Landgericht Hildesheim
Beschl. v. 24.04.2008, Az.: 23 StVK 184/08
2 abgeordnete Richter; abgeordneter Richter; Abgrenzung; Allgemeinheit; altes Recht; Besetzung; bezirksinterne Abordnung; externe Begutachtung; externer Sachverständiger; fortbestehende Gefährlichkeit; Gesetzesänderung; Gutachteneinholung; irreversibel hirngeschädigter Untergebrachter; irreversible Hirnschädigung; Kammerentscheidung; Landgerichtsbezirk; Maßregelvollstreckung; Mitwirkung; neues Recht; Neuregelung; Planrichter; psychiatrisches Krankenhaus; Richter am Amtsgericht; Strafvollstreckungskammer; Verfahrensfehler; Verfahrensmangel; völlige Unzweifelhaftigkeit
Bibliographie
- Gericht
- LG Hildesheim
- Datum
- 24.04.2008
- Aktenzeichen
- 23 StVK 184/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 55052
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 78b GVG
- § 29 DRiG
- § 463 Abs 4 StPO
- UnterbrSiG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. An Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer kann - auch ohne besonderen Bedarf - mehr als ein abgeordneter Richter mitwirken, sofern er bei einem Gericht im Landgerichtsbezirk planmäßig angestellt ist.
2. Auch bei einem irreversibel hirngeschädigten Untergebrachten ist jedenfalls dann nach § 463 Abs. 4 StPO in der Fassung des Gesetzes zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhauses und in einer Entziehungsanstalt ein externes Gutachten zu seiner fortbestehenden Gefährlichkeit einzuholen, wenn seine fortbestehende Gefährlichkeit für die Allgemeinheit nicht völlig unzweifelhaft ist (Fortführung OLG Oldenburg, Nds. Rpfl. 2008, 22f.).
Tenor:
Es wird das schriftliche Gutachten eines Sachverständigen zu der Frage eingeholt, ob es unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, den Untergebrachten aus dem Maßregelvollzug bedingt zu entlassen und die weitere Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung auszusetzen oder ob die durch die Taten des Untergebrachten in den Jahren 2000 und 2001 zu Tage getretene Gefährlichkeit fortbesteht. Der Sachverständige soll sich insbesondere zu der Frage äußern, ob im Falle einer bedingten Entlassung mit einschlägigen Taten von Gewicht zu rechnen ist.
Gründe
I.
Der Untergebrachte leidet seit der Injektion unbekannter Substanzen im anschließendem Koma und sauerstoffmangelbedingter Unterversorgung des Gehirns an einem hirnorganischen Psychosyndrom und einem cerebralen Anfallsleiden. Durch Urteil vom 1. November 2001 wurde seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, nachdem er - schuldunfähig - zweimal Brände gelegt hatte.
Die beschließende Kammer hat zuletzt am 27. April 2007 die Fortdauer der Unterbringung angeordnet. Veränderungen am Zustand des Untergebrachten sind wegen der irrevisiblen hirnorganischen Schädigung in Verbindung mit einer fortschreitenden Hirnatrophie nicht zu erwarten. Versuche, ihn in einem geschlossenen Heim unterzubringen und unter dieser Maßgabe die Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung zu ermöglichen, sind bisher gescheitert. Im Frühjahr 2006 attackierte der Untergebrachte ohne ersichtlichen Grund eine Pflegekraft eines solchen Heims, in dem er sich zum Probewohnen befand. Die Pflegkraft erlitt einen angebrochenen Kiefer.
Vor einer erneuten Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung (§ 67e StGB) hat die Kammer - besetzt mit einem Richter am Landgericht als Vertreter des erkrankten Vorsitzenden und zweier an das Landgericht abgeordneter Richter am Amtsgericht - die Begutachtung des Verurteilten zur Frage des Fortbestehens seiner Gefährlichkeit durch einen externen Sachverständigen angeordnet.
II.
1. An der Entscheidung der Kammer können trotz der Regelung des § 29 DRiG zwei zu dem Landgericht Hildesheim abgeordnete Richter(innen) am Amtsgericht Hildesheim mitwirken. Nach § 78b Abs. 2 GVG werden die Mitglieder der Strafvollstreckungskammer vom Präsidium des Landgerichts aus der Zahl der Mitglieder des Landgerichts und der in seinem Bezirk angestellten Richtern beim Amtsgericht bestellt.
Die bezirksinterne Abordnung eines Richters am Amtsgericht zum Landgericht oder einem anderen Amtsgericht in demselben Landgerichtsbezirk steht daher seiner Mitwirkung an Entscheidungen der Strafvollstreckskammer in der Besetzung mit drei Richtern unter Einschluß des Vorsitzenden (§ 78b Abs. 1 Nr. 1 GVG) nicht entgegen. Die mit der Regelung des § 29 DRiG verfolgte Sicherstellung der möglichst umfassenden richterlichen Unabhängigkeit der an einer kollegialgerichtlichen Entscheidung mitwirkenden Berufsrichter, die ihre planmäßige Anstellung an dem Gericht, an dessen Entscheidung sie mitwirken, voraussetzt (vgl. BVerfG, DtZ 1996, 175f. NJW 1998, 1053f.; BGHZ 130, 304ff.), ist ohnehin bei einer bezirksinternen Abordnung vom Amtsgericht zum Landgericht jedenfalls dann nicht gefährdet, wenn - wie hier - primäres Ziel der Abordnung nicht die Erprobung für eine Beförderungsstelle ist, sondern eine Versetzung im Eingangsamt und/oder der vorübergehende Ausgleich personeller Vakanzen bei einem Gericht desselben Landgerichtsbezirks. Ein bezirksintern abgeordneter Richter kann auch im Falle der (vorzeitigen) Beendigung seiner Abordnung Mitglied der Strafvollstreckungskammer seines Bezirks bleiben.
Es ist wegen § 78b Abs. 2 GVG - anders als nach der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung bei der von 1993 bis 1998 geltenden Fassung des § 29 DRiG, die die Mitwirkung von zwei nichtplanmäßigen Richtern an einer kollegialgerichtlichen Entscheidung gestattete - auch keine Begründung für die Mitwirkung von zwei Richtern am Amtsgericht an Entscheidung der Strafvollstreckungskammer erforderlich. § 78b Abs. 2 GVG will gerade den Einsatz sowohl von Richtern des Landgerichts wie von Richtern beim Amtsgericht in der Strafvollstreckungskammer ermöglichen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl., Rn. 9 zu § 78b GVG). Hingegen bleibt es - mangels diesbezüglich abweichenden Regelungsgehalts des § 78b GVG - für die Strafvollstreckungskammer insoweit bei der Regelung des § 29 DRiG, als an ihrer Entscheidung nicht mehr als ein Richter auf Probe mitwirken dürfte.
2. Ein Ausnahmefall, in dem die Kammer nach Maßgabe des § 463 Abs. 4 StPO in der Fassung des Gesetzes zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhauses vom 16. Juli 2007 (BGBl. I, 1327) von der Anordnung der externen Begutachtung des seit seiner Aufnahme in den Maßregelvollzug vor nunmehr mehr als sieben Jahren noch nie extern begutachteten Untergebrachten absehen könnte, liegt im Ergebnis nicht vor.
Allerdings ist die Kammer nach der Aktenlage und des persönlichen Eindrucks von dem Untergerbachten bei vergangenen Anhörungsterminen davon überzeugt, daß die sachverständige Einschätzung des Landeskrankenhauses zutrifft, daß es aufgrund der irreversiblen Hirnschädigung des Untergebrachten zu keinen gravierenden Veränderungen seines Zustands kommen wird.
Damit steht aber noch nicht fest, daß auch seine in den 2000/2001 begangenen Taten zu Tage getretene Gefährlichkeit fortbesteht. Hierfür spricht zwar mit erheblichem Gewicht der dargestellte Vorfall aus dem Frühjahr 2006. Die Kammer kann aber nicht aufgrund dieses Vorfalls die fortbestehende Gefährlichkeit des Untergebrachten ohne Beteiligung eines externen Sachverständigen bejahen:
Mit der Neuregelung des § 463 Abs. 4 StPO wollte der Gesetzgeber die Begutachtung langjährig Untergebrachter durch externe Sachverständige, die mit der Behandlung der Untergebrachten nicht befaßt waren, zur Regel werden lassen; im Gesetzgebungsverfahren war sogar zunächst eine zwingende Regelung beabsichtigt („hat anzuordnen“). Die letztlich eingeführte Soll-Regelung soll nach den Gesetzgebungsmaterialien (BT-DRs 16/5137; S. 11f.) ein Absehen von der externen Begutachtung ermöglichen, wenn anderweitig - etwa aufgrund des jeweiligen MRVollzG - bereits neuere externe Gefährlichkeitsgutachten vorliegen oder die Entlassung des Untergebrachten zeitnah beabsichtigt ist (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluß v. 30.01.2008, 2 Ws 14/08, juris). Der Gesetzgeber wollte also gerade nicht der Strafvollstreckungskammer das Absehen von der externen Begutachtung ermöglichen, wenn aufgrund zeitnaher deliktischer Vorfälle im Maßregelvollzug das Fortbestehen der Gefährlichkeit des Untergebrachten nahe liegt.
Inwieweit etwas anderes gilt, wenn die weitere Gefährlichkeit des Untergebrachten für die Allgemeinheit völlig unzweifelhaft ist (so OLG Oldenburg, Nds. Rpfl. 2008, 22f.) läßt die Kammer offen. Völlig unzweifelhaft ist aufgrund des - der Kammer nur aus den Schilderungen des Landeskrankenhauses bekannten - einen Vorfalls vor zwei Jahren die fortbestehende Gefährlichkeit des Untergebrachten für die Allgemeinheit nicht.