Verwaltungsgericht Göttingen
v. 22.08.2014, Az.: 2 A 888/13
Dublin-Verfahren; Ermessen; Aktualisierung; Familieneinheit; Kernfamilie; Trennung; Kindeswohl; Neugeborenes; Selbsteintritt; Pflicht zum Selbsteintritt
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 22.08.2014
- Aktenzeichen
- 2 A 888/13
- Entscheidungsform
- Gerichtsbescheid
- Referenz
- WKRS 2014, 42541
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 34a Abs 1 AsylVfG
- § 27a AsylVfG
- Art 15 Abs 2 EGV 343/2003
- Art 24 Abs 3 EUGrdRCh
- Art 6 GG
- § 114 S 2 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Im Dublin-II-Verfahren ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verpflichtet, bei der Geburt eines Kindes im Bundesgebiet die Mitglieder der Kernfamilie regelmäßig zusammenzuführen bzw. nicht getrennt in den zuständigen Mitgliedsstaat zu überstellen, weil das Neugeborene auf die Unterstützung beider Eltern angewiesen ist.
2. Begründen derartige familiäre Änderungen während des Aufenthalts im Bundesgebiet nicht schon eine Selbsteintrittsverpflichtung des Bundesamtes, so ist dieses jedenfalls zur Aktualisierung seiner Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren verpflichtet.
Tenor:
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. Oktober 2013 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent der aufgrund des Gerichtsbescheids vollstreckbaren Kosten abwenden, wenn der Kläger nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent der jeweils zu vollstreckenden Kosten leistet.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit eines im sog. Dublin-II-Verfahren ergangenen Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Der Kläger ist georgischer Staatsangehöriger. Er reiste eigenen Angaben zufolge am 18. Januar 2013 gemeinsam mit seinen Schwiegereltern, seiner Ehefrau und deren Geschwister in die Bundesrepublik ein und beantragte am 28. Januar 2013 beim BAMF seine Anerkennung als Asylberechtigter. Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt gab der Kläger u.a. an, über Polen in das Bundesgebiet eingereist zu sein und zuvor in Polen bereits einen Asylantrag gestellt zu haben, über den noch nicht entschieden worden sei. Nach entsprechendem Datenabgleich und Anzeige eines Treffers im System „Eurodac“ ersuchte das BAMF am 7. Oktober 2013 die zuständigen Stellen in Polen um die Wiederaufnahme des Klägers. Dem Wiederaufnahmegesuch gab das Office for Foreigners - Department for Refugee Procedures - der Republik Polen mit Schreiben vom 8. Oktober 2013 unter Hinweis auf seine Zuständigkeit gem. Art. 16 Abs. 1 d) der Dublin-II-Verordnung statt.
Der Kläger gab gegenüber dem BAMF weiter an, mit der Asylbewerberin E. F. seit September XX nach griechisch-orthodoxem Rhitus verheiratet zu sein. Er lebt aktuell mit ihr und ihrer Familie in G. in häuslicher Gemeinschaft. Gegenüber Frau F. und deren Familie (Eltern, 2 Geschwister) hatte das BAMF zunächst mit Bescheid vom 8. Januar 2014 - 5607222-430 - unter Hinweis auf die Zuständigkeit Polens die gestellten (weiteren) Asylanträge abgelehnt; diese Entscheidung revidierte das BAMF mit weiterem Bescheid vom 20. März 2014, der Gegenstand des zwischenzeitlich eingestellten Klageverfahrens 2 A 25/14 war, und erklärte unter Hinweis auf die Besonderheiten des Einzelfalls den Eintritt in das nationale Verfahren gem. Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III- Verordnung.
Aus der Beziehung mit Frau F. ging der am XX.XX.XX in G. geborene H. B. hervor, dessen nach § 14a AsylVfG gestellter Asylantrag das BAMF ebenfalls unter Hinweis auf die Zuständigkeit Polens mit bestandskräftigem Bescheid vom 14. Februar 2014 - 5724016-430 - ablehnte. Nach den Ermittlungen des Einzelrichters hatte der Kläger gegenüber dem Standesamt in G. im Februar XX die Vaterschaft für das Neugeborene anerkannt. Seither trägt es seinen Nachnamen.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 16. Oktober 2013 stellte das BAMF fest, dass der (weitere) Asylantrag des Klägers unzulässig sei und ordnete dessen Abschiebung nach Polen an. Zur Begründung verwies das Bundesamt auf §§ 27a, 34a Abs. 1 AsylVfG und das positive Wiederaufnahmegesuch, das aus der Zuständigkeit Polens gem. Art. 16 Abs. 1 d) der Dublin-II-Verordnung resultiere.
Hiergegen hat der Kläger am 24. Oktober 2013 die vorliegende Klage erhoben und zugleich um die Gewährung einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutzes nachgesucht. Der Einzelrichter hat daraufhin mit Beschluss vom 2. Januar 2014 - 2 B 889/13 - (veröffentlicht u.a. in juris) die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung des BAMF unter Hinweis auf die Wahrung des Grundsatzes der Familieneinheit angeordnet.
Der Kläger hält den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes u.a. wegen der drohenden Gefahr der Trennung von Ehefrau und Neugeborenem für rechtswidrig und beantragt,
den Bescheid des BAMF vom 16. Oktober 2013 aufzuheben.
Das Bundesamt verteidigt seine angefochtene Entscheidung und beantragt,
die Klage abzuweisen.
Mit Verfügung vom 3. Juli 2014 hat der Einzelrichter die Beteiligten zu der beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört und dem Bundesamt Gelegenheit gegeben, zur Wahrung des Grundsatzes der Familieneinheit Stellung zu nehmen. Das Bundesamt hat hierauf nicht reagiert.
Entscheidungsgründe
Der Einzelrichter konnte nach Übertragung des Rechtsstreits gem. § 76 Abs. 1 AsylVfG durch Beschluss der Kammer vom 8. August 2014 über die Klage gem. § 84 Abs. 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, denn die Sache weist keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf und der Sachverhalt ist geklärt. Die Beteiligten sind zu dieser Entscheidungsform angehört worden; Einwände wurden nicht vorgebracht.
Die zulässige Klage ist begründet, denn der angefochtene Bescheid des BAMF ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, §§ 84 Abs. 1 Satz 3, 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Gemäß § 27a AsylVfG in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I, S. 1798) ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Das BAMF ist zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des angefochtenen Bescheides zwar zutreffend von der Zuständigkeit Polens für den (ersten) Asylantrag des Klägers gem. Art. 16 Abs. 1 d) der vorliegend noch anzuwendenden Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und des Verfahrens zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. EU L 50 vom 25. Februar 2003, S. 1) - sog. Dublin-II-Verordnung -, geändert durch VO (EG) 1103/2008 vom 22. Oktober 2008 (ABl. EU L 304 vom 14. November 2008, S. 80), ausgegangen. Auf die insoweit zutreffenden Gründe des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes, denen der Einzelrichter folgt, wird wegen der Begründung verwiesen; § 77 Abs. 2 AsylVfG.
Maßgeblich für die vorliegende Entscheidung des Einzelrichters ist indes gem. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Gerichtsbescheides. Die Sachlage hat sich durch die Geburt des Sohnes des Klägers im XX XX und durch den Eintritt in das nationale Verfahren betreffend seine (religiös angetraute) Ehefrau und Mutter seines Sohnes zu Gunsten des Klägers wesentlich verändert. Hierauf hat das Bundesamt bis heute nicht reagiert.
Wie der Einzelrichter bereits in seinem das einstweilige Rechtsschutzverfahren des Klägers betreffenden Beschluss vom 2. Januar 2014 - 2 B 889/13 -, zit. nach juris Rn. 8, dargelegt hat, ist derzeit nur eine gemeinsame Überstellung des Klägers nach Polen zusammen mit dem Neugeborenen und seiner Mutter (ggf. zusammen mit deren Familie) zur Wahrung der Familieneinheit rechtlich zulässig. Eine Trennung der Kernfamilie ist mit dem Schutzgebot aus den Artt. 6 GG, 7 und 24 Abs. 3 EUGRCh keinesfalls zu vereinbaren. Zugunsten der Ehefrau des Klägers ist das BAMF zwischenzeitlich jedoch in das nationale Verfahren eingetreten; eine Entscheidung des Bundesamtes über den (weiteren) Asylantrag der Ehefrau ist dem Einzelrichter bisher nicht bekannt. Der Einzelrichter muss deshalb gegenwärtig davon ausgehen, dass der weitere Aufenthalt der Ehefrau im Bundesgebiet zur Durchführung ihres Asylverfahrens gestattet ist, vgl. § 55 AsylVfG.
Wie der Einzelrichter in seinem Beschluss vom 2. Januar 2014 (a.a.O.) weiter ausgeführt hat, ist der Grundsatz der Familieneinheit ein tragendes Prinzip der Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin-II-Verordnung, vgl. Art. 6 bis 8, 14 und 15 Abs. 1 und 2 EGV 343/2003, der ggf. eine Selbsteintrittspflicht der Antragsgegnerin zur Folge haben kann (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 4. Juli 2012 - 2 LB 163/10 -, InfAuslR 2012 S. 383 ff., zit. nach juris Rn. 42). Insbesondere aus Art. 15 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung ergibt sich die Pflicht des BAMF, u.a. bei der Geburt eines Kindes in der Regel jedenfalls die Mitglieder der Kernfamilie zusammenzuführen bzw. nicht zu trennen, weil das Neugeborene auf die Unterstützung seiner Eltern angewiesen ist (vgl. zur Auslegung des Begriffs „Angewiesen sein“: Filzwieser/Sprung in: Dublin-II-Verordnung, Kommentar, 3. Auflage, K 16 zu Art. 15 unter Hinweis auf Art. 11 Abs. 1 VO (EG) 1560/2003). Der 2. Senat des Nds. OVG hat hierzu (a.a.O.) u.a. ausgeführt, während des gerichtlichen Verfahrens eingetretene familiäre Veränderungen begründeten im Regelfall gar eine Selbsteintrittsverpflichtung des Bundesamtes, da das ihm im Rahmen des Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-Verordnung zustehende Ermessen durch Art. 15 Abs. 2 Dublin-II- Verordnung vor dem Hintergrund des Art. 8 EMRK auf Null reduziert sei.
Ob vorliegend bereits von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen ist, was nach der zitierten Rechtsprechung des 2. Senates des Nds. OVG auf der Hand liegt, oder aber dem Bundesamt noch ein Ermessensspielraum verbleibt, der auch eine andere Entscheidung als den Eintritt in das nationale Verfahren zugunsten des Klägers angesichts des Grundsatzes der Wahrung der Familieneinheit zu rechtfertigen vermag, kann im Ergebnis dahinstehen. Das Bundesamt hat trotz des richterlichen Hinweises vom 3. Juli 2014 bis heute keinerlei Erwägungen zur nachträglichen Änderung der familiären Verhältnisse des Klägers im Hinblick auf den Grundsatz der Wahrung der Familieneinheit angestellt, die ggf. entsprechend § 114 Satz 2 VwGO hätten in das gerichtliche Verfahren eingeführt werden können (vgl. zur Nachholung von Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren bei materieller Verpflichtung zur Aktualisierung BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2011 - 1 C 14/10 -, BVerwGE 141, 253 ff., zit. nach juris Rn. 11). Deshalb rechtfertigt bereits der Ausfall jeglicher Ermessensbetätigung die Aufhebung des angefochtenen Bescheides.
Dieser Befund gilt zugleich für die in der Hauptsache ebenfalls angefochtene Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG in der hier anzuwendenden Fassung des Art. 1 Nr. 27 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) vom 28. August 2013 (BGBl. I, S. 3474). Die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 AsylVfG liegen aus den vorstehenden Gründen nicht vor, da die isolierte Abschiebung des Klägers nach Polen aus rechtlichen Gründen derzeit unmöglich ist. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung nimmt der Einzelrichter insoweit Bezug auf die Ausführungen in seinem Beschluss vom 2. Januar 2014 (a.a.O., Rn. 4 ff.). Das Bundesamt hat sich hierzu im Laufe des Klageverfahrens nicht verhalten, sodass weitere Ausführungen derzeit nicht angezeigt sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11 Var. 2, 711 ZPO.