Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 26.09.2024, Az.: 2 Ws 257/24
Feststellung der Rechtswidrigkeit der angeordneten Untersuchungshaft im Rahmen der Beschwerde des Angeschuldigten gegen den Haftfortdauerbeschluss; Unterlassung der unverzüglichen Vorführung des wegen eines bestehenden Haftbefehls vorläufig festgenommenen Beschuldigten
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 26.09.2024
- Aktenzeichen
- 2 Ws 257/24
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2024, 23229
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2024:0926.2WS257.24.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Lüneburg - 02.09.2024 - AZ: 21 KLs 10/24
Rechtsgrundlagen
- § 115 Abs. 1 StPO
- § 115a Abs. 1 StPO
Fundstelle
- StRR 2024, 3
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Die gegen §§ 115 Abs. 1 und 2, 115a Abs. 1 StPO verstoßende Vorführung des auf Grund eines bestehenden Haftbefehls vorläufig festgenommenen Beschuldigten vor das ortsnächste Amtsgericht anstelle des zuständigen Gerichts sowie die anschließende Unterlassung der vom Beschuldigten beantragten und nach § 115a Abs. 3 StPO gebotenen unverzüglichen Vorführung vor das zuständige Gericht und ihre Nachholung erst nach längerer Zeit (hier: über 2 Monate) führen nicht zwingend zur Aufhebung des Haftbefehls.
- 2.
Je nach Lage des Einzelfalls kann es bei fortbestehendem dringenden Tatverdacht, weiterhin anzunehmendem Haftgrund und Verhältnismäßigkeit im Übrigen ausreichen, die Rechtswidrigkeit der vom Beschuldigten seit der Verhaftung bis zur Nachholung der Vorführung vor das zuständige Gericht erlittenen Untersuchungshaft festzustellen und die vorausgegangenen Verfahrensverstöße durch die nachgeholte Vorführung für die Zukunft als geheilt anzusehen.
In der Strafsache
gegen A. T.
geboren am ...
derzeit: JVA C. ,
- Verteidiger: Rechtsanwalt W.
wegen schweren Raubes
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft durch die Richter am Oberlandesgericht xxx und xxx sowie den Richter am Landgericht xxx am 26. September 2024 beschlossen:
Tenor:
- 1.)
Auf die Beschwerde des Angeschuldigten gegen den Haftfortdauerbeschluss der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Lüneburg vom 2. September 2024 wird festgestellt, dass die im vorliegenden Verfahren vom 20. Juni bis zum 1. September 2024 vollstreckte Untersuchungshaft rechtswidrig war.
- 2.)
Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet verworfen.
- 3.)
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Beschwerdeführer zu tragen. Die Gebühr für das Beschwerdeverfahren wird um 1/2 ermäßigt; die dem Beschwerdeführer im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen hat zu 1/2 die Staatskasse zu tragen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Celle erließ am 20. August 2012 (Az.: 17 Gs 450/12) gegen den Angeschuldigten einen auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützten Untersuchungshaftbefehl, da dieser dringend verdächtig sei, einen schweren Raub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung begangen zu haben.
Konkret wird dem Angeschuldigten zur Last gelegt, am 23. August 2011 gegen 10:20 Uhr gemeinschaftlich handelnd mit den gesondert Verfolgten S. und K. das Juweliergeschäft der Zeugin H: in der W. Straße in C. überfallen zu haben. Der gesondert Verfolgte S. soll von hinten an die Zeugin herangetreten, deren rechte Schulter erfasst, eine ungeladene Schreckschusspistole der Marke ..., Modell ..., Kaliber 9 mm P.A.K. auf den Kopf der Zeugin gerichtet und diese zu Boden gestoßen haben. Im Anschluss soll er sich neben die am Boden liegende Zeugin gekniet und sie mit der auf ihren Kopf gerichteten Waffe mehrmals gefragt haben, ob sie leben wolle. Sodann soll er die Zeugin auf den Rücken gedreht und ihr einen Faustschlag gegen ihr linkes Auge versetzt haben, wodurch die Zeugin ein schmerzhaftes Hämatom, eine Nasenbeinfraktur sowie eine Fraktur der linken Augenhöhle erlitt. Im Anschluss sollen die gesondert Verfolgten K. und S. die Beine, den Kopf und die Handgelenke der Zeugin mit Klebeband umwickelt haben, wobei der Zeugin anschließend zwei Tritte gegen den rechten Rippenbogen zugefügt wurden. Währenddessen und danach sollen der Angeschuldigte sowie seine beiden Begleiter ausweislich des Haftbefehls aus dem Verkaufsraum sowie aus dem Tresor der Zeugin Schmuckstücke im Werte von insgesamt 202.415 € sowie Bargeld im Werte von etwa 1.600 € genommen, den Schmuck und das Bargeld verpackt, die Zeugin in dem Werkstattraum ihres Geschäfts eingesperrt und das Geschäft verlassen haben, um den Schmuck und das Bargeld für sich zu verwenden.
Der o.g. Haftbefehl konnte zunächst nicht vollstreckt werden, da sich der Angeschuldigte in Polen zur Verbüßung der durch die Entscheidungen der Amtsgerichte Bialystok, Elblag und Olsztyn gegen ihn verhängten Freiheitsstrafen von 9 Jahren und 8 Monaten, 2 Jahren und 6 Monaten sowie 6 Jahren jahrelang in Strafhaft befand. Auf den in dieser Sache zum Zwecke seiner Auslieferung an Deutschland ergangenen Europäischen Haftbefehl hatte das Bezirksgericht Olsztyn (Az.: II Kop 161/12) mit Beschluss vom 6. Dezember 2012 die Auslieferung zwar für zulässig erklärt, jedoch zugleich den Aufschub seiner Überstellung an die deutschen Justizbehörden bis zur Vollstreckung der in Polen gegen ihn verhängten Freiheitsstrafen angeordnet.
Die Überstellung erfolgte daher erst am 20. Juni 2024, in deren Rahmen der Angeschuldigte von den polnischen Behörden an der deutsch-polnischen Grenzübergangstelle P. gegen 12.00 Uhr an die Bundespolizei übergeben wurde. Nach seiner anschließenden vorläufigen Festnahme führte die Polizei den Angeschuldigten jedoch nicht am selben Tage dem Amtsgericht Celle als das für den o.g. Haftbefehl vom 20. August 2012 zuständige Gericht vor, sondern dem Amtsgericht Pasewalk als dem örtlich nächstgelegenen Gericht. Im Rahmen der dortigen mündlichen Anhörung beantragte der Angeschuldigte seine unverzügliche Vorführung gem. § 115a Abs. 3 StPO vor das eigentlich zuständige Amtsgericht Celle.
Am 21. Juni 2024 erhob die Staatsanwaltschaft Lüneburg - Zweigstelle Celle gegen den Angeschuldigten Anklage wegen des Tatvorwurfs aus dem Haftbefehl zur großen Strafkammer des Landgerichts Lüneburg, wobei weder in der Anklageschrift selbst, noch in der Übersendungsverfügung ein Hinweis auf den noch unerledigten Antrag des Angeschuldigten gem. § 115a Abs. 3 StPO erfolgte.
Der Vorsitzende der zuständigen 1. großen Strafkammer verfügte am 25. Juni 2024 die Zustellung der Anklageschrift an den Angeschuldigten sowie seinen Verteidiger und bat den Verteidiger zugleich um Mitteilung freier Hauptverhandlungstermine im Zeitraum vom 1. November bis zum 20. Dezember 2024.
Mit Verfügung vom 3. Juli 2024 übersandte die Staatsanwaltschaft Lüneburg - Zweigstelle Celle dem Landgericht die Beiakten des Verfahrens 8101 Js 1498/12, die Übersetzung der Anklageschrift sowie zahlreiche Schriftstücke und wies in der Verfügung darauf hin, dass eine Vorführung des Angeschuldigten vor dem Amtsgericht Celle angesichts der Anklageerhebung unterblieben sei (Bl. 91 Band V d. A.).
Die Beiakten sowie die vorgenannte Verfügung gingen am 11. Juli 2024 (Bl. 90 Band V d. A.) beim Landgericht ein. Gleichwohl erfolgte eine Vorführung des Angeschuldigten zur Vernehmung vor die inzwischen infolge der Anklageerhebung gem. § 126 Abs. 2 StPO auch für die Haftentscheidungen zuständig gewordene 1. große Strafkammer des Landgerichts Lüneburg nicht.
Mit Beschluss vom 27. August 2024 entpflichtete die Kammer den bisherigen Pflichtverteidiger des Angeschuldigten auf dessen Wunsch und ordnete dem Angeschuldigten Rechtsanwalt W. als notwendigen Verteidiger bei.
Nachdem Akteneinsicht an den neuen Verteidiger gewährt worden war, beantragte dieser mit Schriftsatz vom 29. August 2024 unter Hinweis auf den bislang unberücksichtigt gebliebenen Antrag des Angeschuldigten dessen unverzügliche Vorführung zur Vernehmung vor dem Landgericht Lüneburg.
In dem daraufhin mit dem Angeschuldigten und seinem Verteidiger am 2. September 2024 durchgeführten Anhörungstermin beschloss die 1. große Strafkammer, den Haftbefehl des Amtsgerichts Celle vom 20. August 2012 aufrechtzuerhalten. Der vorausgegangene Verstoß gegen die aus § 115a Abs. 3 StPO folgende Pflicht zur Vorführung des Angeschuldigten vor das zuständige Gericht beruhe auf "einem bedauerlichen Versehen", sei angesichts des fehlenden Hinweises in der Abschlussverfügung der Staatsanwaltschaft nicht willkürlich erfolgt und führe unter Abwägung der Umstände des Einzelfalles, insbesondere mit Blick auf den Umstand, dass der Angeschuldigte zumindest dem gem. § 115a Abs. 1 StPO zuständigen Richter vorgeführt worden sei, nicht zur Aufhebung des Haftbefehls.
Hiergegen wendet sich der Angeschuldigte mit der durch Schriftsatz seines Verteidigers vom 4. September 2024 erhobenen Beschwerde, der die Kammer in ihrem Beschluss vom 12. September 2024 nicht abgeholfen hat.
Die Generalstaatsanwaltschaft Celle hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
Der Angeschuldigte hat hierzu rechtliches Gehör erhalten und mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 23. September 2024 erneut die Aufhebung des Haftbefehls beantragt.
II.
Die Haftbeschwerde des Angeschuldigten ist zulässig, hat jedoch nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen eingeschränkten Umfang Erfolg.
1.
Der Angeschuldigte ist der ihm mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Lüneburg-Zweigstelle Celle vom 21. Juni 2024 zur Last gelegten Tat dringend verdächtig. Insoweit nimmt der Senat zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen im Wesentlichen Ergebnis der Anklageschrift Bezug. Soweit der Angeschuldigte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 11. September 2024 den Beweiswert der Angaben der Zeugen P. und S. sowie des Gutachtens der Sachverständigen Dr. K. zum durchgeführten Fotoidentifikations-Bildvergleich in Zweifel zieht, bleibt zu konstatieren, dass diesen Beweismitteln jedenfalls bei Vornahme der gebotenen Gesamtschau die große Wahrscheinlichkeit zu entnehmen ist, dass der Angeschuldigte als Mittäter an der ihm zur Last gelegten Straftat beteiligt war.
2.
Es besteht zudem kein Zweifel daran, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht. Auch insoweit kann uneingeschränkt auf die Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung sowie auf den Haftbefehl des Amtsgerichts Celle vom 20. August 2012 Bezug genommen werden.
3.
Die Fortdauer der Untersuchungshaft erweist sich auch noch als verhältnismäßig.
Der Beschwerdeführer rügt indes zutreffend, dass nach seiner vorläufigen Festnahme am 20. Juni 2024 sein grundlegendes Recht, unverzüglich dem zuständigen Richter zur Vernehmung sowie zur Entscheidung über die Aufrechterhaltung und Vollstreckung des gegen ihn erlassenen Haftbefehls vorgeführt zu werden, wiederholt missachtet und damit einhergehend sein Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG verletzt wurde. Die eingetretenen Rechtsverletzungen ziehen unter Berücksichtigung sämtlicher Einzelfallumstände jedoch lediglich die aus dem Tenor ersichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der vom Angeschuldigten im Zeitraum vom 20. Juni bis zum 1. September 2024 erlittenen Untersuchungshaft nach sich und lassen die Rechtsmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft seit dem 2. September 2024 unberührt.
Im Einzelnen:
a)
Zu den verfassungsrechtlich garantierten strafprozessualen Mindestrechten des Beschuldigten gehört nach Art. 104 Abs. 3 S. 1 GG, dass er nach einer vorläufigen Festnahme spätestens am Folgetag einem Richter vorgeführt wird. Dieses Recht ist zugleich Bestandteil der in Art. 5 Abs. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten menschenrechtlichen Mindestgarantien des Beschuldigten in einem Strafverfahren. Gegen die einfachgesetzliche Umsetzung dieses Rechts in §§ 115, 115a StPO ist vorliegend in mehrfacher Hinsicht verstoßen worden.
Gem. § 115 Abs. 1 StPO ist der auf der Grundlage eines Haftbefehls vorläufig festgenommene Beschuldigte unverzüglich dem für die Entscheidung über die Aufrechterhaltung und die Vollziehung des Haftbefehls zuständigen Gericht vorzuführen. Nur für den Fall, dass die Vorführung vor das zuständige Gericht wegen großer Entfernung, Transportunfähigkeit des Beschuldigten, Naturkatastrophen oder aus anderen Gründen nicht spätestens am Tag nach der Festnahme möglich ist, sieht § 115a Abs. 1 StPO die unverzügliche, spätestens am Tag nach der Festnahme durchzuführende Vorführung vor das nächste Amtsgericht vor. Verlangt der Beschuldigte dort gem. § 115a Abs. 3 StPO, dem zuständigen Gericht vorgeführt zu werden, ist dem unverzüglich nachzukommen (Lind in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 115a Vorführung vor den Richter des nächsten Amtsgerichts, Rn. 26; KK-StPO/Graf, 9. Aufl. 2023, StPO § 115a Rn. 5; MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl. 2023, StPO § 115a Rn. 21; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Auflage 2024, § 115a, Rn. 3). Zwar ist eine Frist, innerhalb derer der Beschuldigte dem zuständigen Haftrichter vorgeführt wird, im Gesetz nicht vorgesehen; die Vorführung zum nächsten Amtsgericht i.S.v. § 115a Abs. 1 StPO ist jedoch nur ein Behelf. Der Beschuldigte kann sämtliche Möglichkeiten, die Freilassung zu erzielen, nur dadurch ausschöpfen, dass der zuständige Richter ihn vernimmt und entscheidet. Daher kann in allen Fällen, die nicht völlig zweifelsfrei sind, allein die unverzügliche Vorführung zum zuständigen Gericht im Sinn des Vorführungssystems liegen (Lind in: Löwe-Rosenberg a.a.O.). Vor diesem Hintergrund wird in Rechtsprechung und Literatur die Durchführung eines Einzeltransports verlangt; eine Sammelverschubung sei mit den Grundrechten des Beschuldigten aus Art. 104 Abs. 3 S. 2 GG nicht vereinbar (AG Oberhausen, Beschluss vom 18. Oktober 2019 - 27 Gs 916/19 -, juris; KK-StPO/Graf, a.a.O., § 115a, Rn. 5).
Im vorliegenden Verfahren wurden die dargelegten Vorgaben aus §§ 115 Abs. 1 und 2, 115a Abs. 1 und 3 StPO missachtet.
aa)
Das gilt bereits für die nach der Auslieferung des Angeschuldigten und seine Überstellung an die deutschen Behörden erfolgte Vorführung vor dem Amtsgericht Pasewalk als "nächstes" Amtsgericht i.S.v. § 115a Abs. 1 StPO.
Wie bereits ausgeführt, ist der Haftbefehl dem Beschuldigten gem. der genannten Vorschrift stets von dem Gericht zu verkünden, welches den Haftbefehl erlassen hat oder welches nach der Anklageerhebung mit der Sache befasst ist. Dies wäre vorliegend das Amtsgericht Celle gewesen. Denn wegen des schwerwiegenden Eingriffs in die Freiheitsrechte des Inhaftierten muss der zuständige Richter dem Beschuldigten die Möglichkeit zu umfassender Erklärung geben, um dem Gebot der mündlichen Anhörung das nötige substanzielle Gewicht zu verleihen. Die vorgeschriebene Anhörung und Vernehmung muss deswegen von dem entscheidenden Gericht persönlich vorgenommen werden und die Vorführung vor das zuständige Gericht gem. § 115 StPO hat absoluten Vorrang vor dem Verfahren nach § 115a StPO (Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 28. September 2020 - 1 Ws 290/20 -, juris; OLG Stuttgart, Beschluss vom 14. 7. 2005 - 4 HEs 59/05, NStZ 2006, 588; Wolf/Nobis/Voigt/Schlothauer in: Schlothauer/Nobis/Voigt/Wolf, Untersuchungshaft, 6. Auflage 2024, a) Subsidiarität der Vorführung nach § 115a StPO, Rn. 320).
Lediglich in Fällen, bei denen die Vernehmung des Beschuldigten durch den zuständigen Richter selbst unter Ausschöpfung sämtlicher den Ermittlungsbehörden zur Verfügung stehender technischer und personeller Möglichkeiten (Einzeltransport) nicht innerhalb der Frist des § 115 Abs. 2 StPO, d.h. bis zum nächsten Tag nach der Vorführung, erfolgen kann, ist die Vorführung und Vernehmung durch den Richter des nächsten Amtsgerichtes i.S.v. § 115a StPO ausnahmsweise gerechtfertigt (Posthoff/Faßbender in: Gercke/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 7. Auflage 2023, § 115a StPO, Rn. 1; OLG Celle, Beschluss vom 13. Mai 2005 - 1 ARs 26/05 -, juris).
Hiervon kann angesichts einer Entfernung der Amtsgerichte Pasewalk und Celle von ca. 450 km und einer Fahrtzeit mit dem Pkw von etwa 4 Stunden und 30 Minuten keine Rede sein. Anhaltspunkte, dass es nicht möglich gewesen wäre, die Vorführung des Angeschuldigten vor dem Amtsgerichts Celle nach seiner Überstellung und vorläufigen Festnahme am 20. Juni 2024 gegen 12.00 Uhr spätestens bis zum Folgetag, dem 21. Juni 2024 zu bewältigen, sind nicht aktenkundig.
bb)
Insbesondere aber verstößt die erste richterliche Vernehmung des Angeschuldigten zur Sache durch die gem. § 126 Abs. 2 StPO mit Anklageerhebung zuständig gewordene 1. große Strafkammer des Landgerichts Lüneburg am 2. September 2024 ersichtlich gegen das in § 115a Abs. 3 StPO sowie in Art. 104 Abs. 3 S. 1 GG und Art. 5 Abs. 3 EMRK verankerte Recht des Angeschuldigten auf eine unverzügliche, d.h. ohne schuldhafte Verzögerung erfolgende Vorführung vor den zuständigen Richter, nachdem er diesen Antrag anlässlich seiner mündlichen Anhörung und der Haftbefehlsverkündung am 20. Juni 2024 vor dem Amtsgericht Pasewalk angebracht hatte.
b)
Obergerichtlich ist - soweit ersichtlich - nicht entschieden, welche Auswirkungen eine nicht unverzügliche, d.h. schuldhaft verzögerte Vorführung gem. § 115a Abs. 3 StPO vor den zuständigen Richter mit Blick auf den Bestand des Haftbefehls hat. In Rechtsprechung und Literatur wird indes teilweise schon bei einer Verzögerung von einer Woche bzw. bei Durchführung der Vorführung mittels Sammel- statt Einzeltransport die sofortige Freilassung des Beschuldigten für zwingend erachtet (AG Oberhausen a.a.O.; KK-StPO/Graf a.a.O.).
c)
Demgegenüber ist in der Rechtsprechung geklärt, dass Überschreitungen der Frist aus § 118 Abs. 5 StPO, wonach eine mündliche Verhandlung bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 118 Abs. 1 StPO unverzüglich, ohne Zustimmung des Beschuldigten aber keinesfalls später als zwei Wochen nach dem Eingang des Antrags anberaumt werden darf, nicht automatisch die Aufhebung des Haftbefehls nach sich ziehen (KG Berlin, Beschluss vom 14. Oktober 2014 - 1 Ws 83/14 -, juris; OLG Köln, Beschluss vom 28. Januar 2009, 2 Ws 31/09-, juris; OLG Braunschweig, Beschluss vom 19. November 2004, Ws 271/04-, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 31.08.2005, 3 Ws 381/05, NStZ-RR 2006, 17; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 118, Rn. 4). Insoweit werden z.T. selbst im Falle einer willkürlichen Überschreitung der Frist die Instrumentarien einer Untätigkeitsbeschwerde sowie eines Befangenheitsantrages für ausreichend erachtet, den Freiheitsrechten des Beschuldigten zu genügen (OLG Hamm a.a.O.; Posthoff/Faßbender in: Gercke/Temming/Zöller, § 118 StPO, Rn. 10).
Auch im Falle einer verspäteten Vorlage der Akten beim Oberlandesgericht zur besonderen Haftprüfung gem. §§ 121, 122 StPO ist anerkannt, dass ein derartiges Fristversäumnis nicht zwangsläufig die Aufhebung des Haftbefehls nach sich zieht (BVerfG, Beschluss vom 9. März 1976 - 2 BvR 618/75 -, BVerfGE 42, 1-20; BGH, Beschluss vom 18. Mai 2022 - 3 StR 181/21 -, juris; BGH, Beschluss vom 22. Februar 2018 - AK 4/18 -, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 21. August 2007 - 3 OBL 86/07 (42) -, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 20. Januar 2003 - 2 BL 3/03 -, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 18. Mai 2000 - 3 HEs 112/00 -, juris).
Schließlich führt auch nicht jeder Verstoß gegen § 306 Abs. 2, Hs.2 StPO in einem Haftbeschwerdeverfahren schon für sich genommen zur Unverhältnismäßigkeit der Fortdauer von Untersuchungshaft; vielmehr können die Fachgerichte je nach den Umständen des Einzelfalles ohne Verfassungsverstoß zu dem Ergebnis kommen, dass der festgestellte Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot im Rahmen einer Gesamtbetrachtung noch nicht geeignet ist, den Bestand des Haftbefehls in Frage zu stellen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 23. Januar 2023 - 2 BvR 1343/22 -, juris; KG Berlin, Beschluss vom 15. März 2019 - 4 Ws 24/19 -, juris).
Der Senat verkennt nicht, dass die vorbenannten Vorschriften der §§ 118 Abs. 5, 121, 122 und 306 Abs. 2 Hs. 2 StPO - im Gegensatz zum in §§ 115 Abs. 1 und 2, 115a Abs. 1 und 3 StPO geregelten Erfordernis der unverzüglichen Vorführung eines Beschuldigten vor den zuständigen Richter nach einer Festnahme - nicht im Grundgesetz selbst verankert sind und dass in all diesen Fällen der Fristüberschreitungen in Haftsachen ein Haftbefehl zugrunde liegt, der ordnungsgemäß verkündet wurde, so dass die in Artikel 104 GG und Art. 5 Abs. 3 EMRK verankerten Rechte des Beschuldigten ursprünglich gewahrt wurden. Eine Übertragung dieser Grundsätze auf die vorliegende Konstellation, bei der bereits der ursprüngliche Haftbefehl des Amtsgerichts Celle vom 20. August 2012 (Az.: 17 Gs 450/12) nicht - wie geboten - durch den zuständigen Richter i.S.v. § 115 StPO verkündet und bei dem entgegen § 115a Abs. 3 StPO auch in der Folgezeit nicht unverzüglich die Vernehmung durch den zuständigen Richter erfolgte, erscheint daher fraglich, selbst wenn auch die Verletzung der Formvorschrift des § 118 Abs. 5 StPO stets auch eine Verletzung des Freiheitsgrundrechts bedeutet (Posthoff/Faßbender in: Gercke/Temming/Zöller, a.a.O., § 118 StPO, Rn. 8; Lind in: Löwe-Rosenberg, a.a.O., § 118 Verfahren bei der Haftprüfung, Rn. 20).
d)
Die Folgen einer Fristüberschreitung bei der Vorführung vor den zuständigen Richter gemäß § 115 Abs. 1 StPO, d.h. in Fällen, bei denen - anders als hier - eine Vorführung des festgenommenen Beschuldigten vor einen Richter überhaupt nicht fristgerecht erfolgt, nicht einmal vor das nächste Amtsgericht i.S.v. § 115a StPO, werden nicht einheitlich beurteilt.
In der Literatur wird einerseits vertreten, der Beschuldigte sei in Fällen einer (nicht geringfügigen) Fristüberschreitung des § 115 Abs. 2 StPO zwingend freizulassen (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 115, Rn. 5; Lind in: Löwe-Rosenberg a.a.O., § 115a, Rn. 10; KK-StPO/Graf, a.a.O., § 115a, Rn. 5a, Satzger/Schluckebier/Widmaier, StPO, 3. Auflage 2018, § 115, Rn. 17; Detlef Burhoff in: Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, V, Rn. 5234; Jarass/Pieroth/Jarass, 18. Aufl. 2024, Art. 104 Rn. 28; SSW-StPO/Hermann, 5. Aufl. 2023, § 115 Rn. 18; Posthoff/Faßbender in: Gercke/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 7. Auflage 2023, § 115 StPO, Rn. 9). Begründet wird dies mit der überragenden Bedeutung der Verfahrensgarantie des Art. 104 Abs. 3 GG und der Befürchtung, dass ansonsten die Vorführungsfrist eine bloße Richtlinie für Strafverfolgungsorgane ohne wirkliche Schutzwirkung für den Beschuldigten wäre.
Demgegenüber wird in der Rechtsprechung und in Teilen der Literatur andererseits angenommen, zwar könne die Verletzung der Pflicht zur unverzüglichen Vorführung und Vernehmung ein Dienstvergehen begründen (vgl. hierzu: Dienstgericht Saarbrücken, Urteil vom 4. Juni 2008 - DG 1/07 -, juris); da die Freiheitsentziehung in den Fällen des § 115 StPO aufgrund vorgängiger richterlicher Prüfung und Anordnung vorgenommen worden ist und das Fehlen des rechtlichen Gehörs durch die Vorführung und Vernehmung des Beschuldigten für die Zukunft beseitigt werden kann, also kein Vollstreckungshindernis besteht, führe eine Fristüberschreitung indes nicht automatisch zur Aufhebung des Haftbefehls. Vielmehr habe eine Abwägung im Einzelfall stattzufinden, die bei vorsätzlichen oder nicht nur geringfügigen Fristüberschreitungen allerdings regelmäßig die Aufhebung des Haftbefehls und die Freilassung des Beschuldigten nach sich ziehen müsse (BeckOK StPO/Krauß, 52. Ed. 1.7.2024, StPO § 115 Rn. 5; Graf, StPO, a.a.O., § 115, Rn. 5; KMR-StPO/Wankel/Schuster, 122. EL (Juni 2022), § 115 Rn. 17).
e)
Die dargelegten widerstreitenden Auffassungen zu Fristüberschreitungen bei § 115 StPO würden - ihre Übertragbarkeit auf die vorliegende Konstellation vorausgesetzt - zum selben Ergebnis führen. Denn die Vornahme der insoweit z. T. für erforderlich erachteten Abwägung führt im vorliegenden Fall zu einem Überwiegen der Interessen des Angeschuldigten.
aa)
Dabei hat der Senat berücksichtigt, dass der Angeschuldigte einer äußerst schwerwiegenden Gewaltstraftat dringend verdächtig ist und die Fluchtgefahr wegen der im Raum stehenden Straferwartung und der fehlenden sozialen Bindungen des Angeschuldigten in Deutschland immens ist. Zudem ist die Tatsache, dass das dem Angeschuldigten zur Last gelegte Tatgeschehen über ein Jahrzehnt zurückliegt, allein dem Umstand geschuldet, dass sich der Angeschuldigte der Strafverfolgung entzogen und wegen weiterer Straftaten in Polen Strafhaft verbüßt hat, bevor er an die deutschen Behörden ausgeliefert wurde.
Demgegenüber stellt sich jedoch die zeitliche Ausprägung des aufgezeigten Verstoßes gegen das durch Art. 104 Abs. 3 S. 1 GG und Art. 5 Abs. 3 EMRK gewährleistete Recht auf unverzügliche Vorführung vor dem zuständigen Richter als gravierend dar.
Eine nicht nur geringfügige Fristüberschreitung wird bei Verstößen gegen das Gebot aus § 115 Abs. 2 StPO, den Beschuldigten unverzüglich nach der Vorführung, spätestens am nächsten Tage, über den Gegenstand der Beschuldigung zu vernehmen, bereits bei mehr als 72 Stunden (KK-StPO/Graf, a.a.O., § 115 Rn. 5a; Lind in: Löwe-Rosenberg, a.a.O., § 115, Rn. 10; Posthoff/Faßbender in: Gercke/Temming/Zöller, a.a.O., § 115, Rn. 9) oder gar schon dann angenommen, wenn bei einer Festnahme vor 14.00 Uhr der Betroffene erst am Folgetag dem Haftrichter zur Vernehmung vorgeführt wird (MüKoStPO/Böhm, a.a.O., § 115, Rn. 26).
Im vorliegenden Fall beträgt der Zeitraum zwischen der Vorführung des Angeschuldigten vor dem eigentlich schon unzuständigen Amtsgericht Pasewalk am 20. Juni 2024 bis zur Vernehmung des Angeschuldigten durch die nach Erhebung der Anklage zuständig gewordene 1. große Strafkammer des Landgerichts Lüneburg deutlich mehr als zwei Monate. Hinzu kommt, dass der Justiz hinsichtlich der Verstöße gegen die Verfahrensbestimmungen in §§ 115 Abs. 1 und 2, 115a Abs. 1 und 3 StPO sowie die darin liegende Verletzung des Freiheitsgrundrechts des Angeschuldigten und seines Anspruchs auf rechtliches Gehör jedenfalls grobe Fahrlässigkeit anzulasten ist.
Soweit die Strafkammer meint, es handele sich "um ein bedauerliches Versehen", bleibt zu konstatieren, dass diese Formulierung dem Gewicht des Verstoßes gegen das Freiheitsgrundrecht des Angeschuldigten aus Art. 2 Abs. 2 GG und seines in Art. 104 Abs. 3 S. 1 GG garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht gerecht wird. Zudem bleibt der Einwand des Landgerichts, die Staatsanwaltschaft trage die Hauptverantwortung für die eingetretene Fristversäumung, ohne Belang. Es ist zwar zutreffend, dass weder die Verfügung des Anklageverfassers vom 21. Juni 2024 noch die Anklageschrift vom selben Tage einen Hinweis auf die bis dahin unterbliebene Vernehmung des Angeschuldigten gem. §§ 115 Abs. 1 und 2, 115a Abs. 3 StPO enthält. Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft, die mit der unverzüglichen Anklageerhebung einen Wechsel der Zuständigkeit des zuständigen Richters gem. § 115 StPO herbeiführte, ist zudem mit Blick auf das Freiheitsgrundrecht des Angeschuldigten zu beanstanden. Die Staatsanwaltschaft wäre entweder gehalten gewesen, die Vorführung des Angeschuldigten zur Vernehmung vor das Amtsgericht Celle zu veranlassen und die Anlageerhebung erst im Anschluss vorzunehmen oder die Akten noch am 21. Juni 2024 der Strafkammer zu übermitteln und dafür Sorge zu tragen, dass die Vorführung des Angeschuldigten am selben Tage ermöglicht wird. Im Rahmen der Abwägung der Umstände des Einzelfalles und des Gewichtes des Verstoßes bleibt der Umstand, dass auch die Anklagebehörde eine erhebliche Verantwortung an der gravierenden Fristüberschreitung trägt, indes ohne Bedeutung. Denn auch deren Verhalten ist der Justiz zuzurechnen.
Hinzu kommt, dass der Vorsitzende der Strafkammer bei der gebotenen, gewissenhaften Prüfung der Aktenlage nach Eingang der Anklageschrift die Erforderlichkeit der unverzüglichen Vernehmung des Angeschuldigten gem. § 115 StPO hätte erkennen können und müssen. In der Anklageschrift fehlt zwar der gem. Nr. 110 Abs. 4 S. 3 RiStBV verlangte Hinweis auf den Ablauf der in § 121 Abs. 2 StPO bezeichneten Frist; indes war der Umstand, dass sich der Angeschuldigte im vorliegenden Verfahren in Untersuchungshaft befindet, explizit erwähnt. Es oblag dem Vorsitzenden der Strafkammer mithin bereits bei Eingang der Anklage die Verpflichtung, die Frage der Dauer der Untersuchungshaft schon wegen der Frist aus §§ 121 Abs. 2 StPO besonders in den Blick zu nehmen. Das Protokoll der Vernehmung des Angeschuldigten beim Amtsgericht Pasewalk am 20. Juni 2024 mit dem darin festgehaltenen Antrag des Angeschuldigten auf unverzügliche Vorführung vor das zuständige Gericht befindet sich zudem bereits wenige Seiten vor der Anklageschrift (vgl. S. 69ff. Band V d.A.). Insbesondere aber wies die Anklagebehörde mit Verfügung vom 3. Juli 2024 - wenn auch nicht in herausgehobener Form - explizit auf den Umstand hin, dass eine Vorführung des Angeschuldigten vor dem Amtsgericht Celle mit Blick auf die Anklageerhebung unterblieben sei (Bl. 90-91 Band V d. A.). Selbst danach wurde durch die Strafkammer jedoch nicht die unverzüglich gebotene Vorführung und Vernehmung des Angeschuldigten veranlasst; erst nachdem der Verteidiger Ende August 2024 und damit viele Wochen später auf das Versäumnis hinwies, wurde der Termin vom 2. September 2024 anberaumt.
Nach alledem ist ein Fall der gravierenden Fristversäumnis gegeben, der auf grob fahrlässigem Verhalten der Justiz beruht.
bb)
Es erscheint indes bereits fraglich, ob für den hier zu beurteilenden Fall, bei dem der Angeschuldigte entgegen der Regelung des § 115 Abs. 1 StPO und ohne triftigen Grund dem unzuständigen nächsten Gericht vorgeführt und sodann nicht - wie von § 115a Abs. 3 StPO verlangt - unverzüglich, sondern erst weit mehr als zwei Monate danach dem zuständigen Richter vorgeführt wurde, die dargelegten, in der Literatur zu Fristüberschreitungen bei § 115 StPO entwickelten Grundsätze überhaupt Anwendung finden.
Hiergegen könnte sprechen, dass der Angeschuldigte in der vorliegenden Konstellation zumindest einem Richter, nämlich dem des nächst gelegenen Amtsgerichts i.S. von § 115a Abs. 1 StPO vorgeführt wurde. Dessen Entscheidungsbefugnisse sind zwar begrenzt auf einen engen Zuständigkeitsrahmen, weil er keine Aktenkenntnis hat und mit der Sache nicht vertraut ist (KK-StPO/Graf a.a.O., § 115, Rn. 4). Seine Nachprüfungskompetenz erstreckt sich zunächst auf die Frage, ob ein wirksamer Haftbefehl ergangen und nicht wieder aufgehoben ist; Begründungsmängel lassen die Wirksamkeit des Haftbefehls grundsätzlich unberührt, denn diesem Richter fehlt regelmäßig eine umfassende Aktenkenntnis (Lind in Löwe/Rosenberg, a.a.O., § 115a, Rn. 9). Ferner hat der Richter des nächsten Amtsgerichts zu prüfen, ob der Festgenommene mit der im Haftbefehl bezeichneten Person identisch ist. Gemäß § 115a Abs. 2 S. 3 StPO kann der Richter des nächsten Amtsgerichtes den Beschuldigten indes nur freilassen, wenn der Haftbefehl inzwischen aufgehoben wurde, die Staatsanwaltschaft die Aufhebung beantragt hat oder der Ergriffene nicht die im Haftbefehl bezeichnete Person ist. Ein weitergehendes Entscheidungsrecht steht ihm - abgesehen von Fällen, bei denen er sich von der krankheitsbedingten Haftunfähigkeit des Beschuldigten überzeugt hat - nicht zu. Insbesondere ist er nicht befugt, selbst den Haftbefehl aufzuheben oder außer Vollzug zu setzen (BeckOK StPO/Krauß, 52. Ed. 1.7.2024, StPO § 115a Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 115a, Rn. 5; OLG Frankfurt, Beschluss vom 23.06.1988 - 3 Ws 575/88, NStZ 1988, 471; BGH, Urteil vom 5. Dezember 1996 - 1 StR 376/96 -, BGHSt 42, 343-356; OLG München, Beschluss vom 19.04.2010 - 6 Ws 2/10, BeckRS 2010, 11328). Teilweise wird darüber hinaus allerdings in Fällen, bei denen der Tatverdacht zweifelsfrei nicht besteht und die Aufrechterhaltung des Haftbefehls daher schlechthin unvertretbar wäre, eine Kompetenz zur Aufhebung des Haftbefehls bejaht (Schröder, Freiheitsentzug entgegen richterlicher Erkenntnis? § 115 a Abs. 2 StPO und die Kompetenz des nächsten Richters, StV 2005, 241-246; Graf, StPO 4. Auflage 2021, § 115a, Rn. 4; Lind in: Löwe-Rosenberg, a.a.O.; § 115a, Rn. 20). Zudem ist der Richter i.S.v. § 115a StPO bei geltend gemachten Einwendungen des Beschuldigten, die er nicht für offensichtlich unbegründet erachtet oder wenn er sonst Bedenken gegen die Aufrechterhaltung des Haftbefehls hat gehalten, sowohl die zuständige Staatsanwaltschaft, als auch das zuständige Gericht davon zu unterrichten (BGH, Urteil vom 05.12.1996 - 1 StR 376/96, NJW 1997, 1452).
Der Senat verkennt nicht, dass die - hier wie dargelegt ohnehin ungerechtfertigte, weil offenbar aus Vereinfachungsgründen erfolgte - Vorführung des Angeschuldigten vor den Richter des unzuständigen Amtsgerichts Pasewalk nicht geeignet ist, dem in Art. 104 Abs. 2 GG verankerten Anspruch des Angeschuldigten auf Gewährung rechtlichen Gehörs zu genügen. Denn Richter i.S.v. Art. 104 Abs. 3 S. 1 GG ist nur der gesetzliche Richter gemäß Art. 92 GG und ein Richter, der seiner Verpflichtung nachkommen kann, selbst den Sachverhalt bestmöglich aufzuklären, insbes. die die Freiheitsentziehung rechtfertigenden Tatsachen, zu prüfen und sich nicht auf eine Kontrolle der Plausibilität von Seiten der Exekutive vorgetragener Tatsachen zu beschränken (Sachs/Degenhart, 9. Aufl. 2021, GG Art. 104 Rn. 21; Schulze-Fielitz in H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Bd. III, 3. Aufl. 2018, Art. 104, Rn. 39; Kung/Salinger in von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 7. Auflage 2021, Art. 104 GG, Rn. 24). Zudem wird auch der in Art. 5 Abs. 3 EMRK verankerten menschenrechtlichen Mindestgarantie gegen eine rechtswidrige Freiheitsentziehung nur dann entsprochen, wenn ein Richter, dem der Festgenommene vorgeführt wird, die Umstände, die für und gegen die Freiheitsentziehung sprechen, prüft; der Umstand, dass eine festgenommene Person Zugang zu einer gerichtlichen Instanz hat, genügt insoweit nicht (EGMR (Große Kammer), Urteil vom 29.04.1999 - 25642/94, NJW 2001, 51; EGMR (Große Kammer), Urteil vom 03.10.2006 - 543/03, NJW 2007, 3699).
cc)
Der Senat kann die Frage der Übertragbarkeit der in der Literatur vertretenen Grundsätze zu Fristüberschreitungen bei § 115 Abs. 1 und 2 StPO auf die vorliegende Konstellation im Ergebnis offenlassen. Denn die Kommentarliteratur nimmt die Frage einer Heilung des Verstoßes durch die im vorliegenden Fall am 2. September 2024 nachträglich durchgeführte Vernehmung des Angeschuldigten und seines Verteidigers und die hierzu entwickelten Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts nach Auffassung des Senates nicht hinreichend in den Bick.
Durch Art. 104 Abs. 1 GG wird die Beachtung der sich aus dem jeweiligen Gesetz ergebenden freiheitsschützenden Formen zur Verfassungspflicht erhoben (BVerfG, Beschluss vom 07.10.1981 - 2 BvR 1194/80, NJW 1982, 691). Verstöße gegen die durch Art. 104 GG gewährleisteten Voraussetzungen und Formen freiheitsbeschränkender Gesetze stellen stets auch eine Verletzung der Freiheit der Person dar (BVerfG, Beschluss vom 20.9.2001 - 2 BvR 1144/01, NStZ 2002, 157). Anders als die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs kann der Verstoß gegen das Grundrecht der persönlichen Freiheit durch Nachholung der gebotenen Vernehmung nicht mehr beseitigt werden. Verstößt der Richter gegen das Gebot vorheriger mündlicher Anhörung, so drückt dieses Unterlassen der gleichwohl angeordneten Inhaftierung den Makel rechtswidriger Freiheitsentziehung auf, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (BVerfG a.a.O.) Eine Heilung des Verstoßes für die Vergangenheit scheidet vor diesem Hintergrund zwar aus. Jedoch wird durch die Nachholung der Vernehmung der durch ihre vorausgegangene Unterlassung herbeigeführte Verfahrens- und Verfassungsverstoß für die Zukunft beseitigt (BVerfG a.a.O.).
Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen kommt vorliegend die Entlassung des Angeschuldigten aus der Untersuchungshaft infolge seiner am 2. September 2024 nachgeholten richterlichen Vernehmung durch die zuständig gewordene 1. große Strafkammer des Landgerichts Lüneburg nicht in Betracht. Ihr ist unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles heilende Wirkung zwar nicht für die Vergangenheit beizumessen, so dass die aus dem Tenor ersichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der im Zeitraum vom 20. Juni bis zum 1. September 2024 erlittenen Untersuchungshaft geboten war. Für den Folgezeitraum ab dem 2. September 2024 kam der nachgeholten Vernehmung durch die Strafkammer jedoch eine heilende Wirkung zu. Zwar wird die Möglichkeit der Heilung einer vorausgegangenen Unterlassung der Vorführung vor das zuständige Gericht in der Rechtsprechung teilweise offengelassen (vgl. OLG Nürnberg Beschl. v. 11.8.2021 - Ws 735/21, BeckRS 2021, 28649); jedoch ist jedenfalls in Konstellationen, bei denen das erkennende Gericht im Falle eines nachträglich geänderten oder erweiterten Haftbefehls die Vernehmung gem. § 115 Abs. 2, Abs. 3 StPO vor Erlass der Haftfortdauerentscheidung unterlassen hat und diese nach Einlegung der Beschwerde auch nicht im Rahmen des Abhilfeverfahrens nachgeholt worden ist, die Abhilfeentscheidung vom Beschwerdegericht aufzuheben und dem erkennenden Gericht Gelegenheit zur Nachholung der Anhörung zu geben (OLG Koblenz, Beschluss vom 04.04.2011 - 1 Ws 183/11, BeckRS 2011, 20783; OLG Jena, Beschluss vom 27.06.2008 - 1 Ws 240/08, BeckRS 2009, 53; Graf, StPO, a.a.O., § 115, Rn. 6).
Zudem wird auch im Fall der Fristversäumung gem. § 118 Abs. 5 StPO und der erst nach Ablauf von zwei Wochen und damit verspätet durchgeführten mündlichen Haftprüfung mit Blick auf die zitierten, zu § 115 StPO und zum Unterbringungsrecht ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts eine die Haft nachträglich legitimierende Heilung des Verfahrensverstoßes angenommen (Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Beschluss vom 18. Februar 2015 - 176/14 -, juris). Die Entlassung aus der Haft könne in derartigen Fällen mithin nur verlangt werden, wenn die Haft nicht im Zeitpunkt der Geltendmachung des Entlassungsbegehrens durch eine nachfolgende Haftfortdauerentscheidung legitimiert worden ist (Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin a.a.O.).
Auch in der Literatur wird jedenfalls vereinzelt vertreten, die Fristüberschreitung des § 115 Abs. 1 und 2 StPO ziehe lediglich die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der Inhaftierung nach sich (MüKoStPO/Böhm, a.a.O., § 115 Rn. 26) und hindere eine spätere, fristgemäße Vorführung zur Verkündung desselben Haftbefehls nicht, weil der Verfahrens- und Verfassungsverstoß hierdurch für die Zukunft beseitigt werde (Posthoff/Faßbender in: Gercke/Temming/Zöller, a.a.O., § 115 StPO, Rn. 9).
Der Senat erachtet eine heilende Wirkung der Vernehmung des Angeschuldigten durch die 1. große Strafkammer des Landgerichts Lüneburg am 2. September 2024 mit Wirkung für den Folgezeitraum für gegeben, so dass eine Freilassung des Angeschuldigten und seine erneute Festnahme zur Heilung des Verstoßes nicht in Betracht kommt. Insoweit hat der Senat im Rahmen der vorgenommenen Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände einerseits das gegen eine heilende Wirkung sprechende, gravierende Ausmaß der Fristüberschreitung und das Ausmaß der hierbei den Justizbehörden zukommenden Verantwortung in die Bewertung eingestellt. Andererseits war zu berücksichtigen, dass das Ausmaß der Verletzung des Freiheitsgrundrechts des Angeschuldigten angesichts der hier jedenfalls nicht gänzlich unterbliebenen, wenn auch durch den unzuständigen Richter mit nur sehr eingeschränkten Kompetenzen erfolgten Anhörung gegenüber einer gänzlich fehlenden richterlichen Vernehmung gemindert ist. Zudem war in die Bewertung einzustellen, dass der Angeschuldigte im Rahmen seiner Vernehmung vom 2. September 2024 - ebenso wie im Rahmen seiner Vorführung vor das Amtsgericht Pasewalk am 20. Juni 2024 - von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat. Der Angeschuldigte hat mithin auch nachträglich keine unberücksichtigt gebliebenen Einwendungen gegen die Fortdauer der Untersuchungshaft erhoben, die zwingenden Anlass zu einer Haftbefehlsaufhebung gegeben hätten. Der Verstoß hat sich im Ergebnis nicht durchgreifend zu seinen Lasten ausgewirkt. Überdies war zu berücksichtigen, dass der Angeschuldigte nach Aktenlage einer äußerst schwerwiegenden Gewaltstraftat dringend verdächtig ist, die zu einer ganz erheblichen physischen wie psychischen Beeinträchtigung des Tatopfers geführt hat. Der gesondert verfolgte Sokal wurde als Mittäter vom Landgericht Lüneburg am 29. August 2012 zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Hinzu tritt die sich aus der Straferwartung des bereits in Polen wegen einschlägiger erheblicher Straftaten zu langjährigen Haftstrafen verurteilten Angeschuldigten ergebende hohe Fluchtgefahr. Angesichts dessen ist unzweifelhaft, dass im Falle einer fristgerechten Vorführung und Vernehmung des Angeschuldigten durch das hierfür zuständige Amtsgericht Celle die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet worden wäre. Es wäre im vorliegenden Einzelfall daher mit untragbaren Folgen für die Strafrechtspflege verbunden, wenn der Angeschuldigte freigelassen werden würde, nur weil die Anberaumung eines fristgerechten Termins zur Vernehmung durch das zuständige Gericht versäumt wurde.
Nach alledem war auf die Beschwerde des Angeschuldigten gegen den Haftfortdauerbeschluss der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Lüneburg vom 2. September 2024 festzustellen, dass die im vorliegenden Verfahren vom 20. Juni bis zum 1. September 2024 vollstreckte Untersuchungshaft rechtswidrig war und die Haftbeschwerde im Übrigen als unbegründet zu verwerfen.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 4 StPO.
Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 310 Abs. 2 StPO).