Oberlandesgericht Braunschweig
Urt. v. 16.06.2005, Az.: 8 U 47/04

Gefährdung von Grundstücken durch in der Kriegszeit errichtete Luftschutzstollen; Pflicht der Bundesrepublik Deutschland zur dauerhaften Sicherung von Luftschutzstollen; Notwendigkeit einer öffentlich-rechtlichen Entwidmung von Luftschutzstollen; Voraussetzungen für die Entstehung eines Abwehranspruches aus § 1004 BGB in Verbindung mit dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz (AKG); Verschiebung des Beginns der Anmeldefrist des § 28 Abs. 1 S. 1 AKG

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
16.06.2005
Aktenzeichen
8 U 47/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 35883
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:2005:0616.8U47.04.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Braunschweig - 28.01.2004 - AZ: 1 O 1139/02
nachfolgend
BGH - 07.04.2006 - AZ: V ZR 144/05

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Gemäß § 28 AKG hätten Abwehransprüche in Bezug auf die Beseitigung der Gefahren, die von einem im zweiten Weltkrieg genutzten Luftschutzstollen ausgehen, spätestens bis zum 31. Dezember 1959 angemeldet werden müssen.

  2. 2.

    Die Frage, ob sich der Beginn der Anmeldefrist des § 28 Abs. 1 S. 1 AKG auf den Zeitpunkt des Eintritts einer unmittelbaren Gefahr für Leib oder Gesundheit verschiebt mit der Folge, dass Abwehr- und Beseitigungsansprüche gemäß § 1004 BGB gegen die Bundesrepublik Deutschland auch noch nach dem 31.12.1959 angemeldet werden können, hat grundsätzliche Bedeutung.

  3. 3.

    Ein Stollen, der im zweiten Weltkrieg als Luftschutzstollen verwendet und nach Kriegsende erkennbar offiziell nicht mehr benötigt wurde, ist schon allein aufgrund des Kriegsendes entwidmet worden.

In dem Rechtsstreit
hat der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig
durch
die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht sowie
die Richter am Oberlandesgericht und
auf die mündliche Verhandlung vom 26. Mai 2005
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 28. Januar 2004 - 1 O 1139/02 - wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsrechtszuges.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Klägerin wird nachgelassen, die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung eines Betrages in Höhe von 110% des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe

1

I.

Die Parteien streiten um die Feststellung der Pflicht zur dauerhaften Sicherung von Luftschutzstollen, die während des zweiten Weltkrieges im Stadtgebiet der Klägerin errichtet wurden. Streitgegenstand sind solche Stollen, die sich unter im Eigentum der Klägerin stehenden Grundstücken befinden und zumindest teilweise einsturzgefährdet sind, wobei das Ausmaß dieser Gefährdung zwischen den Parteien streitig ist.

2

Wegen des Sach- und Streitstandes erster Instanz und der dort gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (LGU Seite 2 bis 4 = Bl. 156 - 158 d.A.) Bezug genommen.

3

Das Landgericht hat die Feststellungsklage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, mögliche Ansprüche der Klägerin seien mit Ende des Krieges entstanden und hätten nach § 28 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) spätestens bis zum 31. Dezember 1959 angemeldet werden müssen, was - unstreitig - unterblieben sei.

4

Gegen dieses ihr am 10. Februar 2004 zugestellte (Bl. 164 d.A.) Urteil hat die Klägerin mit dem am 8. März 2004 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt (Bl. 168 d.A.), die sie mit weiterem Schriftsatz vom 18. Mai 2004 begründet hat. Die Berufungsbegründungsschrift ist nach zweimaliger, zuletzt bis zum 19. Mai 2004 gewährter Fristverlängerung (Bl. 174, 177 d.A.) am 19. Mai 2004 beim Berufungsgericht eingegangen.

5

Die Klägerin verfolgt ihr zuletzt geltend gemachtes Feststellungsbegehren weiter. Sie greift unter Aufrechterhaltung ihres erstinstanzlichen Vorbringens die Rechtsanwendung des Landgerichts, insbesondere dessen Auslegung des § 28 AKG an. Sie ist weiterhin der Auffassung, ihr Anspruch auf Beseitigung der Einsturzgefahren sei erst entstanden, als auch die Erfüllung dieses Anspruchs mit dem Entstehen der Erforderlichkeit der Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für Leib oder Gesundheit habe verlangt werden können. Diese Gefahr sei erst so spät eingetreten, dass die Anmeldefrist durch ihre Schreiben vom 2. November 2000 und 29. Januar 2001 gewahrt worden sei. Das Landgericht habe zudem bei der Annahme, die Duldungspflicht der Klägerin sei mit Kriegsende entfallen, übersehen, dass hierfür die öffentlich-rechtliche Entwidmung erforderlich sei. Das Landgericht habe ferner übersehen, dass das AKG die zu erfüllenden Ansprüche "modifiziere". In der "Modifikation" des § 19 Abs. 2 Nr. 1 AKG hätten die Beseitigungsansprüche aber nicht innerhalb der Jahresfrist nach Inkrafttreten des AKG angemeldet werden können, sondern erst zu dem Zeitpunkt, zu dem die Erforderlichkeit zur Abwehr der Gefahrenlage eingetreten sei. Folge man ihrer - der klägerischen - Auslegung, so gelte auch ab Entstehung der Gefahrenlage die Anmeldefrist, so dass von der unbegrenzten Durchsetzbarkeit, die das Landgericht herangezogen habe, um der klägerischen Auslegung entgegenzutreten, keine Rede sein könne. Dem Sinn und Zweck des AKG sei auch nicht die vom Landgericht beigemessene starre zeitliche Grenze zu entnehmen. Das ergebe sich u.a. aus der Möglichkeit der Anmeldung auch bei unzuständigen Stellen sowie der Einräumung der sogenannten Nachsicht. Dem Landgericht seien im Rahmen seiner Urteilsausführungen auch Zirkelschlüsse unterlaufen. Seine Auslegung würde im Übrigen dazu geführt haben, dass eine unsinnige Flut prophylaktischer Anträge provoziert worden wäre, was nicht der Sinn des AKG gewesen sein könne. Die Konzeption des AKG sehe schließlich selbst die Möglichkeit des späteren Entstehens von Ansprüchen vor.

6

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 28. Januar 2004 - 1 O 1139/02 - abzuändern und festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, die Gefahren zu beseitigen, die von den im Gebiet der Klägerin befindlichen, unterirdischen, ehemaligen Luftschutzanlagen "Hamberg", "Kappenhöhe", "Windmühlenberg", "Ziesberg", "Laubberg", "Felsenkeller", "Steinkuhle", "Friedhof Engerode", "Waldring" und "Fachhochschule Calbrecht" ausgehen oder ausgehen werden, soweit von diesen Gefahren im Eigentum der Klägerin stehende Grundstücke betroffen sind.

7

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

8

Sie verteidigt das angefochtene Urteil und tritt seiner Begründung bei.

9

Die Akten des Rechtsstreits der WAG gegen die Bundesrepublik Deutschland - LG Braunschweig 2 O 1641/02 - lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

10

II.

Die statthafte und zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte und begründete Berufung hat keinen Erfolg.

11

1.

Gegen das Urteil des Landgerichts Braunschweig gibt es nichts zu erinnern. Der Senat tritt seiner sorgfältigen und überzeugenden Begründung, auf die zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen Bezug genommen wird, nach eigener kritischer Überprüfung bei.

12

2.

Das Urteil des Landgerichts hält den Angriffen der Berufung stand.

13

a.)

Soweit die Berufung rügt, das Landgericht habe das Entstehen des Abwehranspruchs aus § 1004 BGB an das Kriegsende geknüpft mit der Begründung, die Duldungspflicht sei mit der Zweckbestimmung "Luftschutz" entfallen, wobei das Landgericht aber übersehen habe, dass dafür eine Entwidmung notwendig gewesen sei, greift das nicht durch.

14

aa.)

Es ist bereits nicht erkennbar und nicht vorgetragen, inwieweit die Stollen nicht nur lediglich als Luftschutzstollen errichtet und in Betrieb genommen, sondern auch als Luftschutzanlagen öffentlich-rechtlich gewidmet worden sind.

15

bb.)

Unabhängig davon ist die Frage der Entwidmung für das Entstehen bzw. die Fälligkeit des streitgegenständlichen Abwehranspruchs unerheblich. Der Feststellungsanspruch ist nicht auf die Beseitigung der Stollen als solche gerichtet, sondern auf Beseitigung der von ihnen ausgehenden Gefahren. Selbst wenn die Zweckbestimmung "Luftschutz" ohne Entwidmung über das Kriegsende hinaus fortbestanden haben sollte, so führte das allenfalls zu der Pflicht, das Vorhandensein der Stollen unter den Grundstücken zu dulden, nicht aber die von ihnen ausgehenden Gefahren. Ein - durch das später in Kraft getretene Allgemeine Kriegsfolgengesetz wieder erloschener - Abwehranspruch aus § 1004 BGB bestand damit spätestens, seit im Jahre 1946 wegen Einsturzgefahr erste Sicherungsmaßnahme erforderlich geworden sind (vgl. Schreiben der Klägerin vom 28.06.1946, Anlage B23 Bl. 195 Anlagenband [AB]).

16

cc.)

Abgesehen davon ist nicht ersichtlich und nicht vorgetragen, dass einer der streitgegenständlichen Stollen erst nach dem Inkrafttreten des AKG verschlossen worden wäre. Insoweit ist davon auszugehen, dass die Stollen zuvor konkludent entwidmet worden sind (vgl. BGHZ 40, 18, 20) [BGH 19.06.1963 - V ZR 226/62].

17

dd.)

Von einer konkludenten bzw. entbehrlichen Entwidmung ist aber auch mit dem Landgericht schon allein aufgrund des Kriegsendes auszugehen. Dass ab 1943 statt "ordnungsgemäßer" Luftschutzbunker gemäß der "Bestimmungen für den Bau von LS-Bunkern - Fassung 1941" nunmehr "Luftschutzstollen in vereinfachter Ausführung" errichtet wurden (vgl. Anlage K24, Bl. 41 AB), erfolgte gerade unter dem Eindruck des Krieges im Hinblick auf die durch die Kriegswende eingetretene Verknappung an Ressourcen sowie den gestiegenen Zeitdruck infolge der Zunahme der Bombardierungen durch die Alliierten. Diese Zweckbestimmung - schnellere und vereinfachte Schaffung von Luftschutzräumen unter dem Eindruck des fortschreitenden Krieges - entfiel für die Stollen mit Kriegsende ganz offensichtlich, ohne dass es deshalb noch eines ausdrücklichen Entwidmungsaktes bedurft hätte (vgl. auch das o.g. Schr. der Klägerin vom 28.06.1946, B23 = Bl. 209 ff. AB, in welchem die Frage der Aufrechterhaltung einer etwaigen Widmung für den Luftschutz nicht einmal problematisiert wird). Dass die Luftschutzanlagen im Gebiet der Klägerin und damit auch die Stollen für den Luftschutz auch erkennbar offiziell nicht mehr benötigt wurden, zeigt sich schon darin, dass im Gebiet der Beklagten sogar für Luftschutzbunker der Rückbau schon im Jahre 1949 verfügt worden war (vgl. Schreiben der Klägerin vom 25.07.1949 an den Präsidenten des Niedersächsischen Verwaltungsbezirkes Braunschweig zur Unterrichtung über den Stand der Entfestigungsarbeiten der Luftschutzbunker, Bl. 213 AB).

18

b.)

Der Ansicht der Klägerin, das AKG "modifiziere" in § 19 Abs. 2 Nr. 1 den Abwehranspruch aus § 1004 BGB dahingehend, dass die Erforderlichkeit der Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für Leib oder Gesundheit als eine Voraussetzung des Entstehens des Anspruchs i.S.v. § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AKG anzusehen sei, weil vorliegend diese Gefahr so spät eingetreten sei, dass eine Anmeldung nicht einmal innerhalb der Nachsichtfrist bis zum 31.12.1959 habe erfolgen können, ist nicht zu folgen. Ihre Begründung beruht auf der Hypothese der "Modifikation", die im AKG keine Stütze findet, sowie auf einem Zirkelschluss, die Gefahr i.S.v. § 19 Abs. 2 Nr. 1 AKG müsse deshalb eine den Beginn der Anmeldefrist gem. § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AKG hinausschiebende Anspruchsentstehungsvoraussetzung sein, weil anderenfalls eine rechtzeitige Anmeldung nicht mehr möglich sei. Die Klägerin argumentiert insoweit nur aus Sicht des von ihr angestrebten Ergebnisses. Das widerspricht dem Wortlaut und der Systematik des Gesetzes. Der Anspruch aus § 1004 BGB setzt für seine Entstehung nicht voraus, dass die Störung, gegen die er gerichtet ist, eine Gefahr für Leib oder Gesundheit darstellt. Ein derartiger Anspruch ist nach dem Wortlaut und der Systematik des AKG mit Inkrafttreten des AKG grundsätzlich erloschen, § 1 Abs. 1 AKG, soweit er nicht ausnahmsweise aufgrund gesetzlicher Bestimmungen für erfüllbar erklärt worden ist. Aufgrund von Ansprüchen, die in dieser Weise ausnahmsweise erfüllbar sind, können nur Leistungen verlangt werden, wenn sie nach § 28 AKG rechtzeitig angemeldet werden, § 26 AKG. Die Klägerin übersieht also, dass nach dem AKG Abwehransprüche nach § 1004 BGB, deren Erfüllung nicht bis spätestens vor Ablauf der Nachsichtfrist (31.12.1959) zur Abwendung einer Gefahr für Leib und Gesundheit erforderlich geworden ist, nach § 1 Abs. 1 AKG erloschen (nicht: "nicht entstanden") sind. Tritt die Gefahr für Leib und Gesundheit erst später auf, so führt das zu keinem "Wiederaufleben" des bereits erloschenen Anspruchs. Es gibt in diesen Fällen keinen Anspruch mehr, zu dem die Gefahrenlage i.S.v. § 19 Abs. 2 Nr. 1 AKG noch hinzutreten könnte, um den Anspruch ausnahmsweise noch erfüllbar werden zu lassen. Insoweit ist das Landgericht daher auch keinem Zirkelschluss unterlegen, wie die Berufung meint, indem es für die Möglichkeit der Anmeldung nach §§ 26ff. AKG auf das Vorliegen der Gefahrenlage abgestellt hat. Seine - zutreffende - Auslegung barg auch nicht die Gefahr einer ungewollten "prophylaktischen Antragsflut" im Hinblick auf die Ungewissheit, ob irgendwann die Gefahrenlage i.S.v. § 19 Abs. 2 Nr. 1 AKG eintreten werde. Denn eine "prophylaktische Anmeldung" wäre sinnlos gewesen, weil nach der gesetzlichen Regelung spätestens nach Ablauf der Nachfrist der Abwehranspruch, zu dem die vorgenannte Gefahrenlage hätte hinzutreten können und müssen, um den Anspruch vom zwingenden Erlöschen nach § 1 Abs. 1 AKG auszunehmen, bereits erloschen war.

19

c.)

Das Landgericht hat zutreffend anhand der Materialien der Gesetzgebung des AKG dargelegt, dass die zeitliche Begrenzung der Durchsetzbarkeit der Ansprüche im vorstehenden Sinne vom Gesetzgeber beabsichtigt ist. Auf Seite 6 bis 8 des angefochtenen Urteils (Bl. 160-162 d.A.) wird Bezug genommen. Soweit die Berufung dagegen einwendet, auch bei ihrer Auslegung gelte ab Entstehung der Gefahrenlage die Anmeldefrist, so dass von der unbegrenzten Durchsetzbarkeit, die das Landgericht herangezogen habe, um der klägerischen Auslegung entgegenzutreten, keine Rede sein könne, ist das nicht schlüssig. Es geht nicht darum, dass in beiden hier streitenden Auslegungen die Anmeldefrist, indes mit unterschiedlichem Beginn, zu beachten ist. Entscheidend ist vielmehr - wie das Landgericht zutreffend ausführt (LGU S. 6, letzter Absatz = Bl. 160 d.A.) -, dass die Auslegung der Klägerin für sämtliche Störungen, gegen die sich ein Abwehranspruch richtet, rechtlich die Möglichkeit eines zeitlich unbegrenzten Schwebezustandes in sich birgt, der, bezogen auf den ungewissen Beginn der Anmeldefrist, eben auch zu einer zeitlich unbegrenzten Durchsetzbarkeit des Abwehranspruchs führt. Der Schwebezustand bestünde darin, dass die Störung in unabsehbarer Zeit die Intensität einer Gefahr für Leib oder Gesundheit erreichen könnte und vor allem darin, dass sich dies bis dahin nie ausschließen ließe. Der Umstand, dass dann, wenn irgendwann einmal die qualifizierte Gefahrenlage eintreten sollte, die Anmeldefrist zu laufen begönne, änderte an dem aufgezeigten Schwebezustand für alle anderen Fälle eines Abwehranspruchs mit (vorläufig) "einfacher" Störungsauswirkung nichts. Denn für eine unabsehbare Zahl und jeweils unbestimmte Dauer hätte die Beklagte mit einer Einstandspflicht rechnen müssen, ohne sich effektiv darauf einstellen zu können. Dies war nach dem aus den Gesetzesmaterialien und dem Wortlaut wie der Systematik erkennbaren Zweck des Gesetzes, der grundsätzlichen Schaffung einer breiten definierten zeitlichen Anspruchsbegrenzung, nicht gewollt.

20

d.)

Den Regelungen des § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, Satz 3 und Abs. 2 AKG stehen dem nicht entgegen.

21

aa.)

Dass die Anmeldung auch bei einer unzuständigen Stelle fristwahrend bzw. auch nachsichtfristwahrend erfolgen konnte, kann nicht als Argument dafür herangezogen werden, der Gesetzgeber habe keine klare Grenze für die Durchsetzbarkeit entstandener und nach dem Gesetz erfüllbarer Ansprüche ziehen wollen. § 28 Abs. 2 Satz 2 AKG bestimmt vielmehr kategorisch, dass nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist an gerechnet (die gem. § 112 AKG am 01.01.1958 begann und am 31.12.1958 endete), Nachsichtgewährung nicht mehr beantragt werden konnte. Das bedeutet, dass seit Ablauf des 31.12.1959 bei überhaupt keiner - zuständigen wie unzuständigen - Dienststelle irgendwelche zuvor entstandenen Ansprüche mehr geltend gemacht werden konnten, und zwar unabhängig davon, ob das unverschuldete Anmeldehindernis weiter vorlag bzw. vorliegt oder nicht. Wenn also dieser zeitliche Einschnitt sogar für Ansprüche gilt, deren Entstehungs- und Erfüllbarkeitsvoraussetzungen bei Inkrafttreten des AKG bzw. spätestens bis zum 31.12.1959 alle vorlagen, so muss nach dem Gesetzeszweck diese zeitliche Begrenzung erst Recht für Ansprüche gelten, die bereits vor dem 31.12.1959 entstanden sind, deren Erfüllbarkeitsvoraussetzungen aber nicht bis zum 31.12.1959 vorgelegen haben. Ob das nicht rechtzeitige Vorliegen dieser Erfüllbarkeitsvoraussetzungen - hier die Gefahrenlage nach § 19 Abs. 2 Nr. 1 AKG - vom Anspruchsteller zu vertreten ist oder nicht, ist unerheblich. Denn nach § 28 Abs. 2 AKG endete auch die Möglichkeit der Nachsicht mit dem 31.12.1959, ohne dass es darauf ankam, ob der Anspruchsteller unverschuldet länger als zwei Jahre nach Inkrafttreten des AKG daran gehindert gewesen ist, seinen Anspruch anzumelden.

22

bb.)

Aus der Regelung des § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AKG, wonach die Anmeldefrist bei Ansprüchen, die erst nach dem Inkrafttreten des AKG entstehen, erst mit deren Entstehen beginnt, folgt gerade, dass in allen übrigen Fällen die strenge zeitliche Ausschlussgrenze (31.12.1958 bzw. 31.12.1959) gilt. Sie erfasst also auch diejenigen Fälle, in denen eine Erfüllbarkeitsvoraussetzung (nicht: Entstehungsvoraussetzung) erst nach dieser zeitlichen Grenze eintritt. Aus der Ausnahmeregel des § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AKG, welche den Beginn der Anmeldefrist bei nachträglich entstandenen Ansprüchen an das Entstehen knüpft, kann nicht geschlossen werden, dass es sich bei dem Merkmal des Erfordernisses der Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für Leib oder Gesundheit in § 19 Abs. 2 Nr. 1 AKG nicht nur um ein Kriterium zur Ausnahme vom grundsätzlichen Erlöschen des Anspruchs, sondern um eine Entstehungsvoraussetzung eines insoweit "modifizierten" Abwehranspruches aus § 1004 BGB handelt. Dabei kann hier dahinstehen, ob mit dem Begriff des "Entstehens" in § 28 Abs. 2 Nr. 1 AKG auch die Fälligkeit des Anspruchs gemeint ist (vgl. Berufungserwiderung S. 4 = Bl 200 d.A. m.w.N.w aus der Literatur), da der Abwehranspruch der Klägerin vorliegend seit Kriegsende auch fällig war (s.o.). Entscheidend gegen die Auslegung der Klägerin spricht, dass sie denjenigen, der einen vor der gesetzlichen Grenze des AKG entstandenen Abwehranspruch nach § 1004 BGB ohne besondere Gefahrenlage i.S.v. § 19 Abs. 2 Nr. 1 AKG hat, bei dem aber für ihn erkennbar ist, dass nicht auszuschließen oder sogar wahrscheinlich ist, dass - wenn er nichts unternimmt - die "einfache" Gefahrenlage in eine unmittelbare Gefahr für Leib oder Gesundheit umschlagen kann, gegenüber demjenigen privilegiert, bei dessen vor der Zeitgrenze des AKG entstandenen Anspruch eine solche Gefahrenlage sogar schon vor dem 31.12.1959 bestand, er aber unverschuldet die Umstände seines Anspruchs und/oder die Gefahrenlage überhaupt erst danach, sei es z.B. im Jahre 1961, 1974 oder 2000, erkannt hat. Es würde dem gesetzlichen Zweck der Anspruchsbegrenzung sowie der gewollt harten Form der Nachsichtregelung § 28 Abs. 2 AKG zuwiderlaufen, würde der Anspruchsteller im erstgenannten Fall gegenüber dem im letztgenannten bevorzugt. Auch deshalb kann das Erfüllbarkeitsmerkmal des § 19 Abs. 2 Nr. 1 AKG nicht mit einem nachträglichen "Entstehen" des Anspruchs i.S.v. § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. AKG gleichgesetzt werden.

23

Die Berufung ist demnach zurückzuweisen.

24

III.

1.

Die Kosten waren der Klägerin aufzuerlegen, da ihre Berufung erfolglos geblieben ist, § 97 Abs. 1 ZPO.

25

2.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO i .V. m. § 709 Satz 1 ZPO analog.

26

3.

Die Revision war zuzulassen, da die Sache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) und - davon unabhängig - die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).

27

a.)

Eine Sache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt (BGH, Beschl. v. 28.04.2004 - IV ZR 144/03 = VersR 2005, 140f.;Beschl. v. 27.03.2003 - V ZR 291/02 = NJW 2003, 1943, 1944 [BGH 27.03.2003 - V ZR 291/02];Beschl. v. 01.10.2002 - XI ZR 71/02 = NJW 2003, 65, 67) [BGH 01.10.2002 - XI ZR 71/02]. Betrifft die Rechtsfrage dabei auslaufendes Recht, ist für ihre grundsätzliche Bedeutung weiter erforderlich, dass sie gleichwohl für die Zukunft richtungsweisend sein kann, weil entweder noch über eine erhebliche Anzahl von Fällen nach altem Recht zu entscheiden ist oder - hier nicht einschlägig - die Frage für das neue Recht weiterhin von Bedeutung ist(Beschl. v. 27.03.2003 - V ZR 291/02 = NJW 2003, 1943, 1944) [BGH 27.03.2003 - V ZR 291/02].

28

Diese Voraussetzungen liegen hier vor:

29

aa.)

Entscheidungserheblich, klärungsbedürftig und klärungsfähig ist die Frage, ob sich der Beginn der Anmeldefrist des § 28 Abs. 1 Satz 1 AKG (und gleichzeitig mit entsprechender Verzögerung von einem Jahr der Beginn der Nachsichtfrist des § 28 Abs. 2 AKG) auf den Zeitpunkt des Eintritts des Erfordernisses zur Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für Leib oder Gesundheit i.S.v. § 19 Abs. 2 Nr. 1 AKG verschiebt mit der Folge, dass Abwehr- und Beseitigungsansprüche gemäß § 1004 BGB gegen die Bundesrepublik Deutschland auch noch nach dem 31.12.1959 angemeldet werden können, sobald - wann auch immer - die von der Störung ausgehende Gefahr das Ausmaß einer unmittelbaren Gefahr für Leib oder Gesundheit erreicht.

30

bb.)

Zwar handelt es sich bei dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz (AKG), das nach wie vor gilt, insoweit um auslaufendes Recht, als es nach seinen Vorschriften zu beurteilende Fälle irgendwann nicht mehr geben wird. Gleichwohl ist die hier entscheidungserhebliche und zu klärende Rechtsfrage für eine Vielzahl weiterer Fälle entscheidungserheblich und klärungsbedürftig. Nach Berichten der örtlichen Presse sind noch die Grundstücke von über 40 Privateigentümern in gleicher Weise durch in der Kriegszeit errichtete Luftschutzstollen, die zumindest inzwischen teilweise einsturzgefährdet sind, betroffen ("Braunschweiger Zeitung" vom 02.03.2005, S. 3 = Hülle Bl. 210 d.A.). Mit der Rückforderung der verauslagten Kosten von mehr als 1 Mio. Euro für die Sicherung der Stollen von den Privateigentümern wartet die Stadt , die hiesige Klägerin, den Ausgang des vorliegenden Verfahrens im Hinblick auf die Frage der Einhaltung der Anmeldefrist nach dem AKG ab (a.a.O., S. 1 und 3 = Hülle Bl. 210 d.A.). Darüber hinaus ist bereits mindestens ein weiterer (vgl. u. lit. b ) Parallelrechtsstreit beim Landgericht Braunschweig - 2 O 1641/02 - anhängig. Darin begehrt die WAG ebenfalls - entsprechend dem vorliegenden Verfahren - die Feststellung, dass die dortige Beklagte, ebenfalls die Bundesrepublik Deutschland, zur Beseitigung der von den unter den Grundstücken der dortigen Klägerin befindlichen Luftschutzstollen ausgehenden Gefahren verpflichtet ist. Auch in jenem Verfahren ist die o. g. Rechtsfrage entscheidungserheblich und klärungsbedürftig. Mit Einverständnis der dortigen Parteien wird in dem Rechtsstreit vor der 2. Zivilkammer des Landgerichts Braunschweig - 2 O 1641/02 - der Ausgang des vorliegenden Verfahrens abgewartet (Beschluss des LG Braunschweig vom 24.06.2004, Bl. 199/200 der Beiakte).

31

b.)

Die Zulassung der Revision zur Fortbildung des Rechts setzt voraus, dass der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder formellen Rechts aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen, was weiter erfordert, dass es für die rechtliche Beurteilung typischer oder verallgemeinerungsfähiger Lebenssachverhalte an einer richtungsweisenden Orientierungshilfe ganz oder teilweise fehlt (BGH, Beschl. v. 27.03.2003 - V ZR 291/02 = NJW 2003, 1943, 1945 [BGH 27.03.2003 - V ZR 291/02];Beschl. v. 04.07.2002 - V ZB 16/02, betr. die Zulassung der Rechtsbeschwerde).

32

Das ist hier der Fall. Wie vorstehend unter a.) ausgeführt, liegt dem vorliegenden Rechtsstreit ein typischer bzw. verallgemeinerungsfähiger Lebenssachverhalt zu Grunde. Eine obergerichtliche oder gar höchstrichterliche Entscheidung als richtungsweisende Orientierungshilfe für die rechtliche Beurteilung eines derartigen Lebenssachverhaltes liegt bislang nicht vor. Lediglich das Landgericht Braunschweig hat in einem vor einer anderen Kammer verhandelten Fall entschieden, dass mit einer im Jahre 1974 entstandene Gefahrenlage i.S.v. § 19 Abs. 2 Nr. 1 AKG die Anmeldefrist von einem Jahr ebenfalls erst 1974 zu laufen begonnen habe, indes ohne dies näher zu begründen, was auch nicht erforderlich gewesen ist, weil im dortigen Fall auch eine etwa 1974 begonnene Anmeldefrist nicht eingehalten worden war (LG Braunschweig, Urt. v. 20.02.2002 - 12 O 3189/01, US. 4, n. v. ).