Landgericht Verden
Urt. v. 27.02.1975, Az.: 5 O 260/74
Bemessung des Schmerzensgeldanspruches wegen versuchter vorsätzlicher Tötung; Ausgleichsfunktion und Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes; Einbeziehung der strafrechtlichen Verurteilung auf die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes
Bibliographie
- Gericht
- LG Verden
- Datum
- 27.02.1975
- Aktenzeichen
- 5 O 260/74
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1975, 14734
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGVERDN:1975:0227.5O260.74.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- OLG Celle - 12.11.1975 - AZ: 9 U 60/75
Rechtsgrundlagen
- § 249 BGB
- § 823 Abs. 1 BGB
- § 827 BGB
- § 829 BGB
- § 847 BGB
- § 287 ZPO
Fundstellen
- NJW 1976, 374-375 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1976, 375-376
Verfahrensgegenstand
Schadensersatz aus unerlaubter Handlung
In dem Rechtsstreit
hat die 5. Zivilkammer des Landgerichts Verden
auf die mündliche Verhandlung vom 6. Februar 1975
durch
den Vorsitzenden Richter am Landgericht ...,
den Richter am Landgericht ... und
den Richter ...
für Recht erkannt:
Tenor:
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 15.000,- DM zu zahlen.
Es wird festgestellt, daß der Beklagte verpflichtet ist, der Kläger allen zukünftigen, aus dem versuchten Totschlag vom 9. Januar 1973 noch entstehenden Schaden zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf öffentlichrechtliche Versicherungsträger übergegangen sind.
Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung von 20.000,- DM vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Am 9. Januar 1973 versuchte der am 12. Oktober 1953 geborene Beklagte, die am 4. Juni 1956 geborene Klägerin vorsätzlich zu töten. Der Beklagte wollte sich mit Gewalt Geld für eine Fahrt nach Amsterdam besorgen, überfiel auf der Bahnhofstraße in Visselhövede die ihm bis dahin unbekannte Klägerin, die in der Dunkelheit vor ihm herging, und stach ihr ein Messer 5 cm tief in ihren Rücken, während er mit der anderen Hand ihren Mund zupreßte und ihren Körper zurückbog. Als die Klägerin infolge ihrer dadurch erlittenen Verletzungen zusammenbrach, lief der Beklagte mit dem für die Tat benutzten Messer in der Hand ziellos davon. Die Klägerin lag 11 Tage im Krankenhaus und wurde 40 weitere Tage ambulant ärztlich behandelt. Der Angeklagte wurde durch rechtskräftiges Urteil der Jugendkammer II des Landgerichts Bremen (34 KLs 1/73) wegen versuchten Mordes unter Zubilligung mildernder Umstände nach dem damaligen § 51 Abs. II StGB zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt. Seine Revision wurde durch Beschluß des Bundesgerichtshofes als offensichtlich unbegründet verworfen. Der Beklagte hatte eine Tötungsabsicht bestritten und sich auf Unzurechnungsfähigkeit nach dem damaligen § 51 Abs. I StGB berufen. Die Klägerin war als Nebenklägerin in dem Strafverfahren beteiligt. Nachdem der Beklagte einschließlich der auf die Strafe angerechneten Untersuchungshaft 2 Jahre verbüßt hatte, wurde er am 9. Januar 1975 bei einer Bewährungszeit von drei Jahren zur Bewährung aus dem Jugendstrafvollzug entlassen.
Auf die genannten Strafakten, die die Kammer zu Zwecken des Beweises herangezogen hat, insbesondere das Strafurteil, wird Bezug genommen.
Die Klägerin, die sich noch in der Schulausbildung zur Kinderpflegerin befindet, beantragt,
den vermögenslosen Beklagten, der zu seinen Eltern zurückgekehrt ist und hofft, eine Stelle bei einem Steuerberater finden zu können,
zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes zu verurteilen, wobei sich die Klägerin einen Betrag von 10.000,- DM vorstellt,
weiter den Beklagten zur Zahlung von 5.000,- DM Verdienstausfall zu verurteilen,
weiter festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin jeden weiteren aus dem Ereignis vom 9. Januar 1973 entstandenen und in Zukunft noch entstehenden materiellen Schaden einschließlich des noch in Zukunft entstehenden immateriellen Schaden zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf öffentlichrechtliche Versicherungsträger übergegangen sind.
Der Beklagte beantragt,
die Abweisung der Klage,
hilfsweise,
dem Beklagten nachzulassen, die Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung abzuwenden.
Dabei erkennt der Beklagte grundsätzlich an, der Klägerin zur Zahlung eines Schmerzensgeldes dem Grunde nach verpflichtet zu sein, ohne deren Auffassungen über die angemessene Höhe zu teilen.
Er bestreitet dabei, daß die Klägerin Verdienstausfall und Zukunftsschaden erlitten habe.
Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der von ihnen gewechselten und vorgetragenen Schriftsätze Bezug genommen.
Die Kammer hat aufgrund des Beweisbeschlusses vom 11. September 1974 (Bl. 66 d.A.) Beweis erhoben. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die gerichtliche Niederschrift vom 20. Januar 1975 (Bl. 110 ff. d.A.), weiter auf das Gutachten der Dipl.-Psychologin ... vom 13. Januar 1975 (Bl 71 ff d.A.) verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
1)
Der Beklagte muß der Klägerin ... nach §§ 823 Abs. I, 847 BGB 10.000,- DM Schmerzensgeld zahlen, weil er durch den von ihm beabsichtigten versuchten Mord sie vorsätzlich körperlich verletzt hat. Der Beklagte hat diesen Anspruch dem Grunde nach anerkannt.
10.000,- DM Schmerzensgeld sind angemessen. Bemessungsgrundlage für diesen Anspruch, dessen Höhe nach § 287 ZPO nach freiem Ermessen zu bestimmen ist, sind "Ausmaß und Schwere der psychischen und physischen Störungen, die persönlichen und Vermögensverhältnisse des Verletzten und des Schädigers, also (das) Maß der Lebensbeeinträchtigung, Größe, Dauer, Heftigkeit der Schmerzen, Leiden, Entstellungen, Dauer der stationären Behandlung, der Arbeitsunfähigkeit ..., ferner der Grad des Verschuldens und die gesamten Umstände des Falles" (Palandt-Thomas, BGB, 34. Aufl., § 847, Anm. 4 a). - Es ist durch das die Kammer überzeugende Gutachten der Sachverständigen Dipl.-Psychologin ... erwiesen, daß die-Klägerin durch das Verhalten des Beklagten an neurotischen Depressionen leidet und daß sie einer psychotherapeutischen Behandlung bedarf, um zu versuchen (§ 249 BGB), sie auch seelisch wieder gesund zu machen. Die Verletzungen der Klägerin durch die Handlungsweise des Beklagten waren erheblich, das Verhalten des Beklagten brutal, er hat aus nichtigem Anlaß sich nicht gescheut, in einer verwerflichen Handlungsweise Leben und Gesundheit der Klägerin aufs Spiel zu sehen. Die Milderungsgründe, die das Strafurteil für das Verhalten des Beklagten gefunden hat, die auch zivilrechtlich entsprechend wirken, kann sein Verschulden nur mildern. Daß der Beklagte nicht unzurechnungsfähig war - was wegen des Anerkenntnisses zum Grunde ohnehin unerheblich war - ergibt sich aus den zu Zwecken des Beweises beigezogenen Strafakten und den dort eingeholten ärztlichen Gutachten, welche die Kammer ebenfalls überzeugen. Damit greift § 827 BGB mit der eventuellen Folge einer Ersatzpflicht nach §829 BGB nicht ein.
Es ist mit Recht anerkannt, daß das Schmerzensgeld sowohl - und im wesentlichen - dem Ausgleich der Schäden dienen soll, die dem Verletzten zugefügt wurden (Palandt-Thomas, a.a.O., § 847 BGB, Anm. 1 b), daß es aber auch dem Verletzten Genugtuung verschaffen soll (BGHZ 18, 149 ff; Soergel-Zeuner, BGB, 10. Aufl., § 847 BGB, Anm. 10 und 11; Deutsch, Schmerzensgeld und Genugtuung, JuS 69, 197 ff; siehe auch Hirsch, Festschrift für Engisch, zur Abgrenzung von Strafrecht und Zivilrecht, S. 307), wobei zwischen Ausgleichs- und Genugtuungsanteil nicht formal zu trennen ist (Palandt-Thomas, a.a.O., § 847, Anm. 1 b; Stoll, Empfiehlt sich eine Neuregelung der Verpflichtung zum Geldersatz für immaterielle Schäden?, Gutachten für den 45. Deutschem Juristentag, Band 1, S. 155).
Die Kammer teilt die Ansicht, daß auf die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes eine strafgerichtliche Verurteilung des Beklagten anzurechnen ist (OLG Celle, JZ 70, 548 mit zustimmender Anmerkung von Deutsch; Palandt-Thomas, a.a.O., § 847, Anm. 1 b; vgl. auch Pecher, Der Anspruch auf Genugtuung als Vermögenswert, AcP 171 (1971), Seite 44 ff, 65; Stoll, a.a.O., Seite 152, 155; Hirsch, a.a.O., Seite 325), daß aber dieser Genugtuungsanteil nicht völlig entfällt (aA OLG Düsseldorf, NJW 74, 1289) wobei es unerheblich ist, inwieweit damit in Wirklichkeit eine Art Privatstrafe geschaffen wird, worauf in Rechtsprechung und Literatur hingewiesen wird (siehe z.B. Hirsch, a.a.O., Seite 317; Soergel-Zeuner, BGB, a.a.O., § 847 BGB, Anm. 11; Bötticher, AcP 158, 394 ff, 397).
Dabei war zu untersuchen, ob das Zivilgericht selbständig prüfen kann und muß, welcher Stellenwert der Genugtuung durch das strafgerichtliche Urteil zukommt, insbesondere ob es nicht nur die Tatsache der Verurteilung zur Strafe hinnehmen muß, sondern - ohne Rücksicht auf den Inhalt des Strafurteils - damit auch den strafgerichtlichen Teil der Genugtuung als angemessen und erledigt anzusehen hat. Wenn das OLG Celle (a.a.O., JZ 70, 548) ausführt, daß eine gerichtliche Bestrafung dem Opfer eines vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffs ganz allgemein das befriedigende Gefühl verschaffe, "der Gerechtigkeit sei Genüge getan, der Angreifer müsse seine Tat verdientermaßen büßen, ihm geschehe damit Recht", so ist es unumgänglich, daß das Zivilgericht selbständig prüft, wieweit diese Genugtuungswirkung geht. Dabei muß es freilich berücksichtigen, daß das Strafgericht, weil es aufgrund einer Hauptverhandlung entscheidet, im Zweifel die besseren Erkenntnismöglichkeiten hat, als eine nur aktenmäßige Beurteilung und daß daher mit der Feststellung, die verhängte Kriminalstrafe sei hoch oder niedrig Vorsicht am Platze ist. Andererseits kann eine Strafe, die auch bei zurückhaltender Betrachtung an der Grenze des - nach Meinung des Zivilgerichts - Vertretbaren liegt, zwangsläufig nur eine geringere Genugtuungsfunktion haben. Dabei darf nicht zu Lasten der Klägerin gewertet werden, daß sie als Nebenklägern gegen das Strafurteil kein Rechtsmittel eingelegt hat, was wegen der Entscheidung durch eine letzte Tatsacheninstanz ohnehin keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Die subjektive Einstellung des Geschädigten, die für den tatsächlichen eintretenden Genugtuungseffekt bedeutsam ist und die sich etwa in den im Zivilprozeß gestellten Klaganträgen niederschlagen kann, ist nur ein Gesichtspunkt, mit dem sich das Zivilgericht bei seiner nach objektiven Kriterien zu findenden Entscheidung auseinandersetzen muß.
Es ist anerkannt, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers bei der Höhe des festzusetzenden Schmerzensgeldes angemessen zu berücksichtigen sind (BGHZ 18, 149 ff, 159 [BGH 06.07.1955 - GSZ - 1/55] (a. A. BGHZ 7, 223 ff.), Soergel-Zeuner, a.a.O., § 847 Anm. 21; Knöpfel, AcP 155, 135 ff mit Darstellung der Entwicklung der Rechtsprechung). So kann die Tatsache, daß der Beklagte aufgrund eines milden Strafurteils vorzeitig nach Verbüßung von 2/3 der verhängten Strafe entlassen worden ist, bei der Höhe des Schmerzensgeldes zu Buche schlagen. Denn er hat - auch wenn er jetzt vermögenslos ist - die Chance, mehr Geld zu verdienen, als wenn er noch länger eine Freiheitsstrafe zu verbüßen hätte. Interessen des Schädigers, ... möglichst bald ... in geordnete finanzielle Verhältnisse zu kommen, haben hinter den berechtigten Interessen des Geschädigten zurückzustehen. Einwände, damit könnte dem strafrechtlichen Resozialisierungsgedanken Abbruch getan werden, haben im Rahmen dieser Erwägung des § 847 BGB nichts zu suchen.
2)
Es ist durch die glaubhaften Zeugen ... - Studiendirektor und stellvertretender Leiter der Berufsfachschule in Rotenburg/Wümme -, die Vertragslehrerin dieser Berufsschule ... und die Lehrerin an der gleichen Schule ... -, denen die Kammer glaubt, erwiesen, daß durch das Verhalten des Beklagten die Klägerin in ihrer Berufsausbildung um wenigstens ein Jahr zurückgeworfen worden ist. In einem Jahr hätte die Klägerin mindestens die 5.000,- DM netto verdient, die sie als Verdienstausfall geltend macht, auch unter Berücksichtigung anderweitiger Zuwendungen. Auch hier folgt im übrigen die Kammer den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen ....
3)
Aus diesem auch insoweit die Kammer überzeugenden gutachtlichen Ausführungen ergibt sich auch, daß die Klägerin mit dem Zukunftsschaden geltend macht, den sie noch nicht beziffernden so daß auch der letzte Klageantrag begründet ist, wobei der Klageantrag gemäß § 133 BGB wie in Tenorgeschehen, zu formulieren war.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 710 ZPO.
Streitwertbeschluss:
Streitwert: 18.000,- DM.