, weil das Gericht den Sachverhalt nicht unter Ausschöpfung aller Beweismittel aufgeklärt, seine Entscheidung vielmehr allein auf Gutachten des MDKN gestützt hat. Zwar können von Sozialleistungsträgern eingeholte Gutachten auch im anschließenden sozialgerichtlichen Verfahren alleinige Entscheidungsgrundlage sein, sofern gegen sie keine durchgreifenden Bedenken von Beteiligten erhoben werden (Beschluß des erkennenden Senats vom 05.05.1997 - L 3 P 2/97 - Umdruck S. 6 vgl. auch BSG Urteil vom 19.02.1998 - Az.: B 3 P 11/97 R - Umdruck S. 13). Demgemäß steht die Einholung weiterer Gutachten vor dem Maßstab des § 103 SGG im pflichtmäßigen Ermessen des Gerichts. Unterbleibt sie, stellt dies allerdings dann einen Verfahrensmangel dar, wenn sich dem Gericht die Einholung weiterer Gutachten aufdrängen mußte (Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl. § 103 Anm. 11 m.w.N.).
Das ist etwa dann der Fall, wenn die der Entscheidung zugrunde gelegten Erkenntnisquellen in sich widersprüchlich sind, wenn sich aus ihnen selbst Zweifel an der Sachkunde oder Unabhängigkeit eines bereits tätig gewordenen Gutachters ergeben oder wenn es sich um besonders schwierige Fachfragen handelt, die ein spezielles, bei den bisherigen Gutachtern nicht vorausgesetztes Fachwissen erfordern (BVerwG Beschluß vom 14.09.1993 - Az.: 9 B 519/93 -; Beschluß vom 07.09.1993 - Az.: 9 B 509/93 -; BFH/NV 1991, 204; Meyer-Ladewig a.a.O.). Im vorliegenden Fall hätte sich dem SG aufdrängen müssen, daß zur Feststellung des Umfangs der Pflegebedürftigkeit des Klägers im Verwaltungsverfahren nur Mediziner, nicht dagegen Pflegefachkräfte gehört worden waren. Dies entspricht nicht den Anforderungen des SGB XI an die Feststellung von Pflegebedürftigkeit. Nach § 18 Abs. 1 SGB XI haben die Pflegekassen durch den MDK prüfen zu lassen, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt sind und welche Stufe der Pflegebedürftigkeit vorliegt. Wie diese Feststellungen im Verwaltungsverfahren im einzelnen zu erfolgen haben, ist in § 18 SGB XI nicht geregelt. Dessen Abs. 6 schreibt nur vor, daß die Aufgaben des MDK durch Ärzte in enger Zusammenarbeit mit Pflegefachkräften und anderen geeigneten Fachkräften wahrgenommen werden. Allerdings enthalten dazu die Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuchs, die am 1. Juni 1997 in Kraft getreten sind, weitergehende Konkretisierungen unter C 2. (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung).
Danach sollen auf der Grundlage der vorhandenen oder ggfs vervollständigten Informationen und des zu erwartenden Schwerpunktes der Begutachtung Arzt und Pflegefachkraft des MDK gemeinsam im Einzelfall festlegen, welcher Gutachter (Arzt und/oder Pflegefachkraft, spezielles Fachgebiet) den Besuch durchführt. Zur ganzheitlichen Beurteilung der Pflegesituation, insbesondere auch der Beurteilung von Behinderten und psychisch Kranken und deren Hilfebedarf, kann die Beurteilung anderer Fachkräfte erforderlich sein (C 2.2.1). Der Arzt ist dann mit dem Besuch zu beauftragen, wenn keine oder nur ungenügende Informationen über rein ärztliche Sachverhalte (z.B. Vorerkrankungen, aktuelle Diagnosen) vorliegen. Ansonsten kann den Besuch sowohl eine Pflegefachkraft als auch ein Arzt durchführen. Ein gemeinsamer Besuch von Arzt und Pflegefachkraft kann sinnvoll sein, wenn mit einer besonders schwierigen Begutachtungssituation zu rechnen ist (C 2.2.1). Die an der Begutachtung beteiligten Ärzte und Pflegefachkräfte werten gemeinsam die bei dem Hausbesuch erhobenen Befunde und sonstigen Informationen aus (C 2.6). Auch bei der Ergebnisdiskussion arbeiten Arzt und Pflegefachkraft des MDK eng zusammen. Dabei ist es Aufgabe des Arztes, alle für die Beurteilung erforderlichen medizinischen Feststellungen zu treffen, Aufgabe der Pflegefachkraft, alle für die Beurteilung der Pflege erforderlichen Feststellungen zu treffen (C 2.7).
Auch wenn die Begutachtungs-Richtlinien nicht ausdrücklich vorschreiben, daß in jedem Einzelfall sowohl ein Arzt als auch eine Pflegefachkraft die Begutachtung vorzunehmen haben, folgt dies doch aus dem Zusammenhang der einzelnen Regelungen. Die Richtlinien gehen unter C 2. ersichtlich von folgenden Grundannahmen aus:
- 1.
Mediziner und Pflegefachkräfte weisen unterschiedliche Fachkompetenzen auf, die bei der Begutachtung, also u.a. bei der Feststellung von Pflegebedürftigkeit, je eigenverantwortlich wahrgenommen werden müssen.
- 2.
Die Richtlinien anerkennen Situationen, in denen die Fachkompetenz einer Pflegefachkraft nicht durch medizinische Kompetenz ersetzt werden kann und umgekehrt Situationen, in denen medizinische Kompetenz nicht durch pflegefachliche Kompetenz ersetzt werden kann.
- 3.
Nur auf der Grundlage einer gemeinsamen Entscheidung sowohl der medizinischen als auch der pflegefachlichen Kompetenz wird entschieden, wer den Hausbesuch macht, der Mediziner oder die Pflegefachkraft.
- 4.
Die Richtlinien schreiben folgerichtig sowohl bezüglich der Auswertung der bei dem Hausbesuch erhobenen Befunde und der sonstigen Informationen als auch bei der Ergebnisdiskussion eine gemeinsame Beurteilung bzw enge Zusammenarbeit bei der Feststellung vor. Dabei wird nicht der einen Profession Vorrang vor der anderen eingeräumt, vielmehr wird eine je eigenständige Beurteilungs- bzw Feststellungskompetenz anerkannt. Die fachspezifische Beurteilungskompetenz wird noch dadurch unterstrichen, daß zur ganzheitlichen Beurteilung des Versicherten der Einsatz spezieller Fachkompetenz gefordert wird und zwar sowohl bezüglich der medizinischen als auch der pflegefachlichen Kompetenz.
Ob den Begutachtungs-Richtlinien (zu ihrer Rechtsnatur vgl BSG Urteil vom 19.02.1998 - Az.: B 3 P 2/97 R - Umdruck S. 7) im vorliegenden Zusammenhang in allen Punkten zu folgen ist, kann dahingestellt bleiben. Nach der Auffassung des Senats verdienen sie Zustimmung jedenfalls insofern, als sie von einer unterschiedlichen Fachkompetenz der pflegefachlichen und der medizinischen Profession ausgehen. Dies entspricht der Einschätzung des Gesetzgebers in § 18 Abs. 6 SGB XI (vgl. dazu Udsching, Die Bedeutung des ärztlich-pflegerischen Gutachtens in der Pflegeversicherung, in: Pflegebegutachtung - besser als ihr Ruf?, 1998, S. 19 ff, 20). Auch wenn die in dieser Vorschrift in Ergänzung zu den §§ 20, 21 SGB X aufgestellten Grundsätze zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nicht ohne weiteres auf das sozialgerichtliche Verfahren übertragen werden können, weil dieses insoweit mit den §§ 103, 106 SGG eigene Regelungen enthält, hält der Senat es jedenfalls dann für verfahrensrechtlich geboten, im sozialgerichtlichen Verfahren auch ein pflegefachliches Gutachten zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit einzuholen, wenn ein entsprechendes Gutachten im Verwaltungsverfahren entgegen der Regelung des § 18 Abs. 6 SGB XI nicht eingeholt wurde und wenn aufgrund von Besonderheiten der Sachverhaltsgestaltung die Einholung eines solchen Gutachtens unverzichtbar erscheint. Das ist u.a. dann der Fall, wenn Erschwernisfaktoren iS des Anhangs 1 der Begutachtungs-Richtlinien gegeben sind, deren Beurteilung in die besondere Kompetenz der pflegefachlichen Profession fällt (vgl. dazu Ulmer, Die Aufgabenstellung zwischen Medizin und Pflege in der Begutachtung nach dem SGB XI, in: Pflegebegutachtung a.a.O.S. 142 ff).
So aber liegen die Dinge hier. Die vom Senat gehörte Pflegefachkraft Krebst hat in ihrem sehr ausführlichen und differenzierten Gutachten eine eingehende Würdigung der Pflegebedürftigkeit des Klägers vorgenommen. Dabei hat sie sich insbesondere auch kritisch mit den Gutachten des MDKN auseinandergesetzt. Zutreffend hat sie darauf hingewiesen, daß in dem Gutachtens des MDKN vom 6. Februar 1995 jegliche Beschreibung in bezug auf die Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL's) fehlten und selbst unter Berücksichtigung der Einschränkungen, die bezüglich der ATL's zum Teil vermerkt würden, eine entsprechende Bewertung des Pflegebedarfs nicht erfolgt sei. Entsprechend sorgfältig erscheint demgegenüber die Feststellung pflegerelevanter Funktionen durch die Sachverständige ..., wie sie sich insbesondere auf S. 5 bis 8 ihres Gutachtens erläutert finden. Aus dieser Darstellung der pflegerelevanten Befunde wird deutlich, daß der Hilfebedarf des Klägers durch eine Kombination sehr unterschiedlicher Defizite verursacht wird und daß insbesondere allgemeine Erschwernisfaktoren wie die Berücksichtigung einer Hemiparese links mit auftretender Spastik, eine aktivierende Pflege, um vorhandene Ressoursen zu erhalten, ein wechselnder Antrieb je nach Stimmungslage, in die Beurteilung des Umfangs des Pflegebedarfs einfließen müssen. Unter Berücksichtigung der Einschränkungen in bezug auf die Aktivitäten des täglichen Lebens hat die Sachverständige Krebst nachvollziehbar folgenden Hilfebedarf ermittelt:
a)
b)
c)
d)
Ergänzend hat die Sachverständige einen nächtlichen Hilfebedarf des Klägers bejaht. Er benötige beim nächtlichen Wasserlassen (zwischen 22.00 Uhr und 06.00 Uhr) ca dreimal pro Nacht Hilfe beim Urinieren und der Intimhygiene sowie beim Entleeren der Urinflasche und dem Zudecken, des weiteren zwei- bis viermal nachts durch Lagerung in antispastischem Muster. Unter Zugrundelegung der in den Begutachtungs-Richtlinien aufgestellten Zeitkorridore für die Verrichtungen des täglichen Lebens sowie der von der Sachverständigen einleuchtend hervorgehobenen pflegeerschwerenden Faktoren hält der Senat die Beurteilung des Gutachtens vom 17. Juli 1998 für zutreffend. Mit einem Gesamt-Pflegebedarf - auch nachts - im Bereich der Grundpflege von über 240 Minuten und einem solchen im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung von 113 Minuten erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für die Annahme der Pflegestufe III. Mithin mußte seine Berufung Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Es hat kein Anlaß bestanden, die Revision zuzulassen.