Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 18.05.2020, Az.: 5 B 25/20

Versammlung; Versammlungsfreiheit; Versammlungsort

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
18.05.2020
Aktenzeichen
5 B 25/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71724
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Bloße versammlungstypische Einschränkungen der Anwohner bei einer geplanten Versammlung in einem Wohngebiet sind hinzunehmen.
2. Die Versammlungsfreiheit umfasst auch die Gestaltungsfreiheit hinsichtlich des Orts der Versammlung. Ob es für den Zweck der Versammlung unabdingbar ist, an einem konkreten Ort zu demonstrieren, oder ob auch ein anderer Ort dem Versammlungszweck in gleicher Weise dienen würde, ist nicht in erster Linie von der Versammlungsbehörde, sondern dem Anmelder zu beurteilen.

Gründe

Der Antragsteller wendet sich mit seiner Klage (5 A 100/20) gegen eine versammlungsrechtliche Auflage, mit der der Antragsgegner eine für den 19. Mai 2020 angemeldete Versammlung verlegt hat.

Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung hat Erfolg.

Der zulässige Antrag gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 2. Alt. VwGO ist begründet.

Entfaltet ein Rechtsbehelf - wie hier - wegen einer behördlichen Anordnung des Sofortvollzuges nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 2. Alt. VwGO wiederherstellen, wenn das Interesse des Adressaten, von der Vollziehung einer Maßnahme vorläufig verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt. Dies ist in der Regel der Fall, wenn sich der angefochtene Verwaltungsakt bei der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung als rechtswidrig darstellt. Denn an der Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts besteht kein öffentliches Interesse. Ist der Verwaltungsakt hingegen rechtmäßig, so überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse an seiner sofortigen Vollziehung. In den Fällen der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung muss dem öffentlichen Interesse zusätzlich ein besonderes Gewicht zukommen.

Das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Maßnahme, denn die angefochtene Ziffer I. der Verfügung des Antragsgegners vom 15. Mai 2020 ist nach gebotener und im Eilverfahren nur möglicher summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage voraussichtlich rechtswidrig.

Rechtsgrundlage für versammlungsrechtliche Beschränkungen ist § 8 Abs. 1 NVersG. Danach kann die zuständige Behörde eine Versammlung unter freiem Himmel beschränken, um eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Eine Beschränkung liegt dabei immer dann vor, wenn allein die Modalitäten der Durchführung der Versammlung, insbesondere in zeitlicher oder örtlicher Hinsicht, beschränkt werden. Beschränkungen in örtlicher Hinsicht können Verfügungen sein, die die geplante Örtlichkeit der Versammlung und/oder Streckenführung verlegen (vgl. Wefelmeier in: Wefelmeier/ Miller, NVersG, Kommentar, 2012, § 8 Rn. 10, 14 m. w. N.). Etwas anderes gilt, wenn das mit der Versammlung verbundene Anliegen von einem bestimmten symbolhaften Ort unlösbar abhängig ist, so dass sie bei örtlicher Verlegung ihren Sinn verliert (vgl. BVerfG, Beschl. v. 06.06.2007 - 1 BvR 1423/07 -, NJW 2007, 2168 m.w.N.). Dann kann die Verlegung der Versammlung einem Versammlungsverbot gleichkommen.

Davon ist hier aber nicht auszugehen. Der Antragsteller kann die Kundgebung an dem von dem Antragsgegner bestimmten Ort durchführen, der nur rund 500 m von dem ursprünglich geplanten Ort entfernt liegt. Hinzu kommt, dass der C. der Firma D. an dem angemeldeten Versammlungsort inzwischen nicht mehr wohnhaft ist, so dass der gewählte Ort an Symbolkraft verliert und die Versammlung ihren Sinn auch an dem Alternativort nicht komplett verliert.

Die rechtlichen Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 NVersG für die vorgenommene und vorliegend angegriffene örtliche Beschränkung der angezeigten Versammlung sind jedoch nicht erfüllt; die örtliche Beschränkung des Antragsgegners durch den Bescheid vom 15. Mai 2020 stellt vielmehr eine rechtswidrige Beschränkung der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Versammlungsfreiheit des Antragstellers dar. Es ist schon nicht erkennbar, dass durch die Versammlung ein von der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung umfasstes Rechtsgut betroffen wäre.

Die „öffentliche Sicherheit“ im Sinne von § 8 Abs. 1 NVersG umfasst den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen, wobei in der Regel eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit angenommen wird, wenn eine strafbare Verletzung dieser Schutzgüter droht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985 - 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81 -, BVerfGE 69, 315; Nds. OVG, Urt. v. 29.05.2008 - 11 LC 138/06 -, Nds. VBl. 2008, 283; Wefelmeier in: Wefelmeier/Miller, NVersG, Kommentar, 2012, § 8 Rn. 17). Dafür ist nichts ersichtlich. Insbesondere kommt eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des C. von D. wegen der Durchführung der Versammlung vor seinem früheren Wohnhaus vorliegend nicht in Betracht, da dieser nicht mehr an dem Ort wohnt, an dem die Versammlung durchgeführt werden soll (anders deshalb die Ausgangslage in: VG Stade, Beschl. v. 20.12.2019 - 10 B 1692/19 -, juris; VG B-Stadt, Beschl. v. 21.02.2012 -1 L 37/12 -, juris). Die jetzigen Anwohner des geplanten Versammlungsorts sind hingegen nicht in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht betroffen, weil diese nicht Ziel und Gegenstand der Versammlung sind. Deren allgemeines Persönlichkeitsrecht ist somit nicht im Hinblick auf den wirksamen Schutz ihrer Privatsphäre betroffen, da auf diese kein mit dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarender psychischer Druck ausgeübt werden soll (vgl. zu einer solchen Situation: VG B-Stadt, Beschl. v. 21.02.2012 -1 L 37/12 -, juris, Rn. 19). Gleiches gilt für eine etwaige mediale Begleitung der Versammlung. Entgegen der Begründung des streitgegenständlichen Bescheids liegt keine Verletzung der öffentlichen Sicherheit darin, dass ggf. am Rande der Versammlung Fotos und Videos von den Liegenschaften gemacht werden, und die Anwohner nicht wüssten weshalb. Dass die Anwohner in - die Schwelle des Art. 14 Abs. 1 GG übersteigender Weise - ihr Eigentum nicht mehr frei und einschränkungsfrei nutzen könnten, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Gleiches gilt in Bezug auf Art. 12 Abs. 1 GG für eine etwaige Einschränkung der beruflichen Tätigkeit der Anwohner im Homeoffice. Es handelt sich bei der dreistündigen Versammlung mit maximal 40 Teilnehmern um eine bloße Belästigung für die Anwohner, ohne dass ihre Rechte verletzt werden.

Auch ein Verstoß gegen die „öffentliche Ordnung“ ist nicht ersichtlich. Unter öffentlicher Ordnung wird die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln verstanden, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird. Die öffentliche Ordnung kann durch die Art und Weise der Kundgabe einer Meinung verletzt werden, etwa durch ein aggressives, die Grundlagen eines verträglichen Zusammenlebens der Bürger beeinträchtigendes, insbesondere andere Bürger einschüchterndes, Auftreten der Versammlungsteilnehmer (BVerfG, Einstweilige Anordnung v. 05.09.2003 - 1 BvQ 32/03 -, juris, Rn. 24). Durch die geplante Versammlung mit maximal 40 Teilnehmern und drei Megaphonen wird die öffentliche Ordnung nicht gestört. Es sind keine Erkenntnisse durch den Antragsgegner mitgeteilt, dass von den Teilnehmern der Versammlung rechtlich relevante Einwirkungen auf die Anwohner, z.B. in Form von außergewöhnlicher Lärmbelästigung oder aggressivem Auftreten zu erwarten sind, insbesondere da der C. der Firma D. als Adressat der Versammlung nicht mehr an dem gewünschten Versammlungsort wohnt. Die bloße Belästigung, die durch die Durchführung einer dreistündigen Versammlung mit einer überschaubaren Anzahl an Teilnehmern zu erwarten ist, ist aber hinzunehmen. Dies gilt namentlich auch für eine mediale Begleitung der Aktion.

Selbst wenn davon ausgegangen werden würde, dass durch die geplante Versammlung eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bestünde, läge in der versammlungsrechtlichen Beschränkung eine Verletzung der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 8 Abs. 1 NVersG sind im Lichte der Versammlungsfreiheit auszulegen. Unter Berücksichtigung der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit im demokratischen Gemeinwesen setzt ihre Beschränkung, wenn grundrechtlich geschützte Rechtsgüter betroffen bzw. gefährdet sind, die Herstellung einer praktischen Konkordanz zwischen diesen voraus. Das Prinzip der praktischen Konkordanz besagt, dass verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter bei Kollisionen einander so zuzuordnen sind, dass allen in dem jeweils notwendigen Umfang Grenzen gezogen sind, alle aber auch optimal wirksam bleiben. Kollidierende Grundrechtspositionen sind hierfür in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.04.2018 - 1 BvR 3080/09 -; VG Karlsruhe, Beschl. v. 27.03.2019 - 2 K 1979/19 - m. w. N., jew. zit. nach juris). Sind grundrechtlich geschützte Rechtsgüter gefährdet, so sind beim Erlass von Auflagen an die Gefahrenprognose hohe Anforderungen zu stellen. Sie ist auf konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte zu stützen; bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen hierzu nicht aus. Bereits durch das Erfordernis der „Unmittelbarkeit“ ist eine erhöhte Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts erforderlich und sind strengere Anforderungen an die Sicherheit der Tatsachenbasis und den Grad der Wahrscheinlichkeit zu stellen als im allgemeinen Polizeirecht (vgl. VG Hannover, Urt. v. 18.03.2015 - 10 A 5677/12 - V. n. b.; Wefelmeier in: Wefelmeier/ Miller, NVersG, § 8 Rn. 24 m. w. N.).

Nach diesen Maßgaben war nicht davon auszugehen, dass die Verlegung des Kundgebungsortes wegen einer unmittelbaren Gefährdung der Rechtsgüter der Anwohner erforderlich gewesen ist.

In Rechtsprechung und Literatur ist anerkannt, dass die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG die Gestaltungsfreiheit im Hinblick auf den Ort der Versammlung umfasst (vgl. BVerfG, Urt. v. 22.02.2011 - 1 BvR 699/06 - juris, „Fraport-Urteil“, m.w.N.; Ullrich, NVersG, Kommentar, 2. Aufl. 2018, § 1 Rn. 12; Miller in: Wefelmeier/Miller, NVersG, Kommentar, 2012, § 1 Rn. 8 ff.). Die Durchführung von Versammlungen dort, wo ein allgemeiner öffentlicher Verkehr eröffnet ist, insbesondere im öffentlichen Straßenraum, auf öffentlichen Wegen und Plätzen wird im Rahmen des Gemeingebrauchs vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG umfasst (vgl. VGH Kassel, Beschl. v. 29.12.1987 - 3 TH 6068/87 -, NJW 1988, 2125).

Dies muss auch vorliegend gelten. Die Anwohner haben die geringfügigen Einschränkungen, die mit einer Versammlung zwangsläufig einhergehen, hinzunehmen, da ansonsten die Gestaltungsfreiheit hinsichtlich des Versammlungsortes unzulässig beschränkt würde. Es würde eine Verletzung der Versammlungsfreiheit darstellen, wenn der Anmelder einer Versammlung den Ort für seine Versammlung wählen müsste, der für Dritte die geringsten versammlungstypischen Einschränkungen mit sich bringt. Ob es für den Zweck der Versammlung unabdingbar ist, an dem vom Anmelder angegebenen Ort die Versammlung durchzuführen oder ob auch ein anderer Ort dem Versammlungszweck in gleicher Weise dienen würde, obliegt nicht in erster Linie der Prüfung durch die Versammlungsbehörde. Sofern es vorliegend für den Antragsteller notwendig erscheint, die Versammlung vor dem ehemaligen Wohnhaus des C. von D. durchzuführen, ist dies vom Antragsgegner zunächst einmal hinzunehmen. Eine Verlegung käme frühestens dann in Betracht, wenn die Einschränkungen Dritter ein die Schwelle der bloßen Unannehmlichkeit überschreitendes Maß annehmen würde. Dies ist vorliegend nicht ersichtlich und vom Antragsgegner auch nicht vorgetragen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziff. 45.4 des Streitwertkatalogs. Eine Halbierung des Streitwerts nach Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs war nicht vorzunehmen, da die Entscheidung im Eilverfahren die Entscheidung in der Sache vorwegnimmt.