Landgericht Hildesheim
Beschl. v. 05.06.2008, Az.: 23 StVK 319/08

Anrechnung; Anschlussvollstreckung; Aussetzungsreife; Bewährung; Entscheidungskompetenz; Entscheidungszuständigkeit; Entziehungsanstalt; Erstverbüßer; Freiheitsstrafe; Gesamtfreiheitsstrafe; Halbstrafenzeitpunkt; Hälfteverbüßung; Maßregelvollstreckung; Strafaussetzung; Strafrestaussetzung; Strafvollstreckungskammer; Unterbringung; Vollstreckungsreihenfolge; Vollstreckungszeit; Zweidrittelzeitpunkt

Bibliographie

Gericht
LG Hildesheim
Datum
05.06.2008
Aktenzeichen
23 StVK 319/08
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 55061
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Strafvollstreckungskammer ist berechtigt, festzustellen, wie die Vollstreckung einer Maßregel auf mehrere - in demselben Urteil verhängte - Gesamtfreiheitsstrafen angerechnet wird.

2. Diese Anrechnung hat so zu erfolgen, daß die Aussetzungsreife aller Gesamtfreiheitsstrafen möglichst früh erreicht wird.

Tenor:

1. Es wird festgestellt, daß durch die Vollstreckung der im dem Urteil des Landgerichts vom 7. April 2004 angeordneten Maßregel die in demselben Urteil verhängten Gesamtfreiheitsstrafen wie folgt anteilig erledigt sind:

a) 281 Tage der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren (Vollstreckung der Maßregel in der Zeit vom 25. Juli 2005 bis zum 1. Mai 2006)

b) sechs Monate der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr (Vollstreckung der Maßregel in der Zeit vom 25. Januar 2005 bis einschließlich 24. Juli 2005)

2. Die nicht erledigten, jeweils hälftigen, Reste der Gesamtfreiheitsstrafen aus dem Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 7. April 2004 werden zur Bewährung ausgesetzt.

3. ..

Gründe

I.

1

Der Verurteilte trank seit seinem 12. Lebensjahr regelmäßig, auch im Übermaß, Alkohol. Er ist unter anderem wie folgt verurteilt worden:

2

Das Schöffengericht fand ihn mit Urteil vom 9. Juli 1998 der fahrlässigen Brandstiftung schuldig und verurteilte ihn unter Einbeziehung anderer Strafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten, die es zunächst zur Bewährung aussetzte.

3

Am 7. April 2004 verurteilte die kleine Strafkammer den Verurteilten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, in einem Fall tateinheitlich mit Beleidigung unter Einbeziehung der Geldstrafe aus einem weiteren Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe zu zwei Jahren und wegen Raubes in Tateinheit mit Körperverletzung unter Einbeziehung der Geldstrafe aus einem Strafbefehl zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und ordnete seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an.

4

Der erstmals im Strafvollzug befindliche Verurteilte verbüßte in der Folgezeit bis zum 25. Januar 2005 die Hälfe der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Schöffengerichts. Seitdem ist er in einer Entziehungsanstalt untergebracht, zunächst aufgrund des vorgenannten Urteils der kleinen Strafkammer. Der Vollstreckungsrechtpfleger der Staatsanwaltschaft verfügte in dieser Zeit, daß der Maßregelvollzug zunächst auf die einjährige Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil der kleinen Strafkammer bis zum 2/3-Termin anzurechnen sei, danach auf die zweijährige Gesamtfreiheitsstrafe.

5

Durch am gleichen Tage rechtskräftig gewordenes Urteil einer anderen kleinen Strafkammer vom 2. Mai 2006 ist unter anderem erneut die Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden; deren Fortdauer hat die beschließende Kammer zwischenzeitlich mehrfach angeordnet.

6

Am heutigen Tag hat die beschließende Kammer nach Anhörung des Verurteilten die weitere Vollstreckung der Unterbringung aus dem Urteil vom 2. Mai 2006 und die Vollstreckung der noch nicht durch Anrechnung der Unterbringung erledigten Strafreste aus diesem Urteil und dem Urteil des Schöffengerichts vom 9. Juli 1998 zur Bewährung ausgesetzt.

II.

7

1. In diesem Verfahren hat die Kammer nicht mehr über die Aussetzung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu entscheiden. Die im Urteil der kleinen Strafkammer 2004 angeordnete Unterbringung ist erledigt, weil die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt in dem späteren Urteil (2006) der anderen kleinen Strafkammer erneut angeordnet worden ist (§ 67f StGB).

8

2. Die Kammer ist berechtigt und verpflichtet, festzustellen, welche Teile der im Urteil der kleinen Strafkammer aus dem Jahr 2004 gegen den Verurteilten verhängten Gesamtfreiheitsstrafen nach Maßgabe des § 67 Abs. 4 StGB durch die in demselben Urteil angeordnete und bis zu ihrer vorgenannten Erledigung vollstreckte Unterbringung in einer Maßregel erledigt sind.

9

a) Wie und durch wen die durch § 67 Abs. 4 StGB angeordnete Anrechnung der Unterbringung auf die in demselben Urteil verhängte Strafe zu erfolgen hat, wenn in diesem Urteil nicht nur eine (Gesamt-)Freiheitsstrafe verhängt worden ist, ist gesetzlich nicht geregelt. Auch in der Strafvollstreckungsordnung findet sich hierzu keine konkrete Regelung.

10

Grundsätzlich dürfte dies - wie auch sonst die Berechnung von Straf- und Unterbringungszeiten - Aufgabe der Staatsanwaltschaft als Strafvollstreckungsbehörde sein (vgl. OLG Stuttgart, MdR 1985, 70f.) und hier durch die Verfügung des Vollstreckungsrechtspflegers aus dem Jahr 2005 erfolgt sein.

11

Entgegen der in der vorgenannten Entscheidung vertretenen Auffassung ist aber nach einer Kammerentscheidung des BVerfG vom 2. Mai 1988, NStZ 1988, 474) in der obergerichtlichen Rechtsprechung inzwischen anerkannt, daß die Strafvollstreckungskammer berechtigt ist, den frühestmöglichen Aussetzungszeitpunkt bei Anschlußvollstreckung mehrerer Freiheitsstrafen durch nachträgliche Verrechnung einer bereits zurückgelegten Vollstreckungszeit auf eine andere Strafe herzustellen (sogenannte nachträgliche Umstellung der Vollstreckungsreihenfolge, grundlegend OLG Celle, NdsRpfl 1989, 259ff.; Hans. OLG Hamburg, MdR 1994, 934f.; OLG Zweibrücken, StV 1998, 670f., KG, Beschl. v. 11.12.2001, 5 Ws 725-728/01, juris). Das gilt insbesondere dann, wenn ansonsten ein Verurteilter trotz erfolgreicher Abhängigkeitsbehandlung in einer Entziehungsanstalt in den Strafvollzug verlegt werden müßte (vgl. OLG Celle, a. a. O.).

12

b) Bliebe es bei der durch den Vollstreckungsrechtspfleger verfügten Anrechnung, hätte der Verurteilte zwar durch den Maßregelvollzug schon 2/3 der einjährigen Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil der kleinen Strafkammer verbüßt, bei weitem aber nicht die Hälfte der zweijährigen Gesamtfreiheitsstrafe aus diesem Urteil, sondern nur etwa siebeneinhalb Monate.

13

Durch die in der Beschlußformel durch die Kammer festgestellte Anrechnung ist (nur) die Hälfte der einjährigen Gesamtfreiheitsstrafe durch Anrechnung verbüßt, aber dementsprechend auch fast die Hälfte (281 Tage zuzüglich die aufgrund der Teilzahlung der einbezogenen Geldstrafe anzurechnenden 11 Tage, insgesamt circa neuneinhalb Monate). Die dann noch nach Maßgabe des § 67 Abs. 5 StGB bis zur Aussetzungsfähigkeit des nicht erledigten hälftigen Strafrests auch dieser Gesamtfreiheitsstrafe verbleibenden 73 Tage beabsichtigt die Staatsanwaltschaft Hildesheim im Falle einer positiven Entscheidung der Kammer dem Verurteilten im Gnadenwege zu erlassen beziehungsweise für erledigt zu erklären, weil der Verurteilte ansonsten dafür büßen müßte, daß er in dem Nachverfahren vor der anderen kleinen Strafkammer auf Rechtsmittel verzichtet hat und sich der Gesetzgeber - anders als bei einer mehrfach angeordneten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus - mit § 67f StGB dafür entschieden hat, daß bei erneuter Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt die vorher angeordnete Unterbringung erledigt ist. Hätte der Verurteilte in jenem Verfahren Revision eingelegt, wäre bis zu einer, wohl kaum in weniger als 3 Monaten möglichen, Entscheidung des Revisionsgerichts die zuvor angeordnete Unterbringung aus dem Urteil der kleinen Strafkammer aus dem Jahr 2004 weiter vollstreckt worden, so daß ein entsprechend höherer Anteil der Gesamtfreiheitsstrafe(n) aus diesem Urteil durch Anrechnung des Maßregelvollzugs erledigt gewesen wäre.

14

Aus der in dem Urteil der anderen kleinen Strafkammer verhängten Freiheitsstrafe ist ohnehin schon seit über fünfzehn Monaten nur noch das nicht durch den Maßregelvollzug erledigbare Restdrittel offen.

15

Den ohne die in der Beschlußformel getroffene Feststellung der Kammer verbleibenden höheren Strafrest von 135 Tagen würde die Staatsanwaltschaft im Gnadenwege eher nicht erlassen, so daß der Verurteilte dann trotz erfolgreicher Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, Arbeitsplatz und fester sozialer Bindungen in den Strafvollzug verlegt werden müßte.

16

c) Es ist der Kammer hingegen verwehrt, über die in der Beschlußformel hinaus vorgenommene Teil-Anrechung der beiden Gesamtfreiheitsstrafen auf die in demselben Urteil der kleinen Strafkammer angeordnete Unterbringung hinaus, den dennoch bis zum Halbstrafentermin verbleibenden vorgenannten Strafrest von 73 Tagen durch Anrechnung der im Urteil der anderen kleinen Strafkammer erneut angeordneten Unterbringung für erledigt zu erklären.

17

Dies sprengte die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 67 Abs. 4 StGB ist nur eine Anrechnung der Unterbringung auf die Freiheitstrafe(n) möglich, die in demselben Urteil verhängt worden ist. Eine Anrechnung einer in einem anderen Urteil verhängten Freiheitsstrafe ist der Strafvollstreckungskammer verwehrt; der Verurteilte ist insoweit auf eine Entscheidung der Vollstreckungsbehörde zu verweisen (vgl. § 44b StrVollstrO, Beschl. d. OLG Celle v. 22.01.2007, 1 Ws 28/07).

18

d) Soweit für den dargestellten Eingriff der Strafvollstreckungskammer in die Vollstreckungsreihenfolge nach der zitierten obergerichtlichen Rechtsprechung ein Fehler der Vollstreckungsbehörde erforderlich ist (so ausdrücklich OLG Celle, Nds. Rpfl. 1989, 259ff., Hans.OLG Hamburg a. a. O.), ist auch dieser zu bejahen:

19

Der Vollstreckungsrechtspfleger hat in seiner Verfügung offenbar die die Anschlußvollstreckung mehrerer Strafen im Strafvollzug geltende Regelung des § 43 Abs. 1 StVollstrO i. V. m. § 454b Abs. 1 StPO Abs. 2 Nr. 2 StPO, § 43 Abs. 2 Nr. 1 StVollstrO zu Grunde gelegt. Da aber die Aussetzung eines Strafrests nach Vollstreckung einer in demselben Urteil angeordneten Maßregel stets bereits dann möglich ist, wenn die Hälfte der Strafe durch Anrechnung der Unterbringung erledigt ist (§ 67 Abs. 5 StGB), kann es in dem - gesetzlich nicht geregelten - Fall der Anrechenbarkeit der Unterbringung auf mehrere in demselben Urteil verhängte Gesamtfreiheitsstrafen nicht richtig sein, zunächst die Unterbringung nur auf eine dieser Gesamtfreiheitsstrafen bis zu deren 2/3-Termin anzurechnen und erst dann auf die nächste Gesamtfreiheitsstrafe.

20

Damit würde die Anwendung der Regelung des § 67 Abs. 5 StGB im Falle einer erfolgreichen Entziehungstherapie erschwert. Wie schon in der vorgenannten Entscheidung des OLG Celle aufgeführt wird und durch die letztjährige Neufassung des § 67 (Abs. 2 S. 3) StGB besonders deutlich wird, soll nach einer erfolgreichen stationären Unterbringung die Entlassung des Therapierten in die Freiheit erfolgen. Es muß daher - wie es nach Maßgabe des § 454 Abs. 2 Nr. 1 StPO bei Erstverbüßern mit unter zweijährigen Freiheitsstrafen durch entsprechend frühere Vollstreckungsunterbrechung erfolgt - die Anrechnung der Unterbringung auf mehrere Gesamtfreiheitsstrafen in der Weise erfolgen, daß nach Erreichen des Halbstrafentermins in einer der Gesamtfreiheitsstrafen die weitere Unterbringung auf die zweite Gesamtfreiheitsstrafe angerechnet wird.

21

In diesem Fall kommt noch hinzu, daß sich der Verurteilte erstmals im Vollzug befand, weswegen auch die Vollstreckung der von ihm vor der Unterbringung angetretenen Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Schöffengerichts zum Halbstrafentermin unterbrochen wurde. Da sich durch den Wechsel der Vollzugsform - ohne zwischenzeitliche Entlassung - an dem Status als Erstverbüßer nichts ändern kann, hätte auch deswegen die Anrechnung der Unterbringung auf die beiden, jeweils zwei Jahre nicht übersteigenden, Gesamtfreiheitsstrafen aus dem Urteil der kleinen Strafkammer jeweils zur Hälfte erfolgen müssen. Es ist inzwischen überwiegend anerkannt, daß Erstverbüßer mit dem Privileg der §§ 57 Abs. 2 Nr. 1, 454 Abs. 2 Nr. 1 StPO auch derjenige ist, der nacheinander mehrere Strafen zu verbüßen hat, von denen keine zwei Jahre übersteigt (vgl. OLG Celle, StV 1990, 271; OLG Braunschweig, Beschl. v. 6. April 2005, Ws 91-94/05, juris; Fischer, StGB, 55. Auflage, Rn. 25 zu § 57 StGB).

22

3. Nachdem die Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt mit heutigem Beschluß zur Bewährung ausgesetzt werden konnte, konnte nach Maßgabe der vorgenannten Berechnungen auch die jeweils hälftigen Reste der beiden Gesamtfreiheitsstrafen aus dem Urteil der kleinen Strafkammer zur Bewährung ausgesetzt werden.

23

Die Voraussetzungen des § 57 StGB liegen vor ( wird ausgeführt ).