Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 17.09.2019, Az.: 2 A 557/17
Anhörung; Folgeantrag; Wiederaufgreifen nach Ermessen
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 17.09.2019
- Aktenzeichen
- 2 A 557/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2019, 70008
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 25 Abs 1 AsylVfG 1992
- § 71 Abs 1 AsylVfG 1992
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Ein Asylfolgenantrag liegt auch vor, wenn die Rücknahme des Erstantrages vor Anhörung des Ausländers erfolgte.
2. Im Rahmen der Ermessensentscheidung über das Wiederaufgreifen im Hinblick auf ein Abschiebungsverbot hat der Ausländer einen Anspruch darauf, vom Bundesamt angehört zu werden, wenn im Gerichtsverfahren verfolgungsrelevanter Vortrag erfolgt und eine Anhörung bisher nicht stattgefunden hat. Das Gericht hat die Sache nicht spruchreif zu machen.
Tatbestand:
Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger, sunnitischer Religionszugehörigkeit und lebte vor seiner Ausreise aus dem Irak zuletzt in Bagdad. Er reiste am 28. November 2015 gemeinsam mit Frau E. Al F., mit der er nach islamischem Recht verheiratet war, in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellten beide einen Asylantrag. Diesen Antrag nahmen Frau F. und der Kläger mit schriftlicher Erklärung vom 2. Dezember 2016 zurück. Eine Anhörung des Klägers war bis dahin nicht erfolgt. Während Frau F. in den Irak zurückkehrte, blieb der Kläger in der Bundesrepublik. Hier stellte er am 6. Februar 2017 einen erneuten Asylantrag. Schriftlich gab der Kläger an, er beziehe sich für seinen Folgeantrag auf die Angaben in seinem Erstverfahren. Er erklärte ferner, in der Zwischenzeit nicht in der Heimat gewesen zu sein. Die Beklagte führte auch in diesem Verfahren eine Anhörung des Klägers nicht durch. Sie begründete dies ausweislich eines Aktenvermerkes damit, der Kläger sei in der Zwischenzeit nicht in seiner Heimat gewesen.
Mit Bescheid vom 7. Juli 2017 lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und lehnte gleichzeitig die Abänderung des Bescheides vom 13. Dezember 2016 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 des AufenthG ab. Zur Begründung gab die Beklagte im Wesentlichen an, die Bezugnahme des Klägers auf seine im Erstverfahren vorgetragenen Asylgründe gehe ins Leere, weil er im dortigen Verfahren solche nicht vorgetragen habe, bevor er seinen Asylantrag zurückgenommen habe. Da er in der Zwischenzeit nicht in seinem Heimatland gewesen sei, lägen veränderte Umstände nicht vor.
Hiergegen hat der Kläger am 25. Juli 2017 Klage erhoben.
Er bemängelt im Wesentlichen, nicht angehört worden zu sein, woraus sich ein Ermessensfehler der Beklagten ergebe.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 7. Juli 2017 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, dem klägerischen Vorbringen in der Sache entgegentretend,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nur im tenorierten Umfang begründet (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
Die Klage ist im Hinblick auf Ziffer 1.) des angefochtenen Bescheides der Beklagten vom 7. Juli 2017 unbegründet. Der Ausspruch, dass der Asylantrag des Klägers vom 6. Februar 2017 unzulässig ist, ist rechtmäßig. Zu Begründung nimmt das Gericht zunächst Bezug auf die Ausführungen der Beklagten im angegriffenen Bescheid und stellt gemäß § 77 Abs. 2 AsylG fest, dass es diesen zutreffenden Ausführungen folgt.
Hinsichtlich des erstmals in mündlicher Verhandlung vorgetragenen Sachverhalts der Homosexualität bleibt ergänzend anzumerken, dass der Kläger mit diesem Vorbringen gemäß § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 2 VwVfG ausgeschlossen bleibt. Denn ein Folgeantrag ist nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. Von einem solchen Folgeantrag ist hier nach dem Wortlaut des § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG auszugehen. Danach liegt ein Folgeantrag vor, wenn der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrages erneut einen Asylantrag (Folgeantrag) stellt. Diese Voraussetzungen liegen im Fall des Klägers vor. Für eine teleologische Reduktion der Vorschrift in Fällen, in denen vor der Rücknahme des Antrags, wie hier, eine Anhörung noch nicht stattgefunden hat (so aber Marx, AsylG, 9. Aufl. § 71 Rn. 7 wegen des Fehlens eines Vergleichspaares bei der Feststellung, ob etwas Neues vorgetragen worden ist), bieten weder Wortlaut noch Historie der Vorschrift einen Anhalt (so Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 40 m.w.N.)
Der Kläger hätte ohne Weiteres den Umstand seiner Homosexualität im Erstverfahren geltend machen können. Er hat jedoch seinen damaligen Asylantrag vor seiner Anhörung zurückgenommen. Dies geschah aus eigenem Antrieb und damit durch den Kläger schuldhaft. Er kann nicht damit gehört werden, dass er unter großem Stress gestanden habe und nicht genau gewusst habe, was er mit seiner Erklärung vom 2. Dezember 2016 bewirkt hat. Da der Kläger gemeinsam mit Frau F. bei der Ausländerbehörde des damaligen Landkreises Osterode am Harz gewesen ist, und diese eindeutig ihren Rückkehrwillen in den Irak bekundet hatte, musste auch für den Kläger klar sein, dass die abgegebene Erklärung eine besondere Bedeutung in Bezug auf eine Rückkehr in den Irak haben würde. Wäre er sich unsicher gewesen, hätte er im Zweifelsfalle nachfragen müssen, welche rechtliche Bedeutung seiner Unterschrift zukommt. Dass er dies nicht getan hat, begründet den Vorwurf schuldhaften Handelns.
Allerdings hält das Gericht den Ausspruch zu Ziffer 2.) im angefochtenen Bescheid vom 7. Juli 2017 teilweise für rechtswidrig.
Aufgrund der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Beklagten bei dieser Entscheidung ein Ermessensfehler unterlaufen ist. Da die Sache nicht spruchreif ist, hat das Gericht die Beklagte zur Neubescheidung des Klägers verpflichtet. Dies ergibt sich aus folgenden rechtlichen Erwägungen:
Wie die Beklagte in dem angegriffenen Bescheid zutreffend erkannt hat, hat der Kläger im Hinblick auf ein Wiederaufgreifen im weiteren Sinne bezüglich von Abschiebungsverboten einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung gegen die Beklagte. Dieser ergibt sich aus § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG i.V.m. §§ 51 Abs. 5, 48 oder 49 VwVfG. Nicht gefolgt werden kann der Beklagten jedoch in der Feststellung, Gründe, die unabhängig von den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG eine Abänderung der bisherigen Entscheidung zu § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG gemäß § 49 VwVfG rechtfertigen würden, lägen nicht vor und seien auch nicht vorgetragen worden. Hier hat die Beklagte den Sachverhalt unvollständig ermittelt.
Nach dem Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung, liegen erhebliche Anhaltspunkte dafür vor, dass er homosexuell ist. Für den Fall, dass dies so ist, spricht einiges dafür, dass sich der Kläger auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG berufen kann. Nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer (vgl. zuletzt Urteil vom 12. Juni 2019 – 2 A 272/17 – haben Homosexuelle aus dem Irak in der Regel einen Anspruch darauf, dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird. Hieraus folgt, dass bei der Entscheidung nach Ermessen über das Wiederaufgreifen im Hinblick auf ein Abschiebungsverbot auch ein solches durch die Homosexualität des Klägers begründet werden kann.
Das Gericht sieht sich jedoch nicht in der Lage, das Verfahren spruchreif zu machen und die Beklagte zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes zu verpflichten. Vielmehr folgert es aus den europarechtlichen Bestimmungen der Richtlinie 2013/32 EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Asylverfahrensrichtlinie – (Amtsblatt EU L180/60), dass dem Kläger zunächst Gelegenheit zu geben ist, im Rahmen einer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration zu seinen Fluchtgründen Stellung zu nehmen. Gemäß Artikel 14 Abs. 1 dieser Richtlinie wird dem Asylbewerber Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu seinem Antrag auf internationalen Schutz durch einen nach nationalem Recht für die Durchführung einer solchen Anhörung zuständigen Bediensteten gegeben, bevor die Asylbehörde eine Entscheidung trifft. Persönliche Anhörungen zum Inhalt eines Antrags werden nach Satz 2 dieser Vorschrift von einem Bediensteten der Asylbehörde durchgeführt. Auf eine derartige Anhörung kann lediglich gemäß Artikel 14 Abs. 2 der Richtlinie verzichtet werden. Die Voraussetzungen der Buchstaben a und b dieser Regelung liegen im Fall des Klägers nicht vor. Zwar gibt es eine Sonderregelung in Artikel 40 Asylverfahrensrichtlinie für Folgeanträge, die es zulässt, schon nach einem ersten Prüfungsschritt die Unzulässigkeit des Antrages festzustellen, wenn neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Asylantragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, nicht zu Tage getreten oder vom Antragsteller nicht vorgebracht worden sind (Artikel 40 Abs. 2 Asylverfahrensrichtlinie). Indes hätte sich die Beklagte hierauf im vorliegenden Fall nicht berufen dürfen. Denn der Antragsteller ist zu keinem Zeitpunkt persönlich angehört worden und ihm ist auch nicht ausreichend Gelegenheit gegeben worden, schriftlich zu seinen Asylgründen Stellung zu nehmen. Auf die schriftliche Aussage des Klägers, er bezieh sich auf sein Vorbringen im Erstverfahren – das es nicht gab -, hätte die Beklagte nicht mit dem ablehnenden Bescheid reagieren dürfen. Vielmehr hätte sie sich um Aufklärung bemühen müssen. Dies ergibt sich aus Artikel 14 Abs. 2 S. 2 der Asylverfahrensrichtlinie. Danach müssen von der Asylbehörde für den Fall, dass eine persönliche Anhörung des Antragstellers nicht stattfindet, angemessene Bemühungen unternommen werden, damit der Antragsteller oder die von ihm abhängige Person weitere Informationen unterbreiten können. Hierzu hätte hier Anlass bestanden. Denn der mit der Begründung für den Asylfolgeantrag erfolgte Hinweis des Klägers auf sein Vorbringen im Erstverfahren ging ersichtlich ins Leere. Denn es war für jeden ersichtlich, dass der Kläger in diesem Verfahren zu seinen Verfolgungsgründen nicht vorgetragen hat.
Den zitierten Verfahrensvorschriften der Asylverfahrensrichtlinie kommt subjektiver Rechtsschutzcharakter zu. Der Kläger hat danach, wie jeder andere Asylbewerber, einen Anspruch darauf, entweder vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge persönlich angehört zu werden oder seine Asylgründe wenigstens inhaltlich schriftlich vorzutragen. Diese Vorschriften dienen dem Interesse des Asylbewerbers und sollen eine umfassende Sachverhaltsermittlung durch die Asylbehörde sicherstellen. Eine solche ist hier bisher nicht erfolgt. Die Beklagte wird die Sachverhaltsermittlung im Hinblick auf die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgetragene Homosexualität, die das Gericht nicht von vornherein als unglaubwürdig betrachten kann, nachzuholen haben. Sollte sich in diesem Verfahren herausstellen, dass der Kläger tatsächlich homosexuell ist, wird die Beklagte die oben zitierte Rechtsprechung der Kammer zu beachten haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Sie berücksichtigt das Maß des gegenseitigen Obsiegens und Unterliegens. Der Kläger unterliegt mit dem gegen die Ziffer 1.) des angefochtenen Bescheides gerichtete Klage vollständig und im Hinblick auf die gegen die Ziffer 2.) des Bescheides gerichtete Klage teilweise. Dies rechtfertigt, dass er die Verfahrenskosten zu ¾ zu tragen hat.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.