Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 13.08.2020, Az.: 5 B 3113/20

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
13.08.2020
Aktenzeichen
5 B 3113/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 72036
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Es bestehen ernstliche Zweifel, ob § 30 Abs. 3 Nr. 3 AsylG mit der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie 2013) vereinbar ist.

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 19. Mai 2020 – 5 A 3112/20 – gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 7. Mai 2020 – Geschäftszeichen: – wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Über den Antrag hat nach § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG der Einzelrichter zu entscheiden.

Der Antrag, die kraft Gesetzes (§ 75 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 7. Mai 2020 anzuordnen, hat Erfolg. Die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO in der Sache vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Gunsten des Antragstellers aus.

Im hier vorliegenden Fall der durch das Bundesamt verfügten Ablehnung eines Asylantrages als offensichtlich unbegründet im Sinne von § 30 AsylG ordnet das Gericht nach § 36 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der gemäß §§ 36 Abs. 3, 75 Abs. 1 AsylG sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung an, wenn das persönliche Interesse des Asylbewerbers, von der sofortigen Aufenthaltsbeendigung vorerst verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an ihrer sofortigen Durchsetzung übersteigt. Die Aussetzung der Abschiebung darf gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Dies ist der Fall, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme, hier die der sofortigen Aufenthaltsbeendigung zugrundeliegende Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet, einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1516/93 – juris).

Hier bestehen unter Zugrundelegung der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der auf § 30 AsylG gestützten Entscheidung des Bundesamtes in den Ziffern 1 bis 3 des Bescheides vom 7. Mai 2020, den Antrag des Antragstellers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Anerkennung der Asylberechtigung sowie des subsidiären Schutzstatus als offensichtlich unbegründet abzulehnen.

Das Bundesamt lehnte den Antrag des Antragstellers mit der Begründung als offensichtlich unbegründet ab, er habe unter Angabe anderer Personalien vier weitere Asylanträge gestellt (§ 30 Abs. 3 Nr. 3 AsylG), nämlich unter dem Aktenzeichen C. mit den unter Ziff. 7. genannten Aliaspersonalien, unter dem Aktenzeichen D. mit den unter Ziff. 4. genannten Aliaspersonalien, unter dem Aktenzeichen E. mit den unter Ziff. 5. genannten Aliaspersonalien und unter dem Aktenzeichen F. mit den unter Ziff. 1 genannten Aliaspersonalien (vgl. Blatt 223 f. des Verwaltungsvorgangs).

Demnach sind die Tatbestandsvoraussetzungen von § 30 Abs. 3 Nr. 3 AsylG erfüllt. Allerdings bestehen ernstliche Zweifel i.S.d. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG daran, ob § 30 Abs. 3 Nr. 3 AsylG mit höherrangigem Recht vereinbar ist, weil der in § 30 Abs. 3 Nr. 3 AsylG genannte Offensichtlichkeitsgrund nicht mehr in der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie 2013) enthalten ist.

In Art. 23 Abs. 4 e) Asylverfahrensrichtlinie 2005 fand sich noch eine § 30 Abs. 3 Nr. 3 AsylG entsprechende Regelung. Die Vorschrift lautete wie folgt:

„Ferner können die Mitgliedstaaten festlegen, dass ein Prüfungsverfahren gemäß den Grundprinzipien und Garantien nach Kapitel II vorrangig oder beschleunigt durchgeführt wird, wenn der Antragsteller einen anderen Asylantrag mit anderen persönlichen Daten gestellt hat.“

Art. 31 Abs. 8 Asylverfahrensrichtlinie 2013 enthält diese Formulierung nicht mehr. Demnach hat der Richtliniengeber entschieden, die Vorschrift des Art. 23 Abs. 4 e) Asylverfahrensrichtlinie 2005 nicht in die Asylverfahrensrichtlinie 2013 zu übernehmen. Das Gleiche gilt für den in § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG geregelten Offensichtlichkeitsgrund, den es in der Asylverfahrensrichtlinie 2005 noch gab, der aber in der Asylverfahrensrichtlinie 2013 nicht mehr enthalten ist.

Zu § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG führt das Verwaltungsgericht Braunschweig in einem Beschluss vom 9. Januar 2020 – 7 B 441/19 – aus:

„Nach summarischer Prüfung verstößt § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG aber gegen Art. 32 Abs. 2, Art. 31 Abs. 8 der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) und ist daher nicht anzuwenden (VG Minden, Beschluss vom 30.08.2019, 10 L 370/19.A, 1. Leitsatz, Rn.23 ff. – juris; VG Berlin, Beschluss vom 15.03.2017, 9 L 90.17 A, Rn. 6, 7 – juris.). Nach Art. 32 Abs. 2 Verfahrensrichtlinie ist die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet bei Vorliegen eines der in Art. 31 Abs. 8 Verfahrensrichtlinie genannten Umstände zulässig, wenn dies so in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen ist. Die in § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG vorgesehene Konstellation ist in Art. 31 Abs. 8 Verfahrensrichtlinie nicht (mehr) enthalten. Nach summarischer Prüfung spricht mehr dafür als dagegen, dass die Aufzählung in Art. 32 Abs. 8 Verfahrensrichtlinie abschließend ist (VG Berlin, Beschluss vom 15.03.2017, 9 L 90.17 A, Rn. 6, m. w. N. – juris.). Denn nach Art. 5 Verfahrensrichtlinie ist es den Mitgliedstaaten lediglich erlaubt, von den Vorgaben der Verfahrensrichtlinie abzuweichen, wenn sie für die Asylsuchenden günstigere Bestimmungen einführen oder beibehalten möchten (VG Minden, Beschluss vom 30.08.2019, 10 L 370/19.A, Rn. 24 f. m. w. N. – juris.).“

Für § 30 Abs. 3 Nr. 3 AsylG kann kein anderer Maßstab gelten. Die rechtlichen Erwägungen des Verwaltungsgerichts Braunschweig sind deshalb auf § 30 Abs. 3 Nr. 3 AsylG entsprechend zu übertragen.

Dafür, dass die nationale Regelung in § 30 Abs. 3 Nr. 3 AsylG nicht mehr angewandt werden kann, spricht auch der 61. Erwägungsgrund der Asylverfahrensrichtlinie 2013. Denn dort heißt es:

„Die Verpflichtung zur Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht sollte nur jene Bestimmungen betreffen, die im Vergleich zu der Richtlinie 2005/85/EG inhaltlich geändert wurden.“

Inhaltlich geändert wurde die 2005/85/EG hier insoweit, als (u.a.) Art. 31 Abs. 8 Asylverfahrensrichtlinie 2013 eine Art. 23 Abs. 4 e) Asylverfahrensrichtlinie 2005 entsprechende Regelung nicht mehr enthält. Die Umsetzung der Asylverfahrensrichtlinie 2013 erfordert deshalb, die nationale Regelung in § 30 Abs. 3 Nr. 3 AsylG zu streichen. Dies ist nicht geschehen.

In Betracht käme allenfalls, die Stellung eines weiteren Asylantrags mit anderen persönlichen Daten unter Art. 31 Abs. 8 c) Asylverfahrensrichtlinie 2013 zu subsumieren. Dort heißt es:

„Die Mitgliedstaaten können festlegen, dass das Prüfungsverfahren im Einklang mit den Grundsätzen und Garantien nach Kapitel II beschleunigt und/oder an der Grenze oder in Transitzonen nach Maßgabe von Artikel 43 durchgeführt wird, wenn der Antragsteller die Behörden durch falsche Angaben oder Dokumente oder durch Verschweigen wichtiger Informationen oder durch Zurückhalten von Dokumenten über seine Identität und/oder Staatsangehörigkeit, die sich negativ auf die Entscheidung hätten auswirken können, getäuscht hat.“

Entsprechendes wird in der Kommentarliteratur vertreten. Art. 31 Abs. 8 c) Asylverfahrensrichtlinie 2013 beschäftige sich mit der Situation bei Angabe falscher Personalien und die Mehrfachantragstellung könne als Unterfall dieser Regelung betrachtet werden (Hofmann, NK-Ausländerrecht, 2. Auflage 2016 § 30 AsylVfG Rn. 27). Dies ergibt sich allerdings nicht ohne weiteres aus dem Wortlaut der Norm. Von mehreren Asylanträgen mit anderen persönlichen Daten ist nicht die Rede. In Betracht käme möglicherweise, das Tatbestandsmerkmal „Verschweigen wichtiger Informationen“ dahingehend auszulegen, dass der Antragsteller von sich aus zu offenbaren hat, wenn er bereits ein weiteres Asylverfahren betreibt. Doch zum einen lässt sich eine derartige Auslegung im Eilverfahren nicht hinreichend sicher feststellen und zum anderen ist zu berücksichtigen, dass sich sämtliche Tatbestandsmerkmale von Art. 31 Abs. 8 c) Asylverfahrensrichtlinie 2013 auf die „Identität und/oder Staatsangehörigkeit“ des jeweiligen Antragstellers beziehen. Das „Verschweigen wichtiger Informationen“ nimmt damit voraussichtlich nicht auf weitere vom Antragsteller betriebene Asylverfahren Bezug.

Die Entscheidung der Antragsgegnerin, die Anträge des Antragstellers als offensichtlich unbegründet abzulehnen, lässt sich auch nicht anderweitig rechtfertigen. Der „Austausch“ der Offensichtlichkeitsgründe begegnet zwar nach Auffassung des Einzelrichters keinen überwiegenden rechtlichen Bedenken (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 27. April 2018 – 34 L 1592.17 A –, Rn. 20, juris m.w.N.). Allerdings käme vorliegend lediglich § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG in Betracht, weil der Antragsteller durch die Stellung mehrerer Asylbegehren mit unterschiedlichen Personalien über seine Identität getäuscht hat. Hingegen lässt sich nicht sicher feststellen, dass er dies auch in dem hier zu beurteilenden Verfahren getan hat. Im Verwaltungsvorgang (Blatt 94) befindet sich ein Universitätsdokument mit dem im hiesigen Verfahren vorgetragenen Namen. Die Echtheit des Dokumentes kann der Einzelrichter derzeit selbstverständlich nicht zweifelsfrei feststellen, jedoch scheint auch die Antragsgegnerin nicht vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG auszugehen.

Da im Ergebnis der von der Antragsgegnerin einzig angenommene Grund für die Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet ernstlich zweifelhaft ist und andere Gründe nicht in Betracht kommen, war die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung anzuordnen. Auf die übrigen von den Beteiligten vorgetragenen Argumente kommt es im Rahmen des Eilverfahrens nicht weiter an.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.