Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 20.06.2018, Az.: 5 U 36/18
Eintrittspflicht der privaten Unfallversicherung für Schäden aufgrund einer Borrelieninfektion
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 20.06.2018
- Aktenzeichen
- 5 U 36/18
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2018, 49185
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- OLG Oldenburg - 08.05.2018 - AZ: 5 U 36/18
- LG Oldenburg - 31.01.2018 - AZ: 13 O 1816/16
Rechtsgrundlage
- ZPO § 412
Fundstellen
- GesR 2019, 113-115
- VersR 2019, 24
- r+s 2019, 281-282
Amtlicher Leitsatz
1. Die sog. "chronische Borreliose" stellt zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine gemäß anerkanntem wissenschaftlichen Standard nachgewiesene pathologische Entität dar.
2. Zur Beweiskraft einer S-3-Leitlinie.
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 31.01.2018 verkündete Urteil des Landgerichts Oldenburg, 13. Zivilkammer, wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Das angefochtene Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Streitwert für die Berufungsinstanz beträgt 608.000 Euro.
Gründe
I.
Die Parteien sind über eine Unfallversicherung verbunden. Die Klägerin begehrt Leistungen mit der Behauptung, sie habe infolge eines Insektenstichs/-bisses eine Borrelieninfektion erlitten und leide heute an einer Lymeborreliose.
Das Landgericht hat ein Sachverständigengutachten eingeholt und auf der Grundlage der Feststellungen des Sachverständigen die Klage abgewiesen, weil die Klägerin nicht an einer Borreliose leide; ob die Beschwerden statt dessen ihren Grund in einer Erkrankung an Multipler Sklerose hätten, hat das Landgericht dahinstehen lassen, weil diese Erkrankung nicht vom Versicherungsschutz umfasst sei.
Wegen der weiteren tatsächlichen Feststellungen, der erstinstanzlichen Anträge und der Begründung im Einzelnen wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen (§ 522 Abs. 2 Satz 4 ZPO).
Mit ihrer Berufung wendet sich die Klägerin unter Berufung auf ihren Privatgutachter gegen dieses Beweisergebnis. Wegen der weiteren Einzelheiten wird insoweit auf die Berufungsbegründung Bezug genommen.
Sie kündigt folgenden Antrag an:
das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 31.1.2018 abzuändern und
1. die Beklagte zu verurteilen, an sie 524.000 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
2. die Beklagte zu verurteilen, an sie ab Juli 2016 eine monatliche Unfallrente in Höhe von 2000 € zu zahlen, und zwar nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 1. eines Folgemonats.
Die Beklagte kündigt folgenden Antrag an:
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Der Senat hat mit Beschluss vom 8. Mai 2018 darauf hingewiesen, dass er beabsichtige, die Berufung durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 ZPO zurückzuweisen. Wegen der näheren Einzelheiten wird auf den Beschluss Bezug genommen (Bl. 171 d. A.). Die Klägerin hat dazu mit Schriftsatz vom 15. Juni 2018 Stellung genommen. Sie bekräftigt ihre Ansicht, dass der gutachterlichen Stellungnahme des PD Dr. B. zu folgen sei. Es handele sich nicht um eine Einzelmeinung oder um eine "private" Meinung, sondern Dr. B. habe in seinen gutachterlichen Stellungnahmen die Leitlinien der Deutschen B.gesellschaft herangezogen, um den Sachverhalt medizinisch zu beurteilen. Die deutsche B.-Gesellschaft e.V. vereinige Wissenschaftler und Ärzte, die sich mit borrelioseassoziierten Infektionskrankheiten befassten. Dieser Gesellschaft gehörten ca. 200 ordentliche Mitglieder an. Dem Beirat gehörten angesehene Mediziner und Wissenschaftler an, und zwar aus den Fachrichtungen Innere Medizin, Neurologie, Psychiatrie, Rheumatologie, Dermatologie, Tiermedizin und aus den Bereichen der Grundlagen und klinischen Forschung. Diesen Leitlinien sei also erhebliches Gewicht beizumessen; es sei nicht erkennbar, warum anderen Leitlinien der Vorzug zu geben sei. Schon aus diesem Grund sei es angezeigt gewesen, ein weiteres Gutachten einzuholen oder den Gutachter Dr. B. im Termin selbst zu hören.
II.
Der Senat weist die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO durch Beschluss zurück, weil sie offensichtlich unbegründet ist. Zur Begründung wird auf den Hinweisbeschluss vom 8. Mai 2018 Bezug genommen (§ 522 Abs. 2 Satz 3 ZPO).
Das angefochtene Urteil erweist sich als richtig. Die Berufung zeigt weder Rechtsfehler auf, noch ergeben sich ernsthafte Zweifel an der Vollständigkeit und Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen.
Die Parteien streiten in diesem Zusammenhang nur um die Frage, ob die Klägerin an einer Lyme-Borreliose erkrankt ist oder nicht bzw. in verfahrensrechtlicher Hinsicht, ob ein weiteres Gutachten gemäß § 412 ZPO einzuholen war.
Nach den zugrunde zu legenden Feststellungen ist die Klägerin nicht an einer Lyme-Borreliose erkrankt; eines weiteren Gutachtens bedarf es nicht.
Der erstinstanzliche Sachverständige Dr. W. hat überzeugend ausgeführt, dass in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehrmeinung bei der Klägerin nicht von einer manifesten Erkrankung an einer Lyme-Borreliose auszugehen ist. Als beweisend wird insoweit ein positiver IgG- und IgM-Nachweis im Elisa und im Westernblot verlangt. Unstreitig liegen diese Voraussetzungen in der Person der Klägerin nicht vor.
Die Klägerin zieht denn auch nicht in Zweifel, dass die Bewertung durch den Sachverständigen der seinerzeit geltenden S1-Leitlinie der neurologischen Fachgesellschaft entspricht bzw. der seit April 2018 geltenden S 3 - Leitlinie, vielmehr bezieht sie sich auf eine privatgutachterliche Äußerung des Gutachters PD B., der im Zusammenwirken mit der deutschen B.gesellschaft eine abweichende Lehrmeinung etablieren möchte (zum Streit aus Anlass der Verabschiedung der S 3 Leitlinie vgl. LG Berlin GesR 2018, 307 ff).
Indessen ist die gutachterliche Stellungnahme Dr. B.s nicht geeignet, den Nachweis einer manifesten Lyme-Borreliose zu gerichtlichen Überzeugung zu erbringen. Wie bereits im Hinweisbeschluss ausgeführt, geht der Privatgutachter davon aus, dass es neben den anerkannten Manifestationen einer Lyme-Borreliose (...) eine weitere Form, die sog. chronische Borreliose gebe, die sich an diversen Symptomen als Multiorganerkrankung zeige. Diese Einstufung wird von der herrschenden Lehrmeinung bislang so nicht akzeptiert. In der neu verabschiedeten S 3 Leitlinie (AWMF-Registernummer 030/071, gültig bis 12. April 2012) heißt es:" Hinsichtlich der diskutierten Pathophysiologie der vermeintlichen "chronischen Lyme-Borreliose" bzw. "chronischen Neuroborreliose" haben aktuelle systematische Reviews keine wissenschaftliche Grundlage für die Annahme einer persistierenden latenten Infektion durch Borrelia burgdorferi (Oliveira & Shapiro, 2015) oder deren morphologische Varianten gefunden (Lantos et al, 2014)....Feder et al haben 4 klinische Kategorien beschrieben, denen sich Patienten mit vermeintlicher "chronischer Lyme-Borreliose" zuordnen lassen (Feder, jr et al., 2007) (...) Keine der 4 Kategorien nach Feder entspricht einer Krankheitsentität."
Auch die von der Klägerin in diesem Zusammenhang als beweisend angeführten Tests, nämlich der LTT- Test und ELISPOT, sind von der wissenschaftlichen Lehrmeinung nicht als geeignet angesehen, eine Infektion zu beweisen. In der S-3 Leitlinie heißt es insoweit:" Somit sollten diese Methoden für die Diagnose der Neuroborreliose nicht verwendet werden: (...) * Lymphozytentransformationstest (LTT) (Dattwyler et al, 1988; Dessau et al., 2014, Valentine-Thon t al., 2006; von Baehr et al., 2012) * Enzyme-liked Immunospot Assay (ELISPOT) (Norfberg et al, 2012)".
Auch die einzelfallbezogene, erstinstanzliche Kritik des Privatgutachters Dr. B. an den Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. W. führt zu keiner abweichenden Beurteilung.
Wenn er kritisiert, dass wegen einer immunsupprimierenden Behandlung möglicherweise die Laborwerte hinsichtlich der Antikörper verfälscht gewesen seien, kann diese Frage auf sich beruhen, weil sie nichts über die Beweistatsache besagt, ob die Klägerin tatsächlich an Lyme-Borreliose erkrankt ist; diesen Umstand muss die Klägerin beweisen; dass sie einen unergiebigen Antikörperbefund mit einer Kortisonbehandlung erklärt, beweist nicht, dass der Befund ohne immunsupprimierende Therapie positiv mit Blick auf die Borrelioseantikörper gewesen wäre.
Ebenso unergiebig ist die Kritik Dr. Bs an der Differentialdiagnose des gerichtlichen Sachverständigen, dass nämlich die Klägerin an MS leide. Auch wenn die Klägerin nicht an MS leiden sollte, ist damit nicht gleichsam im Umkehrschluss bewiesen, dass sie deswegen an einer manifesten Lyme-Borreliose litte.
Schließlich handelt es sich bei dem Privatgutachter angeführten "typischen Symptomen" eben nicht um die Symptome einer anerkannten Manifestation nach Leitlinie.
Wenn die Klägerin schließlich anführt, die deutsche B.gesellschaft sei ebenfalls ein Fachverband mit 200 Mitgliedern, deren Empfehlungen man nicht ohne weiteres die Geltung absprechen könne, mag dies im Rahmen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zutreffen; indessen geht es im vorliegenden Kontext darum, ob die Klägerin mit den Postulaten der vorgenannten Gesellschaft den Beweis gegen die Festlegungen der S-3-Leitlinie führen kann in dem Sinne, dass entgegen der S3-Leitlinie eine weitere Erscheinungsform anzunehmen sei, die nicht labordiagnostisch sicher nachgewiesen werden muss. Angesichts der erhöhten Geltungskraft einer S-3-Leitlinie als evidenzbasierter Konsensusleitlinie nahezu aller Fachverbände und beteiligter Behörden, die auf der Auswertung diverser Studien beruht, ist diese Frage zu verneinen. Die deutsche Gesellschaft für Neurologie, welche die S-3-Leitlinie herausgegeben hat, ist die mitgliederstärkste Vereinigung von Neurologen Europas mit ca. 9.000 Mitgliedern. An der Entwicklung der S-3-Leitlinie waren daneben u.a. 20 AMWF-Fachgesellschaften sowie das Robert-Koch-Institut beteiligt. Unabhängig wie sich die forschenden Wissenschaftler zu der wissenschaftlichen Streitfrage stellen, wird man nicht sagen können, dass angesichts dieser Geltungskraft die Klägerin mit dem Privatgutachten Dr. Bs den Beweis geführt hat, dass die S-3-Leitlinie im Hinblick auf die angesprochenen Punkte explizit falsch ist. Diese wäre aber erforderlich, weil die Klägerin insoweit die Darlegungslast trifft.
Schließlich war das Landgericht aus diesen Gründen auch nicht gehalten, ein weiteres Gutachten einzuholen.
Die Nebenentscheidungen beruhen hinsichtlich der Kosten auf § 97 Abs. 1ZPO und hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit auf den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.