Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 12.11.1975, Az.: 9 U 60/75

Schmerzensgeldanspruch wegen Verletzung mit einem Messer und Ausbildung neurotischer Strukturen zu einer Neurose; Angemessenheit eines Schmerzensgeldanspruchs und Berücksichtigung des in einer schweren Pubertätskrise befindlichen Schädigers; Ausbildung einer Neurose nach Messerattacke und Anspruch auf Schmerzensgeld

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
12.11.1975
Aktenzeichen
9 U 60/75
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1975, 15661
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:1975:1112.9U60.75.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Verden - 27.02.1975 - AZ: 5 O 260/74

In dem Rechtsstreit
hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 22. Oktober 1975
unter Mitwirkung
des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht ... und
der Richter am Oberlandesgericht ... und ...
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das am 27. Februar 1975 verkündete Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Verden wird zurückgewiesen.

Auf die Anschlußberufung der Klägerin wird das angefochtene Urteil dahin ergänzt, daß der Beklagte verurteilt wird, die zuerkannten 15.000 DM mit 4 % seit dem 14. August 1974 zu verzinsen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Wert der Beschwer: 5.500,- DM.

Tatbestand

1

Der Beklagte befand sich in den Jahren 1970 bis 1973 in einer schweren Pubertätskrise. Er hatte bereits mehrfach sein Elternhaus und seinen Arbeitsplatz als Steueranwärter der Finanzverwaltung für Tage verlassen und versucht, aus dem Leben zu scheiden, als er sich am 9. Januar 1973 in Visselhövede befand. Hierher hatte es ihn nach zweitägiger Irrfahrt verschlagen. Er beabsichtigte, von hier nach Amsterdam zu gehen, das er von einem früheren Ausflug her kannte und wo er die in der Heimat entbehrten Kontakte zu anderen Jugendlichen zu finden hoffte. Er besaß jedoch nur noch 5 DM. Gegen 18.30 Uhr folgte er in einem Park der heimwärts gehenden Klägerin. Hoch bevor er überhaupt erkennen konnte, wer vor ihm ging, beschloß er, diesen niederzustechen und ihm das für die Fahrt nach Amsterdam benötigte Geld abzunehmen. Der Beklagte beschleunigte seine Schritte, sah, daß es sich um ein junges Mädchen handelte, hielt der Klägerin mit der linken Hand den Mund zu und stieß ihr mit der rechten das Fahrtenmesser oberhalb des linken Schulterblattes etwa 2 Querfinger paravertebral 5 cm tief in den Rücken.

2

Dar zur Tatzeit 19 Jahre alte Beklagte wurde am 19. November 1973 wegen versuchten Mordes zu einer Jugendstrafe von 3 Jahren verurteilt und am 9. Januar 1975 nach Verbüßung von 2/3 der Strafzeit bedingt entlassen. Er war zunächst arbeitslos. Für die Dauer des Besuches der Wirtschaftsakademie der Angestelltenkammer vom April bis Mitte Juli 1975 erhielt er monatlich vom Arbeitsamt 611,- DM. Zur Zeit verdient er als Praktikant monatlich 275,- DM. Er besucht eine Wirtschafts-Fachoberschule, um in zwei Jahren die Hochschulreife zu erlangen. Es soll dann ein wirtschaftswissenschaftliches Studium folgen. Der Beklagte schuldet an Gerichtskosten aus dem Strafverfahren ca. 4.600 DM, die er monatlich mit 10,- DM tilgt. Für eine Fahrkarte bezahlt er monatlich 5,- DM, für Unterkunft und Verpflegung monatlich 100,- DM.

3

Die zur Tatzeit 16 Jahre alte Klägerin lag vom 9. bis 20. Januar 1973 im Krankenhaus und wurde bis zum 2. März 1973 ambulant behandelt. Bis zum 10. März 1973 versäumte sie den Unterricht in der Berufsfachschule für Kinderpflegerinnen. Infolge dieses Ausfalls und der verletzungsbedingten geringen Belastbarkeit in der folgenden Zeit schloß die Klägerin ihre Ausbildung erst im März 1975 und damit um ein Jahr verspätet ab. Zur Zeit ist sie als Kinderpflegerin in einem Kinderheim auf der Insel Langeoog tätig, wo sie nach Abzug des Essens- und Wohngeldes 945,- DM netto monatlich verdient. Ob sie ihre Ausbildung fortsetzt, ist noch offen.

4

Die Klägerin hat behauptet: Sie leide infolge der Tat nicht, nur unter Schmerzen beim Tragen schwerer Lasten, vielmehr auch unter einer Vielzahl neurotischer Störungen. Sie habe Lern- und Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen mit nächtlichem Aufschreien, Dunkelängste, depressive Stimmungen bis zu tiefer Resignation und gelegentlichen Selbstmordgedanken sowie eine gelegentlich in Haß umgeschlagene Angst vor Männern.

5

Die Klägerin hat außer einem Schmerzensgeld einen Verdienstausfall von 5.000 DM geltend gemacht.

6

Sie hat beantragt,

  1. 1.

    den Beklagten zur Zahlung von 5.000,- DM und eines angemessenen Schmerzensgeldes zu verurteilen,

  2. 2.

    festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet ist, allen aus dem Vorfall vom 9. Januar 1973 entstandenen materiellen und den künftig noch entstehenden materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf öffentlich-rechtliche Versicherungsträger übergegangen sind.

7

Der Beklagte hat ein angemessenes Schmerzensgeld, jedoch nicht in der von der Klägerin als angemessen bezeichneten Höhe anerkannt und beantragt,

die Klage im übrigen abzuweisen.

8

Er hat den Verdienstausfall bestritten.

9

Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme der Klage stattgegeben und der Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,- DM zuerkannt.

10

Gegen dieses Urteil, auf das zur näheren Sachdarstellung Bezug genommen wird, wendet sich der Beklagte mit der Berufung, soweit auf ein höheres Schmerzensgeld als 5.000,- DM erkannt worden ist.

11

Er macht geltend, das Landgericht habe bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nicht hinreichend berücksichtigt, daß er zur Tatzeit psychisch schwer gestört und seine Fähigkeit, einsichtsgemäß zu handeln, erheblich vermindert gewesen sei. Bei der Klägerin dagegen habe als Folge der zerrütteten Verhältnisse im Elternhaus bereits eine Veranlagung zu neurotischen Störungen bestanden. Außerdem sei er ohne Vermögen und verdiene nur wenig.

12

Der Beklagte beantragt,

die Klage in Höhe von 5.000 DM abzuweisen.

13

Die Klägerin hat Anschlußberufung eingelegt.

14

Sie beantragt,

  1. 1.

    die Berufung zurückzuweisen,

  2. 2.

    den Beklagten zur Zahlung von 4 % Zinsen ab Eintritt der Rechtshängigkeit auf 15.000 DM zu verurteilen.

15

Der Beklagte beantragt,

die Anschlußberufung zurückzuweisen.

16

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil.

17

Hinsichtlich des Ergebnisses der vom Senat durchgeführten Beweisaufnahme durch erneute Vernehmung der Sachverständigen Dipl.-Psychologin ... wird auf den Berichterstattervermerk vom 22. Oktober 1975 verwiesen.

18

Im übrigen haben die Parteien nach Maßgabe der gewechselten Schriftsätze verhandelt, auf deren Inhalt ergänzend Bezug genommen wird.

Entscheidungsgründe

19

Die Berufung hat keinen Erfolg.

20

Das Schmerzensgeld ist nicht herabzusetzen. Der zuerkannte Betrag in Höhe von 10.000,- DM entspricht unter Berücksichtigung aller für die Bemessung in Betracht kommenden Gesichtspunkte der Billigkeit.

21

Der Beklagte greift die auf dem Gutachten der Sachverständigen ... beruhenden Feststellungen des Landgerichts zu Unrecht an. Unstreitig waren bei der Klägerin vor der Tat infolge der zerrütteten Verhältnisse des Elternhauses neurotische Strukturen vorhanden, die erst durch die Tat in Form einer Neurose manifest geworden sind. Streitig ist nur, ob die neurotischen Strukturen sich auch ohne die Tat zu einer Neurose ausgewachsen hätten, so daß allein deren früherer Eintritt dem Beklagten anzulasten wäre. Hierfür hatte der Beklagte die Beweislast (vgl. Palandt-Heinrich BGB, 33. Aufl., 1974, Vorbem. vor § 249, Anm. 5 f) ee)). Den Beweis hat er nicht erbracht. Aufgrund des Gutachtens steht fest, daß ohne die Tat oder ein vergleichbares Ereignis die vorhandenen neurotischen Strukturen nicht sicher zu einer Neurose geführt hätten. Die Sachverständige hat ausgeführt, daß bei vielen Menschen neurotische Strukturen vorhanden sind, ohne daß es je zu einer Neurose kommt. Das Gutachten war überzeugend und ohne Fehler. Zur Einholung eines weiteren Gutachtens bestand deshalb kein Anlaß.

22

Die Klägerin leidet noch immer unter der Neurose. Sie ist nunmehr zwar offensichtlich fähig, die auf Männer gerichteten Ängste zu steuern. Bei den diffusen Ängsten gelingt ihr das jedoch nicht. Sie leidet weiter unter Dunkelängsten und Schlafstörungen, vermeidet es, nach Eintritt der Dunkelheit allein auszugehen, und hat ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit. Jede Erinnerung an das Geschehen vom 9. Januar 1973 bringt sie erneut aus dem mühsam wiedergewonnenen Gleichgewicht und führt zu einem Leistungsabfall. Hier kann - wenn überhaupt - nur eine Behandlung helfen. Hinzu kommt, daß der psychische Schaden nunmehr noch physische zur Folge hat. Die seelische Belastung der Klägerin hat vor dem letzten Termin in dieser Sache zu einem Kreislaufversage geführt. Diese Schäden wiegen selbst dann, falls eine psycho-therapeutische Behandlung einen gewissen Erfolg bringen sollte, noch so schwer, daß ein Schmerzensgeld in der zuerkannten Höhe gerechtfertigt ist.

23

Dabei wird berücksichtigt, daß der Beklagte sich zur Tatzeit in einer schweren Pubertätskrise befand, daß seine Fähigkeit, einsichtgemäß zu handeln, erheblich vermindert war, daß er über kein nennenswertes Einkommen verfügt und daß der Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes schon durch die Verurteilung im Strafverfahren teilweise Rechnung getragen worden ist. Demgegenüber erhält wiederum der Umstand entscheidendes Gewicht, daß der Beklagte die Tilgung seiner Schuld voraussichtlich frühestens nach 7 Jahren beginnen wird. Das bedeutet, daß die Klägerin nicht nur 10 Jahre auf den Ausgleich für die erlittenen Schmerzen warten, vielmehr zusätzlich den inflationsbedingten Kaufkraftschwund des Geldes hinnehmen muß. Auch dieser Nachteil ist bei der Bemessung des Schmerzensgeldes in Rechnung zu stellen. Er wird durch eine Verzinsung mit 4 %, wie sie auf Grund der Anschlußberufung anzuordnen war, nicht annähernd ausgeglichen.

24

Nach Abwägung der vorstehend genannten Bemessungsgrundlagen ist ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,- DM angemessen.

25

Der Zinsanspruch beruht auf den §§ 288 und 291 BGB.

26

Die Kostenentscheidung und die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergehen gemäß §§ 91, 97 und 708 Nr. 7 ZPO.

Streitwertbeschluss:

Wert der Beschwer: 5.500,- DM.