Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 02.02.2016, Az.: 1 Ss 69/15

Unwirksamkeit der Berufungsbeschränkung wegen unterbliebener Belehrung gemäß § 257c StPO nach Verfahrensverständigung

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
02.02.2016
Aktenzeichen
1 Ss 69/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 11572
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:2016:0202.1SS69.15.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Göttingen - 14.09.2015 - AZ: 3 Ns 40/15

Fundstellen

  • AO-StB 2017, 18
  • NJW-Spezial 2016, 218
  • NStZ 2016, 563-565
  • StRR 2016, 2
  • StRR 2016, 12-13
  • ZAP EN-Nr. 496/2016
  • ZAP 2016, 677

Amtlicher Leitsatz

1. Ein Verstoß gegen die Belehrungsverpflichtung nach § 257c Abs. 5 StPO stellt sich als fehlende und zugleich als unrichtige irreführende amtliche Auskunft dar.

2. Erklärt ein Angeklagter die Beschränkung seiner Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch und war diese Erklärung Gegenstand einer vorangegangenen Verfahrensabsprache, die unter Verstoß gegen die Belehrungsverpflichtung aus § 257c Abs. 5 StPO zustandegekommen ist, ist bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte im Sinne einer Regelvermutung davon auszugehen, dass die Beschränkungserklärung auf dem unmittelbar erklärungsrelevanten, mangelbehafteten verständigungsspezifischen Vorgehen des Berufungsgerichtes beruht.

3. Dies führt zur Unwirksamkeit der Beschränkungserklärung.

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Göttingen 14. September 2015 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Göttingen zurückverwiesen.

Gründe

I.

Der Angeklagte ist - nach Beschränkung seiner Berufung in der Hauptverhandlung auf den Rechtsfolgenausspruch, wobei diese Prozesshandlung Gegenstand zuvor geführter Verständigungsgespräche i.S.d. § 257c StPO war - durch Urteil des Landgerichts Göttingen vom 14. September 2015 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 12 Fällen sowie des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 2 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt worden, von denen 4 Monate als Kompensation für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung als verbüßt gelten. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt und der Verfall von Wertersatz in Höhe von 7.500,00 Euro angeordnet.

Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 15. September 2015, eingegangen beim Landgericht am 18. September 2015, Revision eingelegt.

In der auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revisionsbegründung vom 13. November 2015 hat der Verteidiger beantragt, das landgerichtliche Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Göttingen zurückzuverweisen.

Mit Vorlageschreiben vom 04. Dezember 2015 hat die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig beantragt, die Revision des Angeklagten gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die gemäß § 333 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§§ 341 Abs. 1, 344, 345 StPO) Revision des Angeklagten hat - zumindest vorläufigen - Erfolg, weil das Landgericht zu Unrecht von einer wirksamen Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch ausgegangen ist und es deshalb unterlassen hat, sämtliche gegen den Angeklagten erhobenen Tatvorwürfe in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nachzuprüfen und umfassende eigene Feststellungen zum Tatgeschehen zu treffen. Es hat damit über den Verfahrensgegenstand nur unvollständig entschieden.

Auf eine zulässige und ihrerseits unbeschränkte Revision hat das Revisionsgericht von Amts wegen, unabhängig von einer sachlichen Beschwer des Rechtsmittelführers zu prüfen, ob das Berufungsurteil über alle Teile des amtsgerichtlichen Urteils entschieden hat, die der Überprüfungskompetenz der Berufungskammer unterlagen (vgl. Franke in Löwe-Rosenberg, StPO 26. Auflage, § 337 Rn. 37). Aus diesem Grund muss das Revisionsgericht auch nachprüfen, ob und inwieweit die erklärte Berufungsbeschränkung rechtswirksam war (vgl. BGHSt 27, 70; OLG Bamberg DAR 2013, 585; OLG München zfs 2012, 472 [OLG München 08.06.2012 - 4 StRR 97/12]; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Auflage 2015, § 318 Rn. 33, § 352 Rn. 4).

Die vom Angeklagten zur Rechtfertigung der von ihm erhobenen Verfahrensrüge eines Belehrungsverstoßes nach § 257c Abs. 5 StPO vorgetragenen Verfahrenstatsachen begründen vorliegend die Unwirksamkeit der in der Hauptverhandlung am 14. September 2015 von ihm erklärten Berufungsbeschränkung.

Die nach § 318 StPO statthafte Beschränkung der Berufung auf bestimmte Beschwerdepunkte stellt der Sache nach eine Teilrücknahme des Rechtsmittels i.S.d. § 302 Abs. 1 S. 1 StPO dar (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, aaO., § 302 Rn. 2). Sie ist als gestaltende Prozesshandlung im Interesse des rechtsstaatlichen Bedürfnisses nach Rechtssicherheit grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, aaO., § 302 Rn. 9).

Beruht sie auf täuschungs- oder unverschuldet irrtumsbedingten schwerwiegenden Willensmängeln des Angeklagten, kann sie jedoch ausnahmsweise unwirksam sein. Ein solcher Ausnahmefall ist hier nicht gegeben. Dafür, dass die Beschränkungserklärung auf einen solchen Willensmangel zurückgeht, ist nichts ersichtlich.

Darüber hinaus kann sich die Rechtsfolge der Unwirksamkeit aber auch aus besonderen Umständen der Art und Weise des Zustandekommens der Rechtsmittelbeschränkung ergeben (vgl. BGHSt 45, 51). Hierzu zählen zunächst Konstellationen, in denen sich das Gericht zum Erreichen der Beschränkung unlauterer Mittel bedient, aber auch solche, in denen der Angeklagte durch unrichtige oder fehlende amtliche Auskünfte in die Irre geführt wurde (vgl. BGH aaO.; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO., § 302 Rn. 10, 22 m.w.N.). Basiert die mit einem Willensmangel behaftete Beschränkungserklärung auf einer objektiv unrichtigen Maßnahme der Strafverfolgungsorgane, muss sich der Angeklagte unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens nicht an dieser Prozesshandlung festhalten lassen (vgl. OLG Stuttgart StV 2014, 397; Schneider NZWiSt 2015, 1). Dabei muss jedoch zweifelsfrei feststehen, dass das fehlerbehaftete staatliche Vorgehen für das Prozessverhalten des Angeklagten ursächlich geworden ist (vgl. auch OLG Hamburg NStZ 2014, 534; Schneider aaO., jeweils m.w.N.; a.A. OLG Stuttgart StV 2014, 397). Denn der strafprozessuale Zweifelgrundsatz gilt in diesem Zusammenhang nicht (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, aaO., § 302 Rn. 10).

So liegt der Fall hier: Am 14. September 2015 fand während der Unterbrechung der an diesem Tag stattfindenden Hauptverhandlung in der Zeit von 11.01 Uhr bis 12.11 Uhr auf Anregung des Verteidigers ein Verständigungsgespräch i.S.d. § 257c StPO statt, an welchem dieser, die Vertreterin der Staatsanwaltschaft und die Mitglieder der Berufungskammer teilnahmen. In diesem Gespräch erklärte die Vertreterin der Staatsanwaltschaft, dass für sie im Falle einer Beschränkung der Berufung des Angeklagten auf den Rechtsfolgenausspruch die Rücknahme der Berufung der Staatsanwaltschaft in Betracht komme und sie die in diesem Fall zudem die Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werde sowie die Anordnung eines Verfalls in Höhe von 7.500,00 Euro beantragen werde. Vom Verteidiger zur Ausgestaltung der Bewährungsaufsicht befragt, erklärte die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft ferner, dass sie sich die Erteilung einer Geldauflage in Höhe von 2.000,00 Euro oder eine Arbeitsauflage bei einer Bewährungszeit von 3 Jahren vorstelle. Die Unterstellung des Angeklagten unter die Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers halte sie nicht für erforderlich. Daraufhin erklärte der Vorsitzende der Berufungskammer unter dem ausdrücklichen Hinweis, dass dies mit der Kammer nicht beraten sei, dass aus seiner Sicht die Erteilung einer Geld- oder Arbeitsauflage nicht notwendig sei, er aber die Unterstellung unter die Aufsicht und Leitung der Bewährungshilfe für erforderlich halte. Damit erklärte die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft ebenfalls ihr Einverständnis. Nach Besprechung dieses Vorschlages des Verteidigers mit dem Angeklagten und kammerinterner Beratung, teilte der Vorsitzende dann weiter mit, dass in der Kammer Einigkeit darüber erzielt wurde, dass der vom Vorsitzende skizzierte Weg gangbar sei und hinsichtlich der möglichen Höhe einer zu verhängenden Gesamtfreiheitsstrafe die Strafuntergrenze bei 1 Jahr und 9 Monaten oder die Obergrenze bei 2 Jahren liege. Der Verteidiger erklärte hierauf, er werde unter diesen Voraussetzungen die Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch vornehmen. Die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft kündigte an, sie werde der Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch zustimmen und die Berufung der Staatsanwaltschaft zurücknehmen.

All dies legte der Vorsitzende der Berufungskammer nach Fortsetzung der unterbrochenen Hauptverhandlung offen und der Angeklagte, der Verteidiger sowie die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft gaben im unmittelbaren Anschluss - d.h. ohne das sich der Angeklagte zuvor noch zur Tat eingelassen hatte - absprachegemäß die Beschränkungs- bzw. Rücknahmeerklärungen ab.

Die vom Angeklagten erklärte Beschränkung seiner Berufung war mithin Gegenstand einer Verfahrensabsprache, was grundsätzlich möglich ist (vgl. OLG Karlsruhe NStZ 2014, 536 [OLG Karlsruhe 14.06.2013 - 3 Ss 233/13 AK 92/13]; OLG Hamburg aaO.; Schneider aaO.).

Wie sich aus dem Sitzungsprotokoll ergibt (§ 274 S. 1 StPO), ist aber die nach § 257c Abs. 5 StPO vorgeschriebene Belehrung des Angeklagten über die Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung des Gerichtes von dem in Aussicht gestellten Ergebnis nach allen Alternativen des § 257c Abs. 4 StPO unterblieben. Hierauf hat der Angeklagte auch nicht verzichtet.

Diese Belehrung dient dem Schutz des Angeklagten, dem vor Augen gehalten werden soll, dass und unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen das Gericht von der Strafrahmenzusage abweichen kann. Der Angeklagte soll durch sie vor der Verständigung in die Lage versetzt werden, eine autonome Einschätzung des mit seiner Mitwirkung an der Verständigung verbundenen Risikos vorzunehmen (vgl. BVerfG NJW 2013, 1058; BGH StV 2011, 76; OLG München StV 2014, 79). Sie soll folglich die Fairness und zugleich die Autonomie des Angeklagten schützen, der sich mit der Aussicht, durch die Verständigung eine das Gericht bindende Zusage einer Strafobergrenze zu erreichen, einer besonderen Verlockungssituation ausgesetzt sieht, die zur Gefährdung seiner Selbstbelastungsfreiheit führen kann (vgl. BVerfG aaO.).

Ausgehend vom Zweck der Belehrungsverpflichtung nach § 257c Abs. 5 StPO stellt sich der feststehende schwerwiegende Verstoß gegen diese gesetzliche Bestimmung des Verständigungsverfahrens aus übergeordneten verständigungsspezifischen Gründen der Gerechtigkeit als fehlende und zugleich als unrichtige irrenführende amtliche Auskunft dar (vgl. OLG Stuttgart aaO.; Schneider aaO.). Dieser Bewertung steht auch die von der Generalstaatsanwaltschaft zur Begründung ihres Verwerfungsantrages herangezogene Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamburg vom 06. August 2014 - 1 - 27/14 (NStZ 2014, 534 [BGH 25.02.2014 - 1 StR 40/14]) nicht entgegen. Diese befasst sich nicht mit der Frage, ob ein Verstoß gegen die Belehrungsverpflichtung aus § 257c Abs. 5 StPO im Kontext von Rechtsmittelerklärungen als eine zur Irreführung des Angeklagten beitragende unrichtige amtliche Auskunft einzustufen ist. Die Hamburger Richter haben in dem von ihm entschiedenen Fall, in welchem ein Dokumentationsdefizit als verständigungsspezifischer Mangel in Rede stand, die Unwirksamkeit der Berufungsbeschränkung lediglich deshalb nicht angenommen, weil nicht erwiesen war, dass der Verstoß gegen die Vorschriften des verständigungsgesetzlichen Regelungskonzepts Einfluss auf die Willensbetätigung des Angeklagten hatte. Damit grenzen sie sich von der Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts Stuttgart (Beschluss vom 26. März 2014 - 4a Ss 462/13, StV 2014, 397) ab, dass die Unwirksamkeit einer Berufungsbeschränkung, der als verständigungsspezifischer Verfahrensfehler die fehlende Dokumentation der Verständigungsgespräche vorausgegangen war, bereits dann annimmt, wenn nicht ausnahmsweise zweifelsfrei feststeht, dass die Beschränkungserklärung von der Verletzung der Dokumentationspflicht vollständig unbeeinflusst geblieben ist.

Einer weiteren Auseinandersetzung mit diesen beiden Rechtsansichten bedurfte es nicht, da im vorliegenden Fall mangels gegenteiliger Anhaltspunkte - gleichsam im Sinne einer Regelvermutung - davon ausgegangen werden muss, dass die Berufungsbeschränkung des Angeklagten auf das unmittelbar erklärungsrelevante mangelbehaftete verständigungsspezifische Vorgehen des Landgerichtes zurückgeht (vgl. auch Schneider aaO.). Denn im Unterschied zu den von den Oberlandesgerichten Hamburg und Stuttgart bewerteten Sachverhaltskonstellationen war die Berufungsbeschränkung hier gerade Gegenstand der Verfahrensabsprache. Damit unterscheidet sich die hiesige Sachverhaltskonstellation maßgeblich von solchen Fallgestaltungen, in denen der Angeklagte - wie in der Hamburger Entscheidung, in der eine Verständigung gerade nicht zustande gekommen war - seine Berufung auf den Strafausspruch beschränkt, ohne dass dazu auf Grund einer dahingehenden Verfahrensabsprache Veranlassung bestand. In diesen Fällen einer nicht ausgehandelten Rechtsmittelbeschränkung könnte - was hier aber nicht entschieden werden muss - anders als in verständigungsbasierten Konstellationen eine dahingehende Regelvermutung, dass der Angeklagte durch das ihn in die Irre führende Verhalten des Gerichtes motiviert worden ist, mangels aussagekräftiger Tatsachengrundlage sachlich unangebracht sein (vgl. Schneider aaO.).

III.

Weil dem Rechtsmittel (bislang) nur ein vorläufiger Erfolg beschieden ist, war die Entscheidung über die Kosten der Revision der (neuen) Berufungskammer vorzubehalten.