Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 04.09.2007, Az.: 2 A 126/06
Eingliederungshilfe; Fahrtkosten; Internat; Legasthenie; Schulbildung; Schulgeld
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 04.09.2007
- Aktenzeichen
- 2 A 126/06
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2007, 71740
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- Art 6 Abs 2 S 1 GG
- § 36 SGB 8
- § 35a SGB 8
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darum, ob die Beklagte als örtlich zuständige Trägerin der Jugendhilfe für die Beschulung der Klägerin in der I. -Schule in J., einem staatlich anerkannten privaten Gymnasium der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, im Schuljahr 2005/2006 im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII das Schulgeld und die Fahrtkosten zur Schule zu tragen hat.
Die Klägerin wurde am … geboren. Sie leidet an Legasthenie. Seit 2001 erhielt sie - ohne größeren Erfolg - Legasthenietherapie (ca. 150 Std. Gruppentherapie in E.). Ihre Schullaufbahnempfehlung nach Abschluss der 6. Klasse an der K. -Schule (damals noch Orientierungsstufe) wies die Hauptschule als geeignete Schulform aus. Ihre Eltern lebten im Jahr 2005 bereits in Scheidung, die Klägerin wohnte bei ihrem Vater. Seit dem Schuljahr 2004/2005 besucht sie die I. -Schule.
Bereits mit Antrag vom 12.12.2003 hatten sich ihre Eltern an das Jugendamt der Beklagten mit einem (ersten) Antrag auf Gewährung von Jugendhilfe für die Internatsunterbringung der Klägerin in J. gewandt. Sie trugen damals vor, dass das der I. -Schule angegliederte Internat für die Betreuung von Legasthenikern besonders geeignet sei. Die vom Jugendamt eingeschaltete „Gemeinsame Fachstelle Diagnostik der Städte E. und L. und der Landkreise M., N. und E.“ <im Folgenden: Fachstelle>, die dem Verein Jugendhilfe Süd-Niedersachsen e.V., einem freien Träger der Jugendhilfe, angehört, befürwortete zunächst in einer gutachterlichen Stellungnahme vom 10.05.2004 die Internatsunterbringung der Klägerin als geeignete Maßnahme. Nachdem im Hilfeplanverfahren zwar das Vorliegen der Voraussetzungen einer Hilfegewährung nach § 35a SGB VIII angenommen, jedoch eine Tagesgruppenbetreuung als die geeignete Hilfemaßnahme erachtet hatte, wies das Jugendamt der Beklagten die Fachstelle darauf hin und führte weiter aus, Ermittlungen hätten ergeben, dass „im Internat nur eine Gymnasialbeschulung möglich“, aber fraglich sei, ob bei der Klägerin die entsprechenden Leistungsvoraussetzungen vorlägen. Daraufhin änderte die Fachstelle ihre Auffassung und führte gegenüber dem Jugendamt der Beklagten aus, weder die allg. Lern- und Leistungsvoraussetzungen noch die Schulleistungen der Klägerin entsprächen den Anforderungen an eine gymnasiale Beschulung. Eine Tagesgruppenbetreuung mit Familientherapie sei eine geeignete Hilfeform. Mit (bestandkräftigem) Bescheid vom 05.07.2004 lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag auf Übernahme der Kosten der Internatsbeschulung ab, bewilligte aber mit Bescheid vom 27.07.2004 nunmehr 50 Std. ambulante Legasthenietherapie, die laut Antrag an der I. -Schule in J. durchgeführt werden sollten. Seit dem 23.08.2004 wird die bewilligte Legasthenietherapie, die noch nicht abgeschlossen ist, von der Zeugin O. durchgeführt.
Mit am 11.08.2005 bei der Beklagten eingegangenem Schreiben vom 05.08.2005 beantragte die Klägerin im Rahmen der Eingliederungshilfe erneut, die Kosten der Internatsbeschulung in der I. -Schule - nunmehr für das Schuljahr 2005/2006 - zu übernehmen. Die Klägerin nahm als Externe am gymnasialen Unterricht teil. Die Klägerin wurde schultäglich von ihrer Mutter mit deren PKW nach J. gefahren, an Schulgeld hatte sie der sie die Mutter schultäglich mit eigenem PKW hingefahren hat.
Die Beklagte wies die Klägerin darauf hin, dass sie wegen des Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen nach § 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII erneut begutachtet werden müsse und schlug drei Gutachter dafür ihr vor. Indessen bestand die Klägerin darauf, den Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie P. aus E., der bereits unter dem 13.04.2004 eine fachärztliche Stellungnahme abgegeben hatte, als Gutachter zu hören. Dem stimmte die Beklagte im Hinblick auf die Einbindung von Herrn P. in die Legasthenietherapie der Klägerin nicht zu und benannte der Klägerin drei Gutachterinnen zur Auswahl. Ferner holte die Beklagte bei der behandelnden Therapeutin O. einen Zwischenbericht ein, in dem diese ausführte, dass nach 31 Therapiestunden immer noch Behandlungsbedarf bestehe und eine Unterbringung der Klägerin im Internat befürwortet wurde. Gespräche mit der Mutter, die in der Bibliothek der I. -Schule arbeite, würden geführt. Im Übrigen übernehme der Facharzt P. einen großen Teil der Elternarbeit. Die Klägerin wählte indessen keine der vorgeschlagenen Gutachterinnen und ebenso nicht das weiterhin als Gutachtenstelle vorgeschlagene Sozialpädiatrische Zentrum E. aus und bestand auf einer Begutachtung durch Herrn P..
Am 01.03.2006 hat die Klägerin Untätigkeitsklage erhoben. Die Beklagte erklärte sich sodann mit Schreiben vom 04.04.2006 bereit, die Prüfung der Voraussetzungen von § 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII (Teilhabegefährdung) vorzuziehen. Insoweit sollten am 18.04.2006 Gespräche mit der Klägerin und deren Eltern geführt werden, was indessen nur mit dem Vater der Klägerin erfolgte.
Mit Bescheid vom 03.05.2006 lehnte die Beklagte den Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Internatsunterbringung abgelehnt. Der Bescheid wurde im Wesentlichen wie folgt begründet: Ob der Klägerin eine seelische Behinderung drohe, könne dahingestellt bleiben, da keine Teilhabegefährdung drohe. Entsprechende Feststellungen hätten nicht getroffen werden können, da eine sachgerechte Erörterung dieser Problematik mit der Mutter der Klägerin nicht habe erfolgen können und auch die Klägerin selbst nicht gesprochen worden sei. Der Vater der Klägerin halte eine Internatsbeschulung für wünschenswert, aber nicht für erforderlich. Anhaltspunkte für die Annahme einer Teilhabegefährdung und für eine stationäre Unterbringung der Klägerin lägen somit nicht vor. Auch erfülle die Klägerin nicht die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen für den Besuch eines Gymnasiums (IQ 102 = Realschulniveau), eine Gymnasialbeschulung widerspräche der Schullaufbahnempfehlung. Die Klägerin wäre auf einem Gymnasium überfordert, eine Bewilligung der Leistung wäre deshalb contraindiziert.
Mit Schriftsatz vom 06.06.2006 hat die Klägerin ihre Klage auf eine Verpflichtungsklage umgestellt. In einer Stellungnahme des Schulleiters der I. -Schule in J. vom 14.07.2005 wird darauf hingewiesen, dass die Integration der Klägerin in die Klassengemeinschaft aufgrund mangelnden Selbstbewusstsein nach wie vor schwer falle. die Klägerin brauche nach wie vor kontinuierliche Ansprache und eine sehr persönliche Betreuung. Sie habe mit viel Fleiß die Versetzung in die 8. Klasse geschafft, es scheine wahrscheinlich zu sein, dass die Fortsetzung der gymnasialen Schullaufbahnempfehlung gewährleistet werden könne. Aufgrund der Fortsetzung der Legasthenietherapie, einer gezielten Hausaufgabenbetreuung sowie eines kontinuierlichen Förderunterrichts sei eine Eingliederung der Klägerin in das Internat zu empfehlen, wofür auch sozialtherapeutische Gründe sprächen.
Die Klägerin beantragt (nunmehr),
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 03.05.2006 zu verpflichten, der Klägerin Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten der Beschulung in der I. -Schule in J. im Schuljahr 2005/2006 (Fahrtkosten mit dem PKW schultäglich sowie Schulgeld) zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise im Falle des Unterliegens die Berufung zuzulassen.
Sie bezweifelt die Zulässigkeit der Klage im Hinblick auf den nunmehr geltend gemachten Anspruch auf Fahrtkosten und Schulgeld. In der Sache verteidigt sie den angefochtenen Bescheid und meint, die der Klägerin angebotene Tagesgruppenbetreuung mit Einbindung des sozialen Umfeldes wäre das Mittel der Wahl gewesen. Die Mutter der Klägerin hätte sich dem nicht verschließen dürfen. Das erkennende Gericht hätte dies bereits im Urteil vom 13.11.2002 - 2 A 2130/01 - dargelegt.
Das Gericht in der mündlichen Verhandlung am 04.09.2007 Beweis erhoben über die Rechtschreibfertigkeiten der Klägerin durch Vernehmung der sie behandelnden Legasthenietherapeutin O. als Zeugin. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze und auf die Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen. Die Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
Ihrer Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass es sich - wie die Beklagte meint - bei dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag um eine (unzulässige) Klageänderung handeln würde. Mit Erhebung der Untätigkeitsklage wurde zunächst die Verpflichtung zur Übernahme von „Internatskosten“ angekündigt. Diese fielen im Schuljahr 2005/2006 allerdings nicht an, da die Klägerin damals noch extern beschult wurde. Nach Erlass des Bescheides vom 03.05.2006, der nunmehr Streitgegenstand des Verfahrens ist, hatte die Klägerin schriftsätzlich am 06.06.2006 ihre Untätigkeitsklage auf eine Verpflichtungsklage umgestellt und zunächst beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides zu verpflichten, der Klägerin Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten der Internatsbeschulung in der I. -Schule J. im Schuljahr 2005/2006 zu gewähren. Dieser Antrag war unpräzise und bedurfte der Auslegung, da die Klägerin in der I. -Schule, und nicht in dem angegliederten (rechtlich selbstständigen) Internat beschult wurde. Der in der mündlichen Verhandlung gestellte Antrag präzisierte auf Anregung des Einzelrichters das Begehren der Klägerin, indem die ihr im Schuljahr 2005/2006 entstandenen Kosten als Fahrtkosten und Schulgeld spezifiziert wurden. Soweit die Beklagte meint, es ginge im vorliegenden Rechtsstreit letztlich nur um die Übernahme privater Schulbeförderungskosten, verkennt sie den Streitgegenstand. Die geltend gemachten Kosten sind nämlich im Zusammenhang mit der Behandlung der Legastheniebehandlung der Klägerin, aufgrund derer überhaupt Jugendhilfeleistungen zu gewähren sind, angefallen und damit Bestandteil der zu gewährenden Eingliederungshilfeleistungen geworden.
Die Klage ist auch begründet.
Anspruchsgrundlage für die von der Klägerin begehrte Jugendhilfeleistung ist § 35 a SGB VIII in der am 03.05.2006 geltenden Fassung . Danach haben Kinder und Jugendliche, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Anspruch auf Eingliederungshilfe.
Dass die Klägerin im Hinblick auf die Behandlung ihrer Legasthenie grundsätzlich anspruchsberechtigt ist, steht für das Gericht fest und wird von der Beklagten nicht substantiiert bezweifelt.
Denn die Beklagte hat der Klägerin etwa 1 Jahr vor der hier streitigen Antragstellung, aber nach Ablehnung des ersten Antrages auf „Internatsbeschulung“ durch Bescheid vom 05.07.2004 noch 50 Stunden Legasthenietherapie bewilligt, ohne die Anspruchsvoraussetzungen in Zweifel zu ziehen. Diese Bewilligung setzt denknotwendigerweise voraus, dass die Beklagte (noch im Schuljahr 2004/2005) das Vorliegen der Voraussetzungen des § 35 a SGB VIII angenommen hat, da ansonsten die Bewilligung rechtswidrig erfolgt wäre, wofür nichts spricht. Warum sich die Situation in dem knappen Jahr bis zum hier streitbefangenen Antrag geändert haben sollte, zumal die Therapie erst zur Hälfte etwa durchgeführt worden war, ist nicht ersichtlich. Abgesehen davon ist das Gericht aufgrund der Aussage der Zeugin O. in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass die Klägerin im Schuljahr 2005/2006 anspruchsberechtigt nach § 35a SGB VIII war. Die Zeugin hat nachvollziehbar ausgesagt, dass die Klägerin nach wie vor und andauernd unter Legasthenie litt und im streitigen Schuljahr unaufmerksam, demotiviert und total zurückgezogen war. All diese Verhaltensweisen lassen für das Gericht nur den Schluss zu, dass die Klägerin teilhabegefährdet im Sinne von § 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII war.
Dass die Voraussetzungen von § 35a SGB VIII bei der Klägerin nicht vorgelegen haben sollen, wird (anders als noch im streitbefangenen Bescheid) im Gerichtsverfahren von der Beklagten auch nicht mehr vorgetragen. Folgerichtig ist wesentlicher Streitpunkt zwischen den Beteiligten, ob die Beschulung der Klägerin an der I. -Schule in J. notwendiger Bestandteil der Jugendhilfemaßnahme „Legasthenietherapie“ war oder ob - wie die Beklagte meint - eine Tagesgruppenbetreuung in E. ausgereicht hätte.
Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Beschulung der Klägerin in J. notwendig war, um den Hilfebedarf vollständig zu decken.
Die Hilfeleistung nach § 35a SGB VIII wird nach dem Bedarf im Einzelfall
1. in ambulanter Form,
2. in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen,
3. durch geeignete Pflegepersonen und
4. in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet.
Aufgabe und Ziel der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art der Maßnahmen richten sich nach §§ 53 Abs. 3 und 4 Satz 1, den §§ 54, 56 und 57 SGB XII.
Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern; hierzu gehört vor allem, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. In § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII ist ausdrücklich die Hilfe zum Besuch weiterführender Schulen erwähnt, wobei die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht unberührt bleibt. Insoweit kommt auch die Beschulung in einem Gymnasium, das für die Gewährung von Eingliederungshilfe besonders geeignet ist, in Betracht, wenn sie geeignet und erforderlich ist, die dem Betroffenen drohende Behinderung zu verhüten oder eine bereits eingetretene Behinderung zu beseitigen oder zu mildern (vgl. Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Aufl., Rn. 21 zu § 54) .
Hinsichtlich des Verfahrens bestimmt § 36 Abs. 2 SGB VIII, die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfe soll, wenn Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte (gemäß Abs. 3 S. 1 der Vorschrift in Fällen der Eingliederungshilfe unter Beteiligung der Person, die die Stellungnahme nach § 35a Abs. 1a erbracht hat) getroffen werden; zusammen mit dem Personensorgeberechtigten und dem Kind oder Jugendlichen soll ein Hilfeplan aufgestellt werden, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen erhält.
Aus der soeben genannten Bestimmung ergibt sich, dass Jugendhilfe - anders als die meistens anderen Sozialleistungen - nicht in erster Linie eine Geldleistung darstellt, sondern eine umfassende sächliche und persönliche Hilfe, die u.U. Geldleistungen zum Unterhalt des Kindes oder des Jugendlichen auslöst.
Anders gewendet: Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist nicht bloß Zahlstelle, sondern kompetente Schaltstelle, die - unter Beteiligung der oben genannten Personen - selbst bestimmt, ob Hilfe erforderlich und in welcher Form sie zu erbringen ist. Das bedeutet für den vorliegenden Fall nicht, dass die Klage schon deshalb erfolglos bleiben muss, weil die Eltern der Klägerin sie bereits vor einer Entscheidung der Beklagten in der I. -Schule in J. untergebracht haben; denn die Entscheidung kann - ggf. unter Erstellung eines Hilfeplans - ohne weiteres nachgeholt werden (vgl. Urteil der Kammer vom 13.11.2002 - 2 A 2130/01). Andererseits darf die Klage nicht schon deshalb Erfolg haben, weil der Klägerin die Unterbringung im I. -Gymnasium „gut getan“ hat und sie jetzt etwa nicht mehr von einer seelischen Behinderung bedroht ist. Vielmehr ist eine Prognose dargestellt anzustellen, ob unter den im Mai 2006 bekannten Umständen die von den Eltern der Klägerin gewählte Beschulung in J. in dem oben beschriebenen Sinn geeignet und erforderlich war oder ob nicht - wie die Beklagte meint - eine ambulante Maßnahme in Form einer Tagesgruppenbetreuung ausgereicht hätte.
Das Gericht hat keine Zweifel daran, dass die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten der Klägerin und ihre bis Mai 2006 gezeigten schulischen Leistungen damals die Prognose rechtfertigten, die Klägerin werde das Gymnasium erfolgreich besuchen können. Auch wenn die von der Orientierungsstufe ausgesprochene Hauptschulempfehlung dem entgegenstand, erreichte die Klägerin im folgenden Schuljahr das Klassenziel. Diese Erkenntnis wird vom Schulleiter Q. in dessen Stellungnahme vom 14.07.2005 im Nachhinein bestätigt. Für die Annahme der Beklagten, die Klägerin sei am Gymnasium überfordert, streitet indessen wenig. Allein insoweit auf die mäßig erfolgreichen Zeugnisnoten abzustellen, ist - gerade dann, wenn das Klassenziel erreicht wird - nicht nur unzulässig, sondern auch eine verkürzte Sichtweise. Die Beklagte hätte - um ihren Standpunkt aufrecht erhalten zu dürfen - sich auf einen einzuholenden (und negativ ausfallenden) Schulbericht stützen müssen. Unabhängig davon gilt hinsichtlich der Beschulung aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) in erster Linie der Elternwille. Da die Eltern der Klägerin sich für eine Gymnasialbeschulung ihrer Tochter entschieden hatten, hat die Beklagte diese Entscheidung solange zu respektieren, wie ihr nicht zwingendes Schulrecht (Wiederholung einer Klasse in den ersten zwei Jahren nach Schulwechsel) entgegensteht. Dürfte die Beklagte bei der Gewährung einer Jugendhilfeleistung diese von einer Prognose aufgrund der Schullaufbahnempfehlungen abhängig machen, führte dies zu einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung gegenüber Kindern, die nicht auf staatliche Jugendhilfeleistungen angewiesen sind. Wenn § 12 Nr. 3 der Eingliederungshilfeverordnung vorsieht, dass „Hilfe zum Besuch ... eines Gymnasiums ... nur gewährt (wird), wenn nach den Fähigkeiten und den Leistungen des behinderten Menschen zu erwarten ist, dass er das Bildungsziel erreichen wird“, so ist diese Bestimmung verfassungskonform so auszulegen, dass der Elternwille durch die Entscheidung des Jugendhilfeträgers nicht unterlaufen wird.
Das Gericht hält nach dem Akteninhalt und dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung und der Beweisaufnahme die Beschulung der Klägerin im Schuljahr 2005/2006 in der I. -Schule in J. für erforderlich.
Die Gewährung öffentlicher Jugendhilfe ist - wie weiter oben bereits ausgeführt wurde - insoweit an die Voraussetzung gebunden, dass die Maßnahme das Ziel hat, eine drohende seelische Behinderung zu verhüten. Eine der Klägerin drohende seelische Behinderung konnte durch die Beschulung an der I. -Schule in J. vermieden werden. Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass die bei der Klägerin diagnostizierte Lese-Rechtschreibschwäche die dortige Beschulung notwendig gemacht hat. Diese Erkenntnis beruht zum einen auf der Auswertung der gutachterlichen Stellungnahme der Fachstelle vom 10.05.2004, die die Beklagte für den vorangegangenen Bewilligungszeitraum eingeholt hatte. Dort ist ausführlich, nachvollziehbar und sorgfältig dargelegt worden, dass die Klägerin an einer scherwiegenden Lese-Rechtschreibschwäche litt, eine Gesundheitsabweichung von mehr als sechs Monaten gegeben war und auch die Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gesellschaft ernsthaft gefährdet war. Die Fachstelle hat eine Trennung vom häuslichen Umfeld, gerade auch eine Trennung von der Schwester R. für wesentlich gehalten und sogar eine stationäre Unterbringung der Klägerin im der I. -Schule angegliederten Internat für erforderlich erachtet. Die Richtigkeit dieser Erkenntnisse werden eindrucksvoll von der Zeugin O. in der Beweisaufnahme bestätigt, die zum einen nachvollziehbar dargestellt hat, dass selbst nach Veränderung des Betreuungskonzeptes für Legastheniker an der I. -Schule dort Jugendliche, die an dieser Teilleistungsschwäche leiden, weitest möglich betreut und gefördert werden. Auch hat die Zeugin die schlechte seelische Verfassung der Klägerin bei Aufnahme in die Schule und die Veränderungen zum Besseren aufgrund des neuen Umfeldes und der dortigen LRS-Therapie deutlich aufgezeigt. Die Fortschritte in der Behandlung der Klägerin und ihrer seelischen Reifung wären - dies ist allerdings eine für die Entscheidung unbeachtliche Prognose - sicher noch größer gewesen, hätte sich die Beklagte dazu verstanden, nicht nur die Legasthenietherapie, sondern auch die Internatsunterbringung im Schuljahr 2005/2006 aus Jugendhilfemitteln zu finanzieren.
Da die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung nicht auf die eigentliche Therapiemaßnahme (hier LRS-Therapie bei Frau O.) beschränkt ist, sondern auch sonstige Maßnahmen, die den Schulbesuch ermöglichen, umfasst (vgl. Grube/Wahrendorff, a.a.O.), hat die Klägerin Anspruch auf Übernahme von Fahrtkosten und Schulgeld.
Bei der Höhe des Anspruchs auf Erstattung der Fahrtkosten orientiert sich das Gericht an der vom Finanzamt angesetzten Kilometerpauschale von 0,30 EUR. Damit dürften die PKW-Fahrtkosten angemessen ausgeglichen werden. Das Schulgeld betrug je Monat 40,00 EUR und ist voll zu übernehmen.
Soweit die Beklagte darauf abstellt, dass die Klägerin in einer Tageseinrichtung in E. „ebenso gut“ (oder besser) hätte betreut und gefördert werden können, was rechtlich zu Folge habe, dass die von der Klägerin begehrte Jugendhilfemaßnahme nicht notwendig gewesen sei, vermag das Gericht dem nicht zu folgen. Die Beklagte hat durchgängig die Ansicht vertreten, dass wesentlicher Bestandteil ihres Förderkonzeptes die Einbindung der Familie der Klägerin, insbesondere der Mutter der Klägerin (im Sinne einer Familientherapie) sei. Ob dieser Ansatz fachlich richtig ist <im Hinblick auf die von der Fachstelle erkannte Notwendigkeit einer Trennung der Klägerin von der Mutter>, braucht indessen nicht geklärt zu werden, denn es ist aktenkundig und wird von der Beklagten auch nicht in Zweifel gezogen, dass sich die Mutter der Klägerin - aus welchen Gründen auch immer - einer Familientherapie und einem Mitwirken stets verweigert hat. Damit ist allerdings dem Hilfekonzept der Beklagten der Boden entzogen. Die Beklagte durfte sich in dieser Situation nicht darauf zurückziehen, dass erforderliche Maßnahmen zugunsten des Kindes dann unterblieben, wenn sich ihnen die Mutter (auch unberechtigt) verweigert, und - so im angefochtenen Bescheid - Sanktionen nach § 66 SGB I erwähnt werden. Denn hilfeberechtigt und -bedürftig ist die Klägerin. Nötigenfalls hätten erforderliche Hilfen Mittel mit vormundschaftsgerichtlicher Hilfe erzwungen werden müssen. Es ist in der Jugendhilfe nicht statthaft, mangelnde Mitwirkung der Eltern beim Kind zu sanktionieren.
Da der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 03.05.2006 dem vorstehend dargestellten Leistungsanspruch der Klägerin entgegensteht, ist er aufzuheben. Abschließend merkt das Gericht an, dass der Bescheid auch unabhängig von allem Vorstehenden aufzuheben wäre, da seine ihn tragende Grundannahme, dass keine Teilhabegefährdung bei der Klägerin zu befürchten sei, nicht auf durchgeführten diesbezüglichen Ermittlungen und Sachverhaltsbewertung beruht. Im letzten Absatz der Seite 3 des Bescheides ist explizit aufgeführt, dass eine Teilhabegefährdung nicht geprüft werden konnte. Wäre es aber so, hätte die Beklagte entweder nach § 66 SGB I beim Vorliegen seiner Voraussetzungen vorgehen oder den Sachverhalt weiter aufklären müssen. Eine Ablehnung des Antrages war hingegen rechtswidrig.
Die Berufung war auf den Hilfsantrag der Beklagten nicht zuzulassen. Denn die vorliegende Entscheidung weicht weder von einer Entscheidung des Nds. OVG noch der eines Bundesgerichtes ab. Es liegt auch keine Divergenz zum Kammerurteil vom 13.11.2002 - 2 A 2130/01 - vor, da sich die entscheidungserheblichen Sachverhalte völlig voneinander unterscheiden. Andere Berufungszulassungsgründe sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 S. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.