Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 11.04.2023, Az.: 3 A 129/21

Flüchtlingseigenschaft; Kolumbien; Sozialaktivist; Flüchtlingseigenschaft für Sozialaktivisten in Kolumbien

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
11.04.2023
Aktenzeichen
3 A 129/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 48589
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2023:0411.3A129.21.00

[Tatbestand]

Die am XX.XX. und XX.XX.XXXX geborenen Kläger, seit 2015 verheiratete Eheleute, sind kolumbianische Staatsangehörige. Sie lebten vor Ihrer Ausreise zuletzt in der Stadt Sibate, in der Nähe von Bogota. Am 10.02.2021 reisten die Kläger aus ihrem Heimatland aus und am 05.03.2021 unter anderem über Malta und Italien kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellten sie am 31.03.2021 Asylanträge, zu deren Gründen sie vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 08.04.2021 angehört worden sind.

Zur Begründung ihrer Anträge gaben die Kläger übereinstimmend im Wesentlichen an, die Klägerin zu 1. habe vom 20.03.2012 bis zum 15.12.2017 am Wohnort der Eheleute Soacha als Sozialarbeiterin bei der Organisation "G." gearbeitet. Dies ist durch eine entsprechende Bescheinigung der Organisation belegt. Sie habe sich hauptsächlich um die Reintegration junger Menschen gekümmert, die mit Drogen oder kriminellen Banden zu tun gehabt hätten. Sie habe sich auch um ältere Menschen und deren Belieferung mit Lebens- und Pflegemitteln sowie Kleidung gekümmert. Die Jungs, denen sie geholfen habe, hätten ihr vieles erzählt. Am 04.12.2017 habe sie eine Drohung von zwei fremden Männern erhalten. Sie hätten sie aufgefordert, ihre Tätigkeit in der Gegend aufzugeben, sonst würden sie und ihr Sohn getötet. Am Folgetag habe sie bei der Fiscalia Anzeige erstatten wollen. Die Computersysteme hätten jedoch nicht funktioniert und sie habe nur einen handgeschriebenen Zettel mit einem Hilfsangebot von der Fiscalia bekommen. Aufgrund dieser Drohung habe sie ihre Arbeit zum 15.12.2017 gekündigt. Sie habe die Weihnachtsfeier am 24.12. dazu genutzt, sich von ihren Kollegen zu verabschieden. Nach Abschluss der Feier habe sich ihr eine dunkelhäutige Frau genähert, die sich bei ihr für alles, was sie getan hatte, bedankt und sie gebeten habe, zu ihrem eigenen Schutz nicht wieder aufzutauchen. Am 25.12. habe der Kläger zu 2. im Briefkasten ein "Sufragio" gefunden. Dies sei ein Totenbuch, das man in Kolumbien als Geschenk für einen Toten betrachte. Sie seien am 03.01.2018 erneut zur Fiscalia gegangen um Anzeige zu erstatten. Dieses Mal sei auch eine offizielle Anzeige möglich gewesen und sie hätten Polizeischutz bekommen. Zu dieser Zeit hätten sie bereits schon länger Urlaub in den Vereinigten Staaten geplant. Sie hätten sich deshalb entschieden, das Land zu verlassen. Am 25.01.2018 seien sie in die USA geflogen. In den USA habe sich die schwere Depression, unter der die Klägerin zu 1. seit etwa 2012 leide, verschlimmert. Sie sei dort auch von einem Psychiater untersucht worden und habe noch mehr Medikamente bekommen als in ihrer Heimat. Nach 1 1/2 Jahren Aufenthalt in den USA sei es ihr Wunsch gewesen, die Familie wieder zu sehen, so dass sie zurück nach Kolumbien gegangen seien. Sie seien am 04.07.2019 zurückgekehrt. Sie hätten sich dann auch entschieden, an einen anderen Wohnort zu ziehen und seien nach Bogota gegangen. Dort hätten sie sich einen Supermarkt gekauft und betrieben. Vom 01.08.2019 bis zum Verkauf des Geschäftes am 10.02.2020 sei alles ruhig gewesen. Die Klägerin zu 1. habe ihr soziales Engagement auch in der neuen Umgebung fortgeführt. Sie habe vielen schwachen Menschen in der Gegend geholfen. Am 14.01.2020 sei ein junger Mann in ihr Geschäft gekommen, der einen Motorradhelm aufgehabt habe, aber das Visier geöffnet gehabt habe. Er habe nach der Klägerin zu 1. gefragt und ihr, als sie herausgekommen sei, gesagt, sie sollten schnellstmöglich verschwinden. Dabei habe er angegeben von den "Aguilas Negras" zu kommen. Diese Drohung habe sich auch auf den Kläger zu 2. erstreckt. Bei der Klägerin zu 1. seien erneut Ängste hochgekommen und sie habe sich sehr schlecht gefühlt. Sie hätten sich dann entschieden, das Geschäft sofort zu verkaufen und hätten darüber nachzudenken angefangen, politisches Asyl im Ausland zu beantragen. Der Verkauf des Geschäftes sei am 10.02.2020 erfolgt. Sie hätten den neuen Besitzer noch ein paar Tage eingearbeitet und den Laden schließlich am 14.02.2020 verlassen. Da sie etwas im Geschäft noch vergessen gehabt hätten, hätten sie den Sohn der Klägerin zu 1. noch einmal zurückgeschickt. Kurze Zeit nachdem er von dort wieder weggegangen war, seien vor dem Geschäft zwei junge Männer erschossen worden. Ob dies mit den gegen sie gerichteten Drohungen zu tun gehabt habe, könnten sie nicht sagen. Ihre Ausreise hätten sie für den 20.03.2020 geplant. Infolge von Corona sei ihr Flug jedoch mehrfach storniert worden und sei schließlich ganz ausgefallen. Sie hätten dann mit der Migrationsbehörde und der Deutschen Botschaft Kontakt gehabt, um politisches Asyl zu erhalten. Sie seien dann nach Soacha zurückgegangen und hätten sich dort bis Ende September 2020 versteckt gehalten. Ende September sei die Klägerin zu 1. ziemlich krank gewesen. Sie sei dann zunächst für einen Monat bis zum 31.10.2020 zu ihrer Mutter gegangen und dann zu ihrer Nichte in die Ortschaft Sibate, wo sie bis zu ihrer Ausreise geblieben seien. Der Kläger zu 2. sei einmal im Monat nach Hause in den Ort Soacha gegangen um nach dem Rechten zu sehen. Hier habe er dann einen auf den Februar 2021 datierenden Drohbrief der "Aguilas Negras" gefunden. In dieser schriftlichen Drohung habe es geheißen, dass die Aguilas Negras wüssten, dass die Klägerin zu 1. erneut ihrer Tätigkeit als soziale Anführerin nachkomme. Trotz deren letzter Mitteilung scheine die Klägerin zu 1. dies alles für ein Spiel zu halten. Wenn sie nicht von selbst verschwinden würde, würden die Aguilas Negras sie und ihren Mann verschwinden lassen.

Mit Bescheid vom 20.04.2021 lehnte es die Beklagte ab, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Auch ihre Anträge auf Asylanerkennung lehnte sie ab. Gleichzeitig stellte sie fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen und forderte die Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss ihres Asylverfahrens zu verlassen, wobei sie für den Fall der Nichtbefolgung die Abschiebung nach Kolumbien androhte.

Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen an, die Kläger hätten Polizeischutz erhalten können, wie dies in der Vergangenheit auch der Fall gewesen sei. Die entsprechenden Möglichkeiten seien von den Klägern nicht voll ausgeschöpft worden, so hätten sie z.B. keine Beschwerde gegen den Ausfall von Polizeischutz bei der vorgesetzten Dienststelle erhoben. Im Übrigen stünde den Klägern interner Schutz, z. B. in Barranquilla zur Seite, wo eine Schwester der Klägerin zu 1. wohne.

Hiergegen haben die Kläger am 10.05.2021 Klage erhoben.

Unter Beifügung zahlreicher Dokumente und Belege wiederholen und vertiefen die Kläger mit ihrer Klagebegründung ihren Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren.

Die Kläger legen zudem ein ärztliches Attest des Asklepios Fachklinikums für Psychiatrie und Psychotherapie vom 12. Dezember 2022 für die Klägerin zu 1. vor. In diesem Attest wird die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symptomen diagnostiziert. Darin heißt es u. a. ein Behandlungsabbruch oder eine Abschiebung könnten eine Verschlimmerung der Erkrankung verursachen, insbesondere da die Klägerin die psychiatrisch-psychologische Versorgung in Kolumbien als unzureichend beschreibe. Um eine weitere Verschlechterung und eine sich eventuell verstärkende Suizidalität zu verhindern, sei die Fortführung der Therapie in einem sicheren stabilen Umfeld unbedingt erforderlich.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 20.04.2021 zu verpflichten,

die Kläger als asylberechtigt anzuerkennen,

ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise,

ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

weiter hilfsweise,

festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen.

Die Beklagte beantragt, dem klägerischen Vorbringen entgegentretend,

die Klage abzuweisen.

Die Kläger sind in mündlicher Verhandlung informatorisch zu ihren Asylgründen angehört worden. Wegen der Einzelheiten ihrer Aussagen wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind ebenso Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen, wie die aus der den Beteiligten mit der Ladung übersandten Liste ersichtlichen Erkenntnismittel.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist im Wesentlichen begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 20.04.2021 ist insoweit rechtswidrig als mit ihm die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt wird und die Kläger haben - bezüglich des Klägers zu 2.) aufschiebend bedingt - einen Anspruch darauf, dass die Beklagte ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuerkennt (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).

Einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte haben die Kläger gemäß Art. 16 a Abs. 2 GG und § 26 a Abs. 1 AsylG nicht, weil sie über Malta und Italien, also sichere Drittstaaten in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind. Einen Anspruch darauf, dass ihnen die Beklagte die Flüchtlingseigenschaft zuerkennt aber haben die Kläger sehr wohl.

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II Seite 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

Dabei muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 und § 3b AsylG und der Verfolgungshandlung oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.

Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung im Sinne des § 3d AsylG zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegensprechenden Gesichtspunkte. Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 - Qualifikationsrichtlinie - (ABl. L 337/9) ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden. Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, dass der Ausländer erneut von einem solchen Schaden bedroht wird, setzt einen inneren Zusammenhang zwischen der Vorschädigung und dem befürchteten künftigen Schaden voraus (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5/09, juris Rn. 21). Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-) Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.

Es obliegt bei alledem dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es - unter Angabe genauer Einzelheiten - einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.02.1988 - 9 C 32/87; BVerfG, Beschl. v. 29.11.1990 - 2 BvR 1095/90, jeweils zitiert nach juris). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts findet dabei die Pflicht der Gerichte zur Aufklärung des Sachverhalts ihre Grenze dort, wo das Klagevorbringen des Klägers keinen tatsächlichen Anlass zu weiterer Sachaufklärung bietet. Lässt der Kläger es an der Schilderung eines zusammenhängenden und in sich stimmigen, im wesentlichen widerspruchsfreien Sachverhalts mit Angabe genauer Einzelheiten aus seinem persönlichen Lebensbereich fehlen, so bietet das Klagevorbringen seinem tatsächlichen Inhalt nach keinen Anlass, einer daraus hergeleiteten Verfolgungsgefahr näher nachzugehen (BVerwG, Beschl. v. 26.10.1989 - 9 B 405/89, juris Rn. 8). Es ist auch von Verfassungs wegen unbedenklich, wenn ein in wesentlichen Punkten unzutreffendes oder in nicht auflösbarer Weise widersprüchliches Vorbringen ohne weitere Nachfragen des Gerichts unbeachtet bleibt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 29.11.1990 - 2 BvR 1095/90, juris Rn. 14 ff.). Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 - 9 C 109.84, zitiert nach juris).

Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

Gemessen an diesen Vorgaben, steht den Klägern ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zur Seite.

Das von den Klägern übereinstimmend, insbesondere aber von der Klägerin zu 1.), geschilderte Verfolgungsvorbringen ist zur Überzeugung des Einzelrichters glaubhaft. Der diesbezügliche Vortrag ist detailliert, lückenlos und unter emotionaler Anteilnahme an dem Erlebten schlüssig vorgetragen.

Danach hat die Klägerin zu 1.) in der Zeit vom 20.03.2012 bis 15.12.2017 in Soacha als Sozialarbeiterin der Organisation "G." gearbeitet. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin zu 1.) plastisch geschildert, worin ihre Aufgaben bestanden haben. So stellt sich ihre Tätigkeit als aufsuchende Sozialarbeit dar. Sie war, gemeinsam mit anderen vergleichbaren Organisationen, verantwortlich für die Organisation und Durchführung von Informations- und anderen Veranstaltungen, mit denen in den ärmeren Regionen der Stadt Soacha versucht werden sollte, junge Menschen aus der Drogenkriminalität herauszuholen und vor Zwangsrekrutierung zu bewähren. Sie war neben ihrer Eigenschaft als Sozialarbeiterin auch als eine Art kommunale Führerin für die Koordination der verschiedenen Hilfsangebote in Soacha zuständig. Als eine von 4 oder 5 Gruppenleiter*innen hatte sie damit eine herausgehobene Funktion in diesem Bereich. Während die Klägerin bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt am 08.04.2021 nur angegeben hatte, die Jungs, die sie betreut habe, hätten ihr vieles erzählt, hat sie diese Angabe in der mündlichen Verhandlung im Einzelnen konkretisiert. Detailreich und sichtlich angegriffen hat die Klägerin zu 1.) bekundet, dass die Jugendlichen ihr Namen derjenigen Köpfe der paramilitärischen Organisation genannt haben, die sowohl für die Zwangsrekrutierung von Jugendlichen als auch für die Anwerbung von einfachen Bauern verantwortlich waren, die anschließend ermordet worden sind, um sie anschließend der Öffentlichkeit als angebliche Guerilleros, sog. "falsos Positivos" zu präsentieren. Diese Informationen erschienen der Klägerin derart sensibel, dass sie sie aus Angst vor den Konsequenzen nicht der Staatsanwaltschaft mitgeteilt und noch nicht einmal mit ihrem Ehemann geteilt hat. Dieser hat seinem eigenen überzeugenden Bekunden nach erst in Deutschland von diesen Kenntnissen seiner Frau erfahren. Am 04.12.2017 ist die Klägerin zu 1.) ihrem weiteren überzeugenden Vorbringen zufolge von zwei Angehörigen der Aguilas Negras auf dem Heimweg von einem Vor-Ort-Einsatz unter Anwendung von Waffengewalt gestoppt und unter Einbeziehung ihres Sohnes mit dem Tode für den Fall bedroht worden, dass sie weiter ihrer Tätigkeit als Sozialarbeiterin nachgehe. Die Klägerin zu 1.), die diese Drohung sehr ernst genommen hat, hat daraufhin ihre Tätigkeit bei der Fundacion zu Mitte Dezember 2017 beendet. Auch das Gespräch mit einer dunkelhäutigen Frau auf der Weihnachtsfeier am 24.12.2017 hat die Klägerin zu 1.) detailreich und ohne zu übertreiben dargestellt. Es handelte sich offenbar um die subtile Wiederholung der zuvor von den beiden Männern ausgesprochenen Bedrohung. Im Hinblick auf den ihr und ihrem Mann nach Anzeige bei der Staatsanwaltschaft im Januar gewährten Polizeischutz hat die Klägerin die Art dieses Schutzes in der mündlichen Verhandlung konkretisiert. Er hat danach lediglich darin bestanden, dass sie von der örtlichen Polizeiinspektion eine Telefonnummer erhalten hat, die sie hätte für den Fall anrufen sollen, dass etwas Auffälliges passiert. Die nachfolgenden Ereignisse, insbesondere diejenigen, die sich nach der Rückkehr der Kläger aus den USA am 04.07.2019 ereignet haben, hängen zur Überzeugung des Einzelrichters mit den Aktivitäten der Klägerin für die Fundacion und die dabei gewonnenen Erkenntnisse zusammen. Während die Klägerin zu 1.) bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt noch angegeben hat, sie habe ihr soziales Engagement auch in der neuen Umgebung fortgeführt, hat sie, obwohl es prozesstaktisch ungeschickt erscheint, konkretisiert, was sich hinter dieser Aussage verbirgt. Ihre neuen sozialen Aktivitäten lassen sich nämlich mit den vorhergehenden nicht vergleichen; sie bestanden lediglich darin, einmal im Monat Lebensmittel für Bedürftige zu spenden. Obwohl es für den Prozesserfolg hätte nachteilig sein können, räumte die Klägerin zu 1.) ein, hierbei nicht nennenswert in Erscheinung getreten zu sein. Dennoch konnte der Einzelrichter die Überzeugung gewinnen, dass auch die weiteren Bedrohungen der Klägerin, so am 14.01.2020 durch ein junges Mitglied der Aguilas Negras in ihrem Lebensmittelgeschäft wie auch im Februar 2021 durch ein Flugblatt derselben Organisation einerseits so stattgefunden haben, andererseits auf die frühere Tätigkeit der Klägerin zu 1.) als Sozialarbeiterin in Soacha zurückzuführen sind. Offenbar waren die Informationen, die die Klägerin während ihrer Tätigkeit als Sozialarbeiterin gesammelt hat nicht nur in ihren Augen hochsensibel, sondern auch in den Augen der paramilitärischen Vereinigung der Aguilas Negras.

Diese Verfolgung ist eine politische Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 b Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Gemäß § 3 b Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist unter politischer Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3 c AsylG genannten potentiellen Verfolger sowie deren Politiken und Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Die Resozialisierung von Guerilleros bzw. die Verhinderung von Zwangsrekrutierung und Drogenhandel ist einerseits nach dem Friedensschluss 2016 Staatsdoktrin und damit fester Bestandteil der kolumbianischen Politik. Zum anderen betrifft diese Politik die wirtschaftliche Existenz und Nachwuchsgewinnung der Guerillaorganisationen und der Paramilitärs, mithin deren gegenläufige eigene Politik. Sozialpolitik und ihre Gegnerschaft lassen sich in der Folge des Friedensabkommens von 2016 in Kolumbien nicht dem rein kriminellen Milieu zuordnen; sie haben politischen Charakter.

Da die Kläger vorverfolgt ausgereist sind, spricht eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht wird. Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, dass der Ausländer erneut von einem solchen Schaden bedroht wird, setzt einen inneren Zusammenhang zwischen der Vorschädigung und dem befürchteten künftigen Schaden voraus (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5/09, juris Rn. 21). Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Da die Vermutung nicht zu widerlegen ist, bzw. von der Beklagten nicht widerlegt worden ist (vgl. zu dieser Beweislastumkehr, Marx, Handbuch zur Qualifkationsrichtlinie, § 26 Rn. 82), ist davon auszugehen, dass die Kläger bei einer Rückkehr in ihre Heimatregion erneut verfolgt würden.

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheitert nicht daran, dass die von den Klägern geschilderte Verfolgung von nicht staatlichen Akteuren ausgeht. Denn das Gericht ist davon überzeugt, dass der kolumbianische Staat zwar grundsätzlich in der Heimatregion der Kläger, Soacha in der Nähe von Bogota, in der Lage und willens ist, i. S. d. § 3 d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten. Im Fall der Kläger hat er sich vor ihrer Ausreise jedoch im Einzelfall als schutzunfähig erwiesen. Gemäß § 3 d Abs. 2 AsylG muss der Schutz vor Verfolgung wirksam sein und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gemäß Satz 2 der Vorschrift gewährleistet, wenn die in Absatz 1 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat. Einen vollständigen Schutz vor jeglichen kriminellen Übergriffen vermag kein Staat zu bieten. Verlangt wird durch die genannten Vorschriften, dass der Staat die Verfolgungsgefahr durch effektiven Schutz minimiert. Selbst wenn es nicht ausreichen sollte, dass die zuständigen Behörden ihr Bestes tun, wenn der Ausländer darlegen kann, dass das Beste ineffektiv ist und er glaubhaft gemacht hat, dass der Staat zur erforderlichen Schutzgewährung nicht fähig ist (vgl. in diesem Sinne Marx, a. a. O. § 3 d Rn. 33), muss hier von einer solchen Gefahr ausgegangen werden. Eine derartige Darlegung ist den Klägern gelungen. Sie haben übereinstimmend und nachvollziehbar berichtet, dass sie staatlichen Schutz sowohl bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft (Fiscalia) gesucht, aber nicht gefunden haben. Ihnen ist lediglich eine Telefonnummer für den Notfall an die Hand gegeben worden. Dass die Polizei und die Staatsanwaltschaft in Einzelfällen nicht in der Lage sind, staatlichen Schutz effektiv zu gewähren, ist bekannt (vgl. nur ai an die erkennende Kammer vom 14. April 2022). Aber auch die UNP (Unidad Nacional de Proteccion) kann verlässlichen Schutz nicht gewähren. So wurden z.B. im Jahr 2020 von insgesamt 24.904 bis November gestellten Schutzgesuchen nur 4.303 positiv beschieden (Antwortschreiben vom 25.11.2020 an Rechtsanwalt A., Az.: H.). Zwar bedeutet das Angebot staatlichen Schutzes keine Garantie, nicht getötet oder verletzt zu werden (SFH, a.a.O.). Dies bestätigt die UNP in ihrer ergänzenden Antwort an Rechtsanwalt A. vom 15.12.2020, Az.: I., wonach zwischen 2017 und 2020 9 Personen, denen die UNP Schutz gewährt hatte, währenddessen getötet wurden. Allerdings ist in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit Opfer eines Mordanschlags zu werden in Anbetracht von ca. 25.000 Schutzzusagen in diesem Zeitraum sehr gering (0,036 %). Den Klägern ist nach ihren überzeugenden Darlegungen Schutz in Bogota aber gar nicht angeboten worden.

Schließlich steht der Klägerin zu 1.) interner Schutz i. S. v. § 3 e Abs. 1 AsylG nicht zur Seite.

Gemäß § 3 e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er

1. in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und

2. sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

Ein solch interner Schutz steht der Klägerin zu 1.) zur Überzeugung des Gerichts nicht in den kolumbianischen Großstädten zur Verfügung, die nicht zu den zwischen der Guerilla und der Regierung umstrittenen Gebieten Kolumbiens gehören. Grundsätzlich bejaht das Gericht einen solchen, zumutbar zu erreichenden internen Schutz. Sämtliche dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel berichten von gezielten Übergriffen von Banden und Guerilleros auf die Zivilbevölkerung lediglich in den nach Rückzug der FARC-Rebellen umkämpften Regionen Kolumbiens. In diesen Gebieten, in denen es nach dem Rückzug der FARC-Rebellen infolge des Friedensabkommens 2016 zu Territorial- und Streitereien um Drogen und Rohstoffe gekommen ist, zeigt der kolumbianische Staat, wie oben dargelegt, kaum effektive Präsenz auf dem Gebiet der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Erkenntnisse darüber, dass der kolumbianische Staat außerhalb der umkämpften Gebiete nicht sein staatliches Gewaltmonopol durchsetzt, hat das Gericht nicht. Keine der aus der den Beteiligten mit der Ladung übersandten Lise ersichtlichen Erkenntnismittel berichtet über Derartiges.

Hierzu gehört insbesondere die Hauptstadt Bogota wie auch andere Millionenstädte wie Cali nicht. Es ist für Personen, die von Verfolgung betroffen sind, grundsätzlich möglich, sich innerhalb des Staatsgebiets Kolumbiens einer solchen Bedrohung zu entziehen. Für Personen, die dem der staatlichen Schutzprogramm der UNP (Unidad Nacional de Proteccion) unterfallen, gibt es sogar staatliche Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen, bis hin zu Reisekostenunterstützung (vgl. BFA vom 28.05.2021 Auskunft an das erkennende Gericht, S. 3 f., 7 f.). Deswegen bejaht das Gericht in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich die Möglichkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes (vgl. nur Urteil vom 17.11.2021 -3 A 94/19-; ebenso VG Lüneburg, Urteil vom 25.08.2021 -1 A 13/20-; VG Oldenburg, Gerichtsbescheid vom 06.10.2021 -13 A 116/21-).

Belegen aber die Erkenntnismittel, dass die nichtstaatlichen Akteure ihre Verfolgungen landesweit ausüben können und muss von einem Verfolgungsinteresse ausgegangen werden, kann von dem Asylbewerber nicht erwartet werden, in anderen Landesteilen Schutz zu suchen (Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 4 Rn. 141). So liegt der Fall hier.

Die Konrad Adenauer Stiftung macht die Frage der internen Sicherheit davon abhängig, wie stark die verfolgte Person exponiert ist und von welchen Akteuren sie verfolgt wird (Auskunft an die erkennende Kammer vom 26.04.2021). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (a.a.O. S. 6) führt dazu aus, es sei schwierig, Aussagen über die Wirksamkeit von Umsiedlungen einer bedrohten Person in eine andere Region oder Stadt zu machen. Wenn die kriminelle Gruppe eine lokal organisierte Drogenhändlerbande sei, könnte eine solche Umsiedlung den Drohungen ein Ende setzen. Doch wenn diese Drohungen von einer wichtigeren Organisation kämen, die auf nationaler Ebene tätig sei, sei es sehr wahrscheinlich, dass die Person auch in einer größeren Stadt bedroht werde.

Schließlich führt das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom 21.02.2022 an die erkennende Kammer aus, dass von Gewaltandrohung Betroffene oft versuchen sich in anderen Landesteilen und/oder Großstädten in Sicherheit zu bringen. Allerdings könne eine erneute Verfolgung nicht ausgeschlossen werden. Bewaffnete Gruppen seien gut vernetzt und könnten - bei besonderem Interesse an der Person - mit entsprechendem Aufwand Personen landesweit ausfindig machen. Dies gelte für alle Gruppen von Verfolgten; sie seien alle gefährdet, wenn sie über Informationen verfügten, die für die Verfolger ein Risiko darstellten. Aus Sicht des Auswärtigen Amtes mache es keinen signifikanten Unterschied, von welcher Gruppe von Verfolger (staatliche Behörden, Kriminelle, Guerilla oder Paramilitärs) ausgehe, da diese gerade in den Konfliktregionen häufig miteinander verwoben seien und staatliche Behörden zudem oft von kriminellen Gruppen infiltriert seien. Der kolumbianische Staat gehe im Rahmen seiner Möglichkeiten gegen diese kriminellen Gruppen vor, sei jedoch nicht in der Lage, seine Bürger*innen umfänglich und erfolgreich gegen diese kriminellen Aktivitäten zu schützen.

Aktuell finden sich diese Erkenntnisse bestätigt durch die Angaben der EUAA (Country Focus Colombia, Dezember 2022). So heißt es in Abschnitt 4.3 (S. 69 der deutschen Version), die Präsenz des bewaffneten Konflikts in städtischen Gebieten sei nicht neu. In den Jahren 2021 und 2022 habe er an Relevanz gewonnen, da die Verbindungen zwischen den bewaffneten Strukturen auf nationaler Ebene und den lokalen Banden/Combos durch Outsourcing-Beziehungen verstärkt worden seien. In Abschnitt 5.3.4 (S. 110 der deutschen Version) heißt es, städtische kriminelle Straßenbanden seien inzwischen für einen wachsenden Anteil der Gewalt in Kolumbien verantwortlich. Diese Gruppen würden auch häufig von größeren Gruppen wie AGC (anderer Begriff für Clan del Golfo oder Aguilas Negras) und ELN unter Vertrag genommen, um ihre "städtischen Schmuggelrouten" zu betreiben. AGC zeichne sich besonders dadurch aus, dass sie Franchise-Gruppen einsetzte, bei denen es sich häufig um kleinere, lokalisierte Banden in ganz Kolumbien handele, die unter dem Banner der größeren Gruppe und mit einem hohen Maß an Autonomie als "ausgelagerte" Banden operierten. In Abschnitt 5.8 (S. 132 der deutschen Version) heißt es weiter, dass kriminelle Gruppen definitiv in der Lage seien, Zielpersonen aufzuspüren. Dies geschehe hauptsächlich durch Mundpropaganda und landesweite Netzwerke von "städtischen Kollaborateuren" oder durch die Anwerbung lokaler städtischer Kontakte. Es sei umso wahrscheinlicher, dass eine solche Gruppe jemanden aufspüren könne, je nationaler die Gruppe sei. Eine FARC-Dissidentengruppe, die ELN oder die AGC wären also eher dazu in der Lage als eine lokale kriminelle Gruppe. Auf den folgenden Seiten wird diese Aussage vertieft und dargelegt, dass die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Verfolgung von der verfolgten Person, der Art ihrer Tätigkeit, dem Verfolgungsinteresse des Verfolgers sowie - in weitaus geringstem Maße - von seinen logistischen Fähigkeiten abhängt. Auch aus der Auskunft des Auswärtigen Amtes an das erkennende Gericht vom 21.02.2022 ergibt sich, dass paramilitärischen Gruppen aufgrund ihrer Beziehungen und Verflechtungen mit staatlichen Stellen in der Lage sein werden, den Kläger aufzuspüren. Das Gericht geht davon aus, dass das Interesse der Aguilas Negras an der Verfolgung der Klägerin zu 1.) auch bei einem gedachten Umzug fortbestehen wird.

Beide Gesichtspunkte (Exponiertheit und Interessenlage) sprechen dafür, dass die Klägerin zu 1.) internen Schutz in einer beliebigen kolumbianischen Großstadt nicht wird finden können. Die Klägerin zu 1.) wird als aktive, als Führungsperson öffentlich in Erscheinung getretene Sozialarbeiterin, die sich in der Vergangenheit nicht gescheut hat, gezielt gegen die Interessen der Aguilas Negras und anderer Paramilitärs zu agieren und deren fundamentale wirtschaftliche und organisatorischen Interessen zu torpedieren, in jeder kolumbianischen Stadt zur Zielscheibe potentieller Angreifer. Bestätigt wird diese Annahme durch das auch insoweit glaubhaft geschilderte Geschehen nach Rückkehr der Kläger aus den USA. Selbst nach dem Umzug von Soacha nach Bogota, und selbst nach der Reduzierung ihres sozialen Engagements, ist die Klägerin zu 1.) weiter wegen ihrer Aktivitäten aus der Vergangenheit asylerheblich verfolgt worden. Diese zur Überzeugung des Gerichts feststehende Tatsache untermauert die aus den Erkenntnismitteln gewonnene Sachverhaltskenntnis des Einzelrichters.

Diese, die Klägerin zu 1.) betreffenden Ausführungen, lassen sich nicht auf den Kläger zu 2.), ihren Ehemann, übertragen. Dieser war keinerlei asylerheblichen Handlungen oder Übergriffen ausgesetzt. Er ist lediglich als Familienangehöriger der Klägerin zu 1.) betroffen. Dem trägt die Regelung in § 26 Abs. 3 i.V.m. Abs. 5 AsylG Rechnung, indem sie dem Kläger zu 2.) einen Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz zubilligt. Die familiäre Gemeinschaft bestand schon in Kolumbien; die Eheschließung erfolgte im Jahre 2015. Allerdings besteht dieser Anspruch gemäß § 26 Abs. 3 Nr. 1 AsylG erst, wenn die Entscheidung in Bezug auf die Stammberechtigte unanfechtbar geworden ist. Deshalb erfolgt die Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger zu 2.) die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen unter der aufschiebenden Bedingung der Unanfechtbarkeit dieser Entscheidung.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Dass die Klage in Bezug auf die Asylanerkennung erfolglos bleibt und der Ausspruch in Bezug auf den Kläger zu 2.) unter einer aufschiebenden Bedingung steht, wertet das Gericht dabei als geringfügiges Unterliegen. Die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83 b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbar stützt sich auf § 167 VwGO i. V. m. 708 Nr. 11, 711 ZPO