Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 11.10.2023, Az.: 1 B 290/23

Bewohner; gegenwärtige Gefahr; Wohnungsinhaber; Wohnungswegweisung; Wohnungswegweisung richtet sich gegen Bewohner der Wohnung

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
11.10.2023
Aktenzeichen
1 B 290/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 39360
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2023:1011.1B290.23.00

[Grunde]

Der sinngemäß gestellte Antrag des Antragstellers vom 10.10.2023,

die aufschiebende Wirkung der Klage (1 A 289/23) gegen die am 02.10.2023 von der Antragsgegnerin verfügten Wohnungswegweisung und Anordnung eines Betretens- und Aufenthaltsverbot anzuordnen,

hat Erfolg.

Der nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO statthafte Antrag ist begründet. Die im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung geht zu Lasten der Antragsgegnerin aus. Denn die noch bis zum 12.10.2023 um 12 Uhr geltende Wohnungswegweisung ist bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich rechtswidrig.

Rechtsgrundlage für die Wohnungswegweisung und das angeordnete Betretens- und Aufenthaltsverbot ist § 17a Abs. 1 Satz 1 NPOG. Danach kann die Polizei eine Person für die Dauer von höchstens 14 Tagen aus der von ihr bewohnten Wohnung verweisen und ihr das Betreten der Wohnung und den Aufenthalt in einem bestimmten Umkreis der Wohnung untersagen, wenn dies erforderlich ist, um eine von dieser Person ausgehende gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben, Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung von einer in derselben Wohnung wohnenden Person abzuwehren.

Hier fehlt es jedenfalls nach dem Vortrag des Antragstellers bereits am Tatbestandsmerkmal der eigenen Wohnung, das objektiv und - anders als die Gefahr - nicht aus der ex-ante-Sicht zu bestimmen ist. Der Begriff der "von ihr bewohnten Wohnung" i.S.d. § 17a Abs. 1 NPOG ist nicht anders zu verstehen als der der Wohnung i.S.d. Art. 13 Abs. 1 GG, der die Unverletzlichkeit der Wohnung schützt. Wohnung in diesem Sinn sind alle zu privaten Wohnzwecken gewidmeten Räumlichkeiten, in denen der Mensch das Recht hat, in Ruhe gelassen zu werden (BVerfG, Beschl. v. 05.05.1987 - 1 BVR 1113/85 -, BVerfGE 75, 318 (328)). Träger des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 GG ist jede natürliche Person, die den tatsächlichen Besitz der Räumlichkeiten hat. Maßgeblich ist, ob die Person eine Rechtsstellung hat, die ein Mindestmaß an Privatheit in den Räumen garantiert (Kluckert, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, 56. Ed., Stand 15.08.2023, Art. 13 GG Rn. 4, m.w.N.).

Nach diesem Maßstab war der Antragsteller zum Erlass der streitgegenständlichen Verfügung nach eigenem Vortrag nicht mehr Bewohner der Wohnung, die die Beigeladene und die gemeinsamen Kinder bewohnen und aus der er weggewiesen worden ist. Der Antragsteller trägt selbst vor, sich von seiner Ehefrau getrennt zu haben und die früher gemeinsame Wohnung verlassen zu haben; er habe seit dem 01.10.2023 eine eigene Wohnung. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Antragsteller zu der Wohnung der Beigeladenen (und früheren gemeinsamen Wohnung) nach Angaben der Antragstellerin noch einen Schlüssel hatte und er sich absprachegemäß zur Betreuung der Söhne dort jedenfalls bis zum Bezug der eigenen Wohnung in A-Stadt aufhalten konnte. Es ist nicht erkennbar, dass er befugt war, die Wohnung außerhalb der Absprachen mit der Beigeladenen zu nutzen. Der Umstand, dass er dies aber doch getan hat, indem er sich im früheren gemeinsamen Schlafzimmer zur Ruhe legte, verstieß offensichtlich gegen die Vereinbarung mit der Beigeladenen, auf die sich der Antragsteller in seiner eidesstattlichen Versicherung bezieht.

Soweit der Antragsteller sich gegenüber den eingesetzten Polizeibeamten als Wohnungsinhaber geriert hat, könnte dies allenfalls Auswirkungen auf die gerichtliche Kostenentscheidung haben. Dies kann aber dahingestellt bleiben, weil die Maßnahme auch aus anderen Gründen rechtswidrig ist. Auch aus ex-ante-Sicht bestand keine gegenwärtige Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der Beigeladenen. Die Polizeibeamten stellten fest, dass der Antragsteller die Beigeladene am Arm gegriffen hatte, als diese versuchte, ihm das Handy wegzunehmen, und ihr damit Schmerzen bereitet hatte. Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller nochmals übergriffig werden würde und die Beigeladene in ihrer körperlichen Unversehrtheit beeinträchtigen würde, liegen zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht vor. Dabei bewertet die Kammer, dass die körperliche Beeinträchtigung durch den festgestellten Griff, der ohne Spuren geblieben war, geringfügig war und der Antragsteller selbst die Polizei gerufen hatte.

Aber selbst wenn eine gegenwärtige Gefahr zu bejahen gewesen wäre, hält die Kammer die Wegweisung für 10 Tage in Anbetracht der geringfügigen Verletzung der Beigeladenen für unverhältnismäßig.

Die Wohnungsverweisung kann auch nicht in eine Platzverweisung aus einer Privatwohnung umgedeutet werden. Diese Maßnahme hat nicht nur andere Tatbestandsvoraussetzungen als die Wohnungsverweisung, sie erfordert außerdem die Ausübung des eingeräumten Ermessens. Wird - wie hier - eine Maßnahme ausdrücklich auf § 17a Abs. 1 NPOG gestützt, so ist nicht davon auszugehen, dass sich der Anordnende Gedanken über die genannten Alternativen gemacht hat und insoweit Ermessen ausüben wollte (vgl. Urteil d. Kammer vom 24.02.2012 - 1 A 69/10 -, juris). Hinzu kommt, dass eine Platzverweisung gem. § 17 Abs. 2 NPOG nur "vorübergehend" ausgesprochen werden darf; sie berührt nach allgemeiner Meinung das Grundrecht auf Freizügigkeit nicht, weil das von Art. 11 GG geschützte Verhalten von einer gewissen Dauer sein muss. Dabei dürfte die Grenze regelmäßig etwa bei 24 Stunden liegen (ebd.); diese Grenze wäre hier weit überschritten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung erfolgt gem. §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i. V. m. den Empfehlungen in Ziff. 35.4 und 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Eine Halbierung des Werts ist im hiesigen Eilverfahren nicht angezeigt, weil sich die zugrundeliegende Maßnahme kurzfristig erledigt und die Entscheidung im Eilverfahren somit einer Entscheidung über die Hauptsache gleichkommt.