Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 12.06.2018, Az.: 1 Ausl 13/18
Auslieferung nach Polen bei fehlendem inländischen Vollstreckungsinteresse
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 12.06.2018
- Aktenzeichen
- 1 Ausl 13/18
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2018, 68042
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 79 IRG
- § 83 Abs. 2 IRG
Redaktioneller Leitsatz
Der Generalstaatsanwaltschaft steht ein weites Ermessen zu, das nur sehr eingeschränkt gerichtlich überprüft werden kann.
Bei der Prüfung der Auslieferung sind Umstände der Resozialisierung zu berücksichtigen.
Tenor:
1. Die Auslieferung des Verfolgten nach Polen zum Zwecke der Strafvollstreckung aus dem Urteil des Amtsgerichts in Łódź-Widzew vom 10. April 2014 (Az.: IV K 1064/13) wird für zulässig erklärt.
2. Die Auslieferung des Verfolgten nach Polen zum Zwecke der Strafvollstreckung aus dem Urteil des Bezirksgerichts in Łódź vom 17. April 2014 (Az.: XVIII K 60/10) ist unzulässig.
3. Die Fortdauer der durch Beschluss des Senats vom 5. April 2018 angeordneten Auslieferungshaft wird angeordnet.
Gründe
Wegen des Sachverhalts nimmt der Senat zunächst auf den die Auslieferungshaft anordnenden Beschluss vom 5. April 2018 Bezug. Dieser ist dem Verfolgten, der in dieser Sache am 14. Mai 2018 festgenommen worden ist, bekannt gemacht worden.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat nunmehr beantragt, die Auslieferung des Verfolgten für zulässig zu erklären und die Fortdauer der Auslieferungshaft anzuordnen.
I.
Dem Antrag auf Erklärung der Zulässigkeit der Auslieferung konnte nur in dem im Tenor bezeichneten Umfang entsprochen werden.
1.
In Bezug auf das auf einer Absprache nach Art. 335 der polnischen StPO beruhende Abwesenheitsurteil des Amtsgerichts in Łódź-Widzew vom 10. April 2014 (Az.: IV K 1064/13) verweist der Senat auf die Ausführungen im Auslieferungshaftbefehl vom 5. April 2018. Auslieferungshindernisse bestehen insoweit nicht.
Die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft, ein Bewilligungshindernis gemäß § 79 Abs. 2 IRG in Verbindung mit § 83b IRG nicht geltend zu machen, ist nicht zu beanstanden. Nach dem Willen des Gesetzgebers steht der Bewilligungsbehörde hierbei ein sehr weites Ermessen zu, das gerichtlich nur sehr eingeschränkt überprüft werden kann. Unter Berücksichtigung dieses weiten Ermessens ist es allerdings erforderlich, dass die nach § 79 Abs. 2 Satz 2 IRG zu begründende Vorabentscheidung dem Oberlandesgericht die gebotene Überprüfung ermöglicht, ob die Bewilligungsbehörde die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 83b IRG zutreffend beurteilt hat und sich bei Vorliegen von Bewilligungshindernissen des ihr eingeräumten Ermessens unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalles bewusst war.
Diesen Anforderungen wird die getroffene Entschließung vom 16. April 2018, zu der der Verfolgte durch Schriftsatz seines Beistandes vom 28. Mai 2018 Stellung genommen hat, gerecht.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat dabei in den Blick genommen, dass von einem gewöhnlichen Aufenthalt des Verfolgten in der Bundesrepublik Deutschland auszugehen ist. Ein überwiegendes schutzwürdiges Interesse an einer Vollstreckung im Inland hat sie gleichwohl in ermessenfehlerfreier Weise abgelehnt. Maßgeblich für die zu treffende Entscheidung ist, ob durch die Verbüßung der Strafe im Inland die Resozialisierungschancen des Verfolgten merklich erhöht werden. Der Strafvollzug in der Bundesrepublik muss also der Aufgabe, den Verurteilten zu einem künftigen Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu befähigen, besser gerecht werden als die Strafvollstreckung im ersuchenden Staat. Insoweit ist über den gewöhnlichen Aufenthalt des Verfolgten in Deutschland hinaus von Bedeutung, in welchem Maße die beruflichen, wirtschaftlichen, familiären und sozialen Beziehungen des Verfolgten im Inland verfestigt sind. Auch die Dauer des Aufenthalts im Inland ist zu bedenken. So ist bei einem - vorliegend noch nicht gegebenen - länger als fünf Jahre dauernden ununterbrochenen Aufenthalt im Bundesgebiet eine ausreichende Integration im Inland regelmäßig indiziert. Die Beherrschung der deutschen Sprache stellt ebenfalls einen gewichtigen Umstand für die Annahme einer Integration dar. Andererseits ist anzunehmen, dass im Falle einer Vollstreckung der Strafe im Herkunftsstaat von vornherein keine der Resozialisierung entgegenstehenden sprachlichen und kulturellen Probleme bestehen. Im Allgemeinen müssen deshalb bei drohender Strafvollstreckung im Herkunftsland die Bindungen an Deutschland von besonderer Ausprägung sein, um ein Bewilligungshindernis zu begründen. Auch ist wie bei jeder Auslieferungsentscheidung der Grundsatz des § 79 Abs. 1 IRG zu beachten, wonach eine zulässige Auslieferung nach dem gesetzgeberischen Willen im Regelfall auch zu bewilligen ist (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss v. 29.06.2015, 1 AK 10/15, bei juris m.w.N.).
Diese Gesichtspunkte hat die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Entscheidung ersichtlich bedacht. Soweit sie unter Zugrundelegung dieser Umstände zu dem Schluss kommt, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass durch eine Vollstreckung der Strafe im Inland die Resozialisierungschancen des Verfolgten erhöht würden, ist dieses Ergebnis vertretbar und angesichts des eingeschränkten Prüfungsmaßstabes hinzunehmen.
Der Sorge des Verfolgten vor eventuellen Racheaktionen seitens auf Grund der Angaben des Verfolgten verurteilter und inhaftierter Mittäter wird die Generalstaatsanwaltschaft durch entsprechende Hinweise an die polnischen Behörden Rechnung tragen.
2.
Einer Auslieferung zur Strafvollstreckung aus dem Urteil des Bezirksgerichts in Łódź vom 17. April 2014 (Az.: XVIII K 60/10) steht hingegen § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG entgegen. Anders als der Entscheidung vom 10. April 2014 lag diesem, ebenfalls in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Urteil keine Absprache zwischen dem Verfolgten und der polnischen Staatsanwaltschaft zu Grunde, so dass eine Auslieferung nur unter den Voraussetzungen von § 83 Abs. 2 bis 4 IRG zulässig wäre.
Eine Aushändigung der Ladung zur Hauptverhandlung an eine Hausgenossin und damit das Vorliegen der Voraussetzungen des § 83 Abs. 2 Nr. 1 a) bb) IRG konnte - anders als noch im Auslieferungshaftbefehl vom 5. April 2018 angenommen - nicht festgestellt werden. Eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt (§ 83 Abs. 2 Nr. 2 u. 3 IRG) ist nicht erfolgt.
Auch der Ausnahmetatbestand des § 83 Abs. 3 Nr. 2 IRG liegt nicht vor. Zwar hat der Verfolgte, wie die polnischen Behörden ergänzend mitgeteilt haben, am 23. April 2014 entsprechend den polnischen Verfahrensvorschriften die Zustellung der schriftlichen Begründung des Urteils vom 17. April 2014 beantragt. Die schriftlichen Urteilsgründe nebst Rechtsmittelbelehrung wurden sodann, da sie dem Verfolgten weder unter der gerichtsbekannten Adresse ".... Ł.....,l. T 1b/1" noch unter der von dem Verfolgten in seinem Antrag vom 23. April 2014 genannten Anschrift "... Ł....., P..... 227, Whn. 29" persönlich ausgehändigt werden konnten, beim jeweiligen Postamt niedergelegt. Hierüber wurde der Verfolgte jeweils zweimal benachrichtigt, holte aber die bezeichneten Schriftstücke nicht beim jeweiligen Postamt ab. Eine Berufung legte er innerhalb der hierdurch nach polnischem Verfahrensrecht in Gang gesetzten Frist nicht ein.
Dieses reicht aber nicht aus.
Für eine Anwendung des Ausnahmetatbestands des § 83 Abs. 3 Nr. 2 IRG fehlt es an einer "Zustellung des Urteils" im Sinne dieser Vorschrift. Erforderlich hierfür ist, dass die nach dem Recht des ersuchenden Staates erfolgte Zustellung den Verfolgten auch tatsächlich erreicht hat und zu einer Kenntnisnahme der Entscheidung geführt hat (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss v. 19.11.2015, 1 AK 81/15, bei juris).
Zwar setzt die Vorschrift nach ihrem Wortlaut lediglich voraus, dass das Urteil dem Verfolgten zugestellt worden sein muss, doch genügt ungeachtet der weit gefassten Formulierung nur eine persönliche Zustellung, nicht etwa eine solche per Niederlegung. Abgesehen davon, dass auch in allen sonstigen in § 83 IRG geregelten Ausnahmefällen ein Abwesenheitsurteil nur dann eine Auslieferung rechtfertigt, wenn eine tatsächliche Kenntnis des Verfolgten von der Verurteilung oder der hierzu führenden Verhandlung sichergestellt ist, und nicht nachvollziehbar erscheint, warum von dieser Kernvoraussetzung im Falle mangelnder Einlegung eines Rechtsbehelfs bzw. Rechtsmittels binnen der gesetzlichen Frist durch den Verfolgten abgerückt werden sollte, findet diese Voraussetzung auch in der Formulierung des durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 in den Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juli 2002 (Rb-EuHb) eingefügten Art. 4a Abs. 1, dessen Formulierung in § 83 Abs. 4 IRG nur unvollständig übernommen worden ist, Bestätigung. Auch Art. 4 Abs. 1 c), welcher dem § 83 Abs. 3 IRG entsprechende Regelungen enthält, erwähnt zwar nur das Erfordernis einer Zustellung ohne nähere Einschränkung, doch ergibt sich aus dem Kontext der Gesamtregelung unter Einbeziehung des nachfolgenden Art 4a Abs. 1 d), dass eine persönliche Zustellung gemeint ist. Art 4a Abs. 1 d) sieht eine Auslieferung ungeachtet des Vorliegens eines Abwesenheitsurteils auch dann als zulässig an, wenn dem Verfolgten die Entscheidung erst nach Übergabe persönlich zugestellt wird und er über die Möglichkeit eines Wiederaufnahme- oder Berufungsverfahrens belehrt wird. Die Alternative des Art. 4a Abs.1 Ziff. d) wird mit der Formulierung "die Entscheidung nicht persönlich zugestellt erhalten hat, aber.." eingeleitet. Die damit aufgestellte Voraussetzung des Fehlens einer persönlichen Zustellung erscheint nur dann nachvollziehbar, wenn die Formulierung in Art. 4a Abs. 1 Ziff. c) "nachdem ihr die Entscheidung zugestellt ...worden ist..." eine persönliche Zustellung bezeichnen sollte, nicht aber, wenn danach auch anderweitig vermittelte Zustellungen ausreichen würden.
Dieser, nunmehr in § 83 Abs. 4 IRG geregelte Ausnahmetatbestand setzt, wie sich aus Ziffer 12. der Erwägungen zum Rahmenbeschluss 2009/299/JI ("Das Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren sollte gewährleistet werden, wenn die Entscheidung bereits zugestellt wurde sowie wenn sie - im Falle des Europäischen Haftbefehls - noch nicht zugestellt wurde, jedoch unverzüglich nach der Übergabe zugestellt wird. Der letztgenannte Fall bezieht sich auf eine Situation, in der es den Behörden nicht gelungen ist, die betroffene Person zu kontaktieren, insbesondere weil diese versucht hat, sich der Justiz zu entziehen.") ergibt, eine Situation voraus, in der es den Behörden vor dem Auslieferungsersuchen nicht gelungen ist, die betroffene Person durch persönlichen Kontakt über die in ihrer Abwesenheit ergangene Entscheidung zu informieren.
Dem entspricht auch der Inhalt eines Anschreibens des Bundesministeriums der Justiz vom 6. Juli 2011, in welchem ebenfalls zwischen einer anfänglichen persönlichen Zustellung der Entscheidung und einer solchen nach Übergabe des Verfolgten differenziert wird. Bereits vor der Übernahme des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI in nationales Recht durch die Änderung von § 83 IRG hatte das Bundesministerium der Justiz in diesem Anschreiben ausgeführt, dass den Ersuchen zukünftig Auskünfte beigefügt werden müssten, wie die sich aus dem Rahmenbeschluss 2009/299/JI ergebenden Voraussetzungen im Hinblick auf die dargestellten verschiedenen Alternativen erfüllt wurden. So seien im Europäischen Haftbefehl alternative Angaben für den Fall notwendig, dass der betroffenen Person die Entscheidung nicht persönlich zugestellt wurde, aber sie die Entscheidung unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt erhalten und bei der Zustellung der Entscheidung ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren und von der Frist in Kenntnis gesetzt werden wird, über die sie verfüge, um ein neues Verfahren zu beantragen.
In der Entscheidung des Oberlandesgerichts München vom 3. März 2016 (1 AR 5/16, bei juris) vermag der Senat eine abweichende Auffassung nicht zu erkennen. In jenem Verfahren war im ersuchenden Staat (dort: Niederlande) die Aushändigung der Dokumente an den Verfolgten persönlich erfolgt, fraglich war allein, ob diese ausreichten, den Verfolgten ausreichend über die Entscheidung und seine Rechtsbehelfe in Kenntnis zu setzen.
Ein sonstiger Ausnahmetatbestand gemäß § 83 Abs. 2 bis 4 IRG ist nicht erkennbar. Insbesondere haben die polnischen Behörden hinreichend zu erkennen gegeben, dass sie nach Auslieferung des Verfolgten eine erneute Zustellung ihn persönlich, verbunden mit der Möglichkeit, eine Wiederaufnahme des Verfahrens oder ein Berufungsverfahren zu beantragten (§ 83 Abs. 4 IRG), nicht vornehmen werden.
II.
Die Anordnung der Fortdauer der Auslieferungshaft ist erforderlich, weil die Gefahr besteht, dass der Verfolgte, der sich in Kenntnis der drohenden Strafvollstreckung aus Polen abgesetzt hat, bei Aufhebung des Haftbefehls der Durchführung der Auslieferung durch Flucht entzöge. Durch weniger einschneidende Maßnahmen kann der Zweck der Haft nicht erreicht werden.