Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 11.05.1995, Az.: Ws 89/95
Entscheidung über die Bestellung eines Pflichtverteidigers; Fall einer notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO); Grundsätzliche Bestellung des Verteidigers, welcher vom Angeklagten bezeichnet wird
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 11.05.1995
- Aktenzeichen
- Ws 89/95
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1995, 17684
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:1995:0511.WS89.95.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG ... - 18.04.1995 - AZ: 34 Ns 800 Js 4286/94
- StA ... - AZ: 800 Js 286/94
- GenStA ... - AZ: 2 AR (Ws) 40/95
Rechtsgrundlagen
- § 305 StPO
- § 140 Abs. 2 StPO
- § 142 Abs. 1 S. 3 StPO
Fundstelle
- StV 1996, 6-7
Verfahrensgegenstand
Falsche Verdächtigung pp.
Prozessgegner
Kfz-Schlosser ... geboren am 23. August 1956 in ... wohnhaft ... verheiratet, Pole,
In der Strafsache
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts ...
am 11. Mai 1995
beschlossen:
Tenor:
Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluß des Vorsitzenden der 4. Strafkammer des Landgerichts ... vom 18. April 1995 aufgehoben.
Auf den Antrag des Angeklagten vom 23. März 1995 wird ihm der Rechtsanwalt ... aus ... als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Landeskasse zur Last, die auch die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen hat.
Gründe
Die Beschwerde ist zulässig; sie ist insbesondere nicht nach § 305 StPO unstatthaft. Die Entscheidung des Vorsitzenden über die Bestellung eines Pflichtverteidigers geht zwar der Urteilsfällung voraus, § 305 StPO bezieht sich aber nur auf Entscheidungen, die das erkennende Gericht in seiner Gesamtheit, nicht auf solche, die der Vorsitzende allein getroffen hat (vgl. Laufhütte in Karlsruher Kommentar, StPO, 3. Aufl., § 142 Rdnr. 11, § 141 Rdnr. 12 mit umfangreichen Nachweisen).
Die Beschwerde ist auch begründet. Wie bereits vom Landgericht im ersten Absatz des angefochtenen Beschlusses angedeutet, liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO vor. Bei einer Straferwartung von mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe besteht regelmäßig Anlaß zur Beiordnung eines Verteidigers "wegen der Schwere der Tat" i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO (vgl. Kleinknecht/Meyer - Goßner, StPO, 41. Aufl., § 140 Rdnr. 23 Laufhütte, a.a.O., § 140 Rdnr. 21; jeweils mit Rechtsprechungsnachweisen). Im vorliegenden Falle ist der Angeklagte in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten verurteilt worden. Wegen der Beschränkung der vom Angeklagten gegen diese Verurteilung eingelegten Berufung auf das Strafmaß spannt sich der Bogen der in zweiter Instanz möglichen Entscheidung zwar nicht mehr zwischen der vorgenannten Freiheitsstrafe und einem etwaigen Freispruch; es geht aber immer noch um eine nicht unbedeutende Herabsetzung der Freiheitsstrafe und vor allem um die Frage, ob die Vollstreckung der Strafe entgegen der Auffassung des Amtsgerichts zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Deshalb ist auch die Berufungsverhandlung für den Angeklagten noch von so großer Bedeutung, daß er - zumal als Ausländer - des Beistands eines erfahrenen Verteidigers bedarf.
Nach § 142 Abs. 1 S. 3 StPO ist grundsätzlich derjenige Verteidiger zu bestellen, der vom Angeklagten bezeichnet wird. Es bestehen keine konkreten Bedenken von Gewicht, die es angezeigt erscheinen lassen, ausnahmsweise von diesem Grundsatz abzugehen, d.h. den vom Angeklagten bevollmächtigten Rechtsanwalt ... nicht zu bestellen. Bei Rechtsanwalt ... kann eine Interessenkollision letztlich nicht festgestellt werden. Zwar hat er in einem früheren Strafverfahren den dortigen Angeklagten ... verteidigt, der vom Angeklagten ... zu Unrecht beschuldigt worden war und deshalb mehrere Monate zu Unrecht Untersuchungshaft erlitten hatte. Da die Berufung des Angeklagten jedoch auf das Strafmaß beschränkt ist, kann für den Verteidiger nicht die Situation eintreten, daß zum Tatvorwurf selbst Umstände festgestellt werden, die den jetzigen Mandanten entlasten und gleichzeitig den früheren Mandanten ... belasten und der Gefahr eines Wiederaufnahmeverfahrens nach § 362 Nr. 2 StPO aussetzen. Allerdings ist bei der gegebenen Konstellation aus psychologischen Gründen die Annahme nicht fernliegend, der Verteidiger könnte eine gewisse Animosität gegen den als Hauptbelastungszeugen gegen den früheren Mandanten aufgetretenen Angeklagten empfinden. Hätte der Angeklagte lediglich um Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebeten, ohne einen konkreten Rechtsanwalt zu bezeichnen, dann wäre es aus den vorgenannten Gründen ermessensfehlerhaft gewesen, Rechtsanwalt ... zu bestellen. Hier liegen die Dinge aber deshalb entscheidend anders, weil der Angeklagte ausdrücklich um die Beiordnung von Rechtsanwalt ... gebeten hat, nachdem er ihm zuvor bereits ein Mandat als Wahlverteidiger übertragen hatte, obwohl er wußte, daß Rechtsanwalt ... in dem früheren Verfahren den Angeklagten ... verteidigt und den jetzigen Angeklagten ... als Hauptbelastungszeugen bekämpft hatte. Wenn der Angeklagte in Kenntnis dieser Verhältnisse keinen Grund sieht, am engagierten Auftreten des Verteidigers für ihn zu zweifeln, so hat das Gericht erst recht keinen Anlaß zu solchen Zweifeln, da der Angeklagte wegen größerer Sachnähe die persönliche Beziehung zum benannten Verteidiger am besten einschätzen kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 467 StPO.