Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 24.09.2024, Az.: 4 B 3126/24

Aussetzung der Abschiebung; Beendigung des legalen Aufenthaltes; Einstellung des Asylverfahrens; Gnandi; illegaler Aufenthalt; legaler Aufenthalt; Nichterscheinen zur Anhörung; Rückführungsrichtlinie; Rückkehrentscheidung; Übertragbarkeit der Gnandi-Rechtsprechung; Anwendung der Gnandi-Rechtsprechung auf Fälle des § 33 Abs. 1 AsylG

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
24.09.2024
Aktenzeichen
4 B 3126/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 23761
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2024:0924.4B3126.24.00

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 23. Juli 2024 gegen die in Ziff. 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 15. Juli 2024 verfügte Abschiebungsandrohung wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Der zulässige Antrag der Antragstellerin,

die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid vom 15. Juli 2024 anzuordnen,

ist begründet.

Die Voraussetzungen für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO liegen vor.

Nach dieser Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs ganz oder teilweise anordnen, wenn seine aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 bzw. Satz 2 VwGO kraft Gesetzes entfällt, was hier der Fall ist. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat abzuwägen zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsandrohung und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Dabei sind nach § 36 Abs. 4 AsylG ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes erforderlich. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält. Geringe Zweifel reichen nicht aus. Maßgeblich ist das Gewicht der Faktoren, die Anlass zu Zweifeln geben (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.05.1996 - 2 BvR 1516/93 -, juris).

Nach diesem Maßstab bestehen unter Zugrundelegung der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen derzeitigen Sach- und Rechtslage ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung. Letztere stellt sich aller Voraussicht nach als rechtwidrig dar, sodass das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin überwiegt.

Die Entscheidung über die Abschiebungsandrohung in Ziff. 3 des streitgegenständlichen Bescheides entspricht sehr wahrscheinlich nicht den unionsrechtlichen Anforderungen (vgl. dazu EuGH, Urt. v. 19.06.2018 - C-181/16 [Gnandi] und Beschl. v. 05.07.2018 - C-269/18 PPU [C, J, S] -, jeweils juris; BVerwG, Urt. v. 20.02.2020 - 1 C 19/19 -, juris). Danach steht die Verbindung der ablehnenden Entscheidung über einen Asylantrag mit einer Rückkehrentscheidung in Gestalt einer Abschiebungsandrohung nur dann mit den Maßgaben der Rückführungs-RL 2008/115/EG (im Folgenden Rückführungs-RL) in Einklang, wenn gewährleistet ist, dass der Ausländer ein Bleiberecht bis zur Entscheidung über den maßgeblichen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrages hat und dieser Rechtsbehelf seine volle Wirksamkeit entfaltet. Dies ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Fall, wenn "das Bundesamt (...) die Vollziehung der Abschiebungsandrohung einschließlich des Laufes der vom Gesetzgeber vorgegebenen Ausreisefristen von Amts wegen nach § 80 Abs. 4 VwGO aussetzt" (etwa BVerwG, Urt. v. 20.02.2020 - 1 C 19/19 -, juris). Eine solche Verfügung nach § 80 Abs. 4 VwGO hat das Bundesamt der Antragsgegnerin vorliegend aber nicht erlassen.

Die vorbezeichneten Maßgaben gelten nicht nur für den Fall einer ablehnenden Asylentscheidung, sondern auch für denjenigen einer Einstellung des Asylverfahrens nach § 33 Abs. 1 AsylG (dies auch annehmend: VG Berlin, Beschl. v. 03.02.2021 - 38 L 542/20 A -, Rn. 19, juris). Ebenso wie in dem der vorbezeichneten Gnandi-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes zugrundeliegenden Fall, geht es vorliegend um eine "Rückkehrentscheidung", nämlich um eine behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird (vgl. EuGH, Urt. v. 19.06.2018 - C-181/16 [Gnandi], Rn. 36, juris). Die Wirkung der streitgegenständlichen Einstellungsentscheidung (verbunden mit der Feststellung, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen) entspricht demnach derjenigen einer ablehnenden Asylentscheidung. Der Europäische Gerichtshof hatte sich in der vorzitierten Entscheidung ausdrücklich auf Art. 6 Abs. 6 der Rückführungs-RL bezogen (vgl. EuGH, Urt. v. 19.06.2018 - C-181/16 [Gnandi], Rn. 60, juris). Dieser Bestimmt, dass durch diese Richtlinie die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert werden sollen, entsprechend ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unbeschadet der nach Kapitel III und nach anderen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechtes und des einzelstaatlichen Rechtes verfügbaren Verfahrensgarantien mit einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthaltes sowie eine Rückkehrentscheidung und/oder eine Entscheidung über eine Abschiebung und/oder ein Einreiseverbot zu erlassen. Es geht also allgemein um die Frage der Verknüpfung einer Rückkehrentscheidung mit derjenigen über die Beendigung eines legalen Aufenthaltes. Bei einem Einstellungsbescheid nach § 33 Abs. 1 AsylG handelt es sich - ebenso wie bei einer ablehnenden Entscheidung über einen Asylantrag - um eine Entscheidung, welche den legalen Aufenthalt beendet.

Auch ist die Schutzwürdigkeit im vorliegenden Fall nicht geringer. Denn in einer ablehnenden Entscheidung wird sich seitens des Bundesamtes sogar mit der jeweiligen - nicht als ausrechend bewerteten - Verfolgungsgeschichte auseinandergesetzt. In den Fällen des § 33 Abs. 1 AsylG hat jedoch noch keine Auseinandersetzung mit dieser stattgefunden. Zwar könnte man meinen, dass die Ausländerin/der Ausländer in den letztgenannten Fällen durch das Nichterscheinen bei der Anhörung ein Indiz geliefert habe, dass die Verfolgungsangst nicht vorhanden sein könnte. Allerdings ist diese Sichtweise abzulehnen, da es in diesen Fällen häufig in Streit steht, ob die Ausländerin/der Ausländer die Ladung erhalten hat.

Die Argumentation der Antragsgegnerin, die Gnandi-Rechtsprechung beziehe sich nur auf die Verbindung einer ablehnenden Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung, nicht aber auf Einstellungen, vermag deshalb nicht zu überzeugen. Dass die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes - ebenso wie diejenige des Bundesverwaltungsgerichts - sich ausschließlich auf die Fälle einer ablehnenden Asylentscheidung beziehen, dürfte lediglich daran liegen, dass diese zu solchen Konstellationen ergangen sind (s. o.). Ebenso wenig vermag die Antragstellerin damit durchzudringen, dass sie vorträgt, bei Einstellungsbescheiden beginne die Ausreisefrist mit der Bescheidzustellung, da nach den unionsrechtlichen Vorgaben mit der Antragsrücknahme bzw. dem Nichtbetreiben des Verfahrens kein Bleiberecht mehr bestehe. Denn durch die Klageerhebung soll gerade die Frage gerichtlich geklärt werden, ob die Einstellung nach § 33 Abs. 1 AsylG rechtmäßig erfolgte, weshalb die Frage des Bestehens eines Bleiberechtes erst im laufenden Gerichtsverfahren endgültig zu klären ist.