Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 08.03.1956, Az.: II OVG A 72/55

Wirksamkeit einer Wahl zur Kammerversammlung einer Landwirtschaftskammer ; Ungültigerklärung einer Wahl; Rüge eines Hinweises auf Vorschriften arbeitsrechtlicher Gesetze

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
08.03.1956
Aktenzeichen
II OVG A 72/55
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1956, 10585
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1956:0308.II.OVG.A72.55.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BVerwG - 01.08.1956 - AZ: BVerwG I B 101.56

Verfahrensgegenstand

Wahlanfechtung

In der Verwaltungsstreitsache
hat das Oberverwaltungsgericht für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein in Lüneburg, II. Senat,
in seiner Sitzung vom 8. März 1956. in Oldenburg (Oldb.),
an der teilgenommen haben:
Senatspräsident Dr. Engelhard als Vorsitzender,
Oberverwaltungsgerichtsrat Dr. von Pfuhlstein als Richter,
Verwaltungsgerichtsrat Dr. Lindenborn als Richter,
Justizamtmann a.D. Rohde als ehrenamtliches Mitglied,
Fahrlehrer Warmhold als ehrenamtliches Mitglied,
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landesverwaltungsgerichts Oldenburg - Zweite Kammer - vom 9. August 1955 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

I.

Bei der Wahl zur Kammerversammlung der Landwirtschaftskammer ... am 6. Februar 1955 wurde im Wahlkreis ... der Beigeladene in der Wahlgruppe 2 gewählt. Er erhielt 194 Stimmen. Der Gegenkandidat in der Wahlgruppe 2 erhielt 131 Stimmen.

2

Der Kläger, der zu den Wahlberechtigten gehört, legte Einspruch gegen die Wahl ein. Die beklagte Kammerversammlung wies den Einspruch durch Entscheidung vom 18. März 1955 als unbegründet zurück.

3

Der Kläger hat den Verwaltungsrechtsweg beschritten und vorgetragen: Der Beigeladene leite sieben Güter, die zu der ... und ... wirtschaft (Sozialbetriebe ..., in ... gehören. Der Beigeladene habe Einstellungs- und Entlassungsbefugnis und sei seit vielen Jahren bei dem Abschluß von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen auf der Arbeitgeberseite tätig. Deshalb könne er nicht als Arbeitnehmer angesehen und in den Personenkreis der Wahlgruppe 2 einbezogen werden.

4

Der Kläger hat beantragt,

unter Aufhebung der Wahlprüfungsentscheidung der Beklagten vom 18. März 1955 die Landwirtschaftskammerwahl der Wahlgruppe 2 des Wahlbezirks ... für ungültig zu erklären.

5

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

6

Zur Begründung hat die Beklagte vorgetragen: Der Beigeladene werde im Wählerverzeichnis der Wahlgruppe 2 geführt. Das Wählerverzeichnis habe öffentlich ausgelegen; ein Berichtigungsantrag sei nicht gestellt worden. Der Beigeladene sei demnach in der Wahlgruppe 2 wahlberechtigt. Der Beigeladene sei auch nach seinem Anstellungsverhältnis als Arbeitnehmer anzusehen.

7

Der Beigeladene hat seinen Anstellungsvertrag - Anstellungsschreiben der ... A.G. Versuchsplatz ... vom 15.3.1927 - vorgelegt. Das Landesverwaltungsgericht hat hierauf die Klage mit Urteil vom 9. August 1955 abgewiesen. In den Urteilsgründen wird ausgeführt: Der Beigeladene werde in einem Angestelltenverhältnis beschäftigt und sei hiernach Arbeitnehmer. Zwar seien leitende Angestellte nicht Arbeitnehmer im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes. Das Landwirtschaftskammergesetz habe aber den Begriff des Arbeitnehmers nicht in diesem Sinne eingeengt. Hätte der Gesetzgeber dies tun wollen, so würde er dies im Gesetz klar zum Ausdruck gebracht haben. Die von der Arbeitnehmerschaft gewählten Kammermitglieder seien nicht als Interessenvertreter der Arbeitnehmerschaft anzusehen, sondern hätten die Kammerarbeit in fachlicher Hinsicht aus ihren besonderen Kenntnissen und Erfahrungen heraus zu fördern. Es könne nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber die leitenden Angestellten, die auf Grund ihrer oft besonders reichen Erfahrung der Landwirtschaftskammer wertvolle Dienste leisten könnten, von der Wahl habe ausschließen wollen.

8

Das Urteil ist dem Kläger am 30. August 1955 zugestellt worden. Seine Berufungsschrift ist am 28. September 1955 bei Gericht eingegangen. Der Kläger wiederholt und ergänzt seine Ausführungen aus dem ersten Rechtszuge.

9

Der Beigeladene habe als Güterdirektor der Kruppschen Güter, die 2.800 ha groß seien, eine besondere Vertrauensstellung in den ... Betrieben. Als leitender Angestellter könne er nicht in die Gruppe der Arbeitnehmer eingereiht werden. Im Wählerverzeichnis sei er zu Unrecht als Arbeitnehmer eingetragen worden. Die Eintragung heile den Mangel nicht. Auch den entsprechenden Vorschriften des Betriebsverfassungs-, Arbeitsgerichts-, Kündigungsschutz- und Tarifvertragsgesetzes sei zu entnehmen, daß die leitenden Angestellten nicht zu den Arbeitnehmern zu rechnen seien.

10

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landesverwaltungsgerichts Oldenburg - Zweite Kammer - vom 9. August 1955 abzuändern und unter Aufhebung der Wahlprüfungsentscheidung der Beklagten vom 18. März 1955 die am 6. Februar 1955 durchgeführte Wahl zur Kammerversammlung der Landwirtschaftskammer ... in ... im Wahlkreis ... in der Wahlgruppe 2 für ungültig zu erklären.

11

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

12

Die Beklagte stimmt den Gründen des angefochtenen Urteils zu und trägt weiter vor: Der Hinweis des Klägers auf Vorschriften arbeitsrechtlicher Gesetze gehe fehl, da das Landwirtschaftskammergesetz ein Sondergesetz darstelle. Das Gesetz bestimme ausdrücklich, daß die wirtschafts-, sozial- und kulturpolitische Vertretung der Landwirtschaft und der in ihr tätigen Personen nicht Aufgabe der Landwirtschaftskammer sei. Es mache deshalb auch keinen Unterschied zwischen einem Landarbeiter und einem gehobenen Angestellten.

13

Der Beigeladene stellt keine Anträge.

14

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf ihre in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Schriftsätze verwiesen. Dem Senat haben die Wahl- und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Der Senat hat über die arbeitsrechtliche Stellung des Beigeladenen Beweis durch Vernehmung des Abteilungsdirektors der Firma ... in ... erhoben. Auf die in das Sitzungsprotokoll Bekundung des Zeugen wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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II.

Die in rechter Form und Frist eingelegte Berufung ist zulässig, jedoch unbegründet.

16

1.)

Die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte zur Entscheidung des Rechtsstreits folgt aus § 52 Abs. 5 der Wahlordnung für die Landwirtschaftskammern vom 4. Oktober 1954 - Nds. GVBl. S. 126 - (WO). Danach richtet sich die Anfechtung des Beschlusses der Beklagten im Wahlprüfungsverfahren nach den allgemeinen Vorschriften über das verwaltungsgerichtliche Verfahren. Hierbei kann dahingestellt bleiben, ob es sich um eine besondere Art der verwaltungsgerichtlichen Aufhebungsklage oder um eine "andere Streitigkeit des öffentlichen Rechts" im Sinne des § 22 Abs. 1 VO Nr. 165 handelt. Denn Gegenstand der Klage ist in jedem Falle kraft ausdrücklicher gesetzlicher Zuweisung - ähnlich wie im Falle des § 46 des Niedersächsischen Gemeindewahlgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juli 1952 (Nds. GVBl. S. 77) - die Überprüfung der Ordnungsmäßigkeit der Wahl.

17

2.)

In der Sache selbst hängt die Entscheidung des Rechtsstreits allein davon ab, ob der Beigeladene als "ständig in einem landwirtschaftlichen Betrieb hauptberuflich tätiger Arbeitnehmer" in der Wahlgruppe 2 zum Mitglied der Kammerversammlung gewählt werden konnte (§ 8 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Absatz i Nr. 2 des Gesetzes über Landwirtschaftskammern vom 5. Juli 1954 - Nds. GVBl. S. 55 -). Diese Frage hat das Landesverwaltungsgericht mit Recht bejaht. Der Beigeladene gehört zu den landwirtschaftlichen Arbeitnehmern im Sinne von § 6 Abs. 1 Nr. 2 des Landwirtschaftskammergesetzes.

18

Der Begriff des ständigen landwirtschaftlichen Arbeitnehmers ist im Gesetz nicht näher festgelegt worden. Nach der Regierungsvorlage zum Entwurf eines Gesetzes über Landwirtschaftskammern vom 2. Oktober 1953 (Nds. Landtag - Zweite Wahlperiode, Landtagsdrucksache S. 1134- S. 2114) war eine nähere Umschreibung des Begriffes des ständigen landwirtschaftlichen Arbeitnehmers auch nicht notwendig, da er nicht nur in der arbeitsrechtlichen Lehre und Rechtsprechung, sondern auch in der praktischen Handhabung des Arbeitsrechts hinreichend dargestellt ist.

19

3.)

Die Beweisaufnahme hat ergeben, daß es sich bei dem Beigeladenen Wirtz um einen sogenannten leitenden Angestellten handelt. Der leitende Angestellte nimmt in gewissem Umfange Arbeitgeberfunktionen wahr. Es liegt im Wesen des modernen Großbetriebes, daß der Unternehmer nicht in der Lage ist, die Leitung des Unternehmens allein auszuüben; er muß in steigendem Maße einen Teil seiner Funktionen, seiner Leitungsgewalt gegenüber den Arbeitnehmern, Angestellten übertragen. Die mit solcher Leitungsgewalt ausgestatteten Angestellten sind echte Arbeitnehmer, nehmen jedoch - als Vertreter des Arbeitgebers und somit als Vorgesetzte gegenüber anderen Arbeitnehmern - eine gewisse Sonderstellung ein (vgl. hierzu insbesondere Hueck, Der leitende Angestellte in der arbeitsrechtlichen Gesetzgebung, in "Der Betriebberater 1954 S. 536"). So gelten sie zum Beispiel nach § 4 des Betriebsverfassungsgesetzes vom 11. Oktober 1952 - BGBl. I S. 681 - nicht als Arbeitnehmer. Auch können sie zu Arbeitsrichtern aus den Kreisen der Arbeitgeber berufen werden (Artikel I Nr. 3 des Gesetzes zur Änderung des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 2. Dezember 1955 - BGBl. I S. 743 -). Im Kündigungsschutzrecht erfahren die leitenden Angestellten ebenfalls eine Sonderbehandlung. Dagegen werden ihnen die Schutzbestimmungen des Schwerbeschädigtengesetzes uneingeschränkt zuteil (vgl. Hueck a.a.O., sowie Seilmann, Kommentar zum Schwerbeschädigtengesetz S. 102 f, 107, 215, 302, 480).

20

4)

Mit Recht ist das Landesverwaltungsgericht davon ausgegangen, daß die in einzelnen Spezialgesetzen für leitende Angestellte vorgesehenen Sonderregelungen keine generelle Bedeutung haben. Es ist daher nicht angängig, diese für leitende Angestellte geltenden spezialgesetzlichen Regelungen im Wege der Rechtsergänzung in die Vorschriften über die Wahlberechtigung des Landwirtschaftskammergesetzes zu übertragen. Zur Rechtsergänzung, auch wenn sie im Wege der Gesetzesanalogie vorgenommen werden soll, ist der Richter nur in Ansehung einer Gesetzeslücke befugt (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. Januar 1956 - BVerwG II G 250.55 -). Hiervon kann aber in Bezug auf die Arbeitnehmereigenschaft des Beigeladenen nicht die Rede sein. Diese Frage ist - wie sich aus der bereits angeführten Landtagsdrucksache ergibt - weder beim Erlaß des Landwirtschaftskammergesetzes übersehen worden noch nach Erlaß dieses Gesetzes erst entstanden. Dem Gesetzgeber ist dieses Problem vielmehr durchaus bekannt gewesen. Er hat - offenbar bewußt - davon abgesehen, den Begriff des Arbeitnehmers im Landwirtschaftskammergesetz so, wie es in den, angeführten arbeitsrechtlichen Sondergesetzen geschehen ist, einzuengen.

21

5.)

Zutreffend hat das Landesverwaltungsgericht aufrichtig darauf hingewiesen, daß auch kein innerer Grund ersichtlich ist, dem leitenden landwirtschaftlichen Angestellten das passive - und demzufolge auch das aktive - Wahlrecht zur Kammerversammlung zu nehmen. Die Landwirtschaftskammer ist eine berufsständische Vertretung mit der Aufgabe, im Einklang mit den Interessen der Allgemeinheit die Landwirtschaft und die Gesamtheit der in der Landwirtschaft tätigen Personen in fachlicher Hinsicht zu fördern und ihre fachlichen Belange wahrzunehmen (vgl. § 2 Abs. 1 des Landwirtschaftskammergesetzes). In der Kammerversammlung stehen sich mithin die Eigentümer (Nutznießer und Pächter) landwirtschaftlicher Betriebe und die landwirtschaftlichen Arbeitnehmer grundsätzlich nicht als Sozialpartner im Sinne des Betriebsverfassungsrechts gegenüber. Endlich ist nicht einzusehen, weshalb gerade die leitenden landwirtschaftlichen Angestellten von einer Vertretung in der Kammerversammlung ausgeschlossen sein sollten.

22

Das Landesverwaltungsgericht hat die Klage daher mit Recht abgewiesen. Die Berufung des Klägers konnte somit keinen Erfolg haben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 98 Abs. 2 VO Nr. 165.

23

Die Revision konnte nicht zugelassen werden, weil die Entscheidung auf Landesrecht beruht (§ 56 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht vom 23. September 1952 - BGBl. I S. 625 -).

24

Die Nichtzulassung der Revision kann durch Beschwerde innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils angefochten werden. Die Beschwerde ist beim Oberverwaltungsgericht in Lüneburg, Uelzener Straße 40, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

25

Unabhängig hiervon ist die Revision auch ohne Zulassung statthaft, wenn ausschließlich wesentliche Mängel des Verfahrens gerügt werden und eine der in § 53 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht bezeichneten Voraussetzungen vorliegt.

26

Die Revision ist in derselben Form und Frist bei derselben Stelle einzulegen wie die Beschwerde. Sie ist spätestens innerhalb eines weiteren Monats zu begründen. Die Revisionsschrift muß das angefochtene Urteil angeben und einen bestimmten Antrag enthalten. Die Revisionsbegründung muß die verletzte Rechtsnorm und die Tatsachen und Beweismittel bezeichnen, die den Verfahrensmangel ergeben.