Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 19.11.2004, Az.: Ws 271/04
Bestehen einer Rechtsverweigerung durch Unterlassen einer Haftprüfung; Zulässigkeit der Untätigkeitsbeschwerde als außerordentliches Rechtsmittel zur Durchsetzung der Rechtsweggarantie
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 19.11.2004
- Aktenzeichen
- Ws 271/04
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 37153
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2004:1119.WS271.04.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 11.10.2004 - AZ: 5 Qs 340/04
Rechtsgrundlagen
- § 118 Abs. 5 StPO
- § 230 Abs. 2 StPO
- Art. 19 Abs. 4 GG
Fundstellen
- StV 2005, 39 (Volltext mit red. LS)
- StraFo 2005, 26-27 (Volltext mit red. LS)
In dem Strafverfahren
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig
am 19. November 2004
beschlossen:
Tenor:
Auf die weitere Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 11.10.04 abgeändert und das Amtsgericht Goslar verpflichtet, unverzüglich eine mündliche Haftprüfung durchzuführen.
Die Kosten der Beschwerdeverfahren und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
Die weitere Beschwerde des Angeklagten hat Erfolg.
I.
Der Angeklagte befindet aufgrund des gem. § 230 Abs. 2 StPO erlassenen Haftbefehls des AG Goslar vom 08.04.04 seit dem 25.08.04 in Haft. Mit Fax vom 09.09.04 hatte sein Verteidiger die Verlegung des anberaumten Hauptverhandlungstermins sowie hilfsweise eine mündliche Haftprüfung beantragt. Zu dem am 04.10.04 vorgesehenen Haftprüfungstermin kam es nicht, weil der Angeklagte kurz vorher mit Zustimmung des erkennenden Richters wegen einer anderen Strafsache in die JVA Hagen verlegt worden war. Am 05.10.04 erhob der Angeklagte durch seinen Verteidiger Beschwerde gegen die Haftanordnung, weil es zu der beantragten Haftprüfung bisher nicht gekommen war. Das Landgericht hat darin eine Haftbeschwerde gesehen und diese wegen des Vorrangs des Haftprüfungsbegehrens als unzulässig verworfen. Mit der weiteren Beschwerde stellt der Angeklagte ausdrücklich klar, dass er sich gegen die Nichtdurchführung der mündlichen Haftprüfung wendet. Die Strafkammer hat der weiteren Beschwerde unter Aufrechterhaltung ihrer Rechtsansicht nicht abgeholfen.
II.
Das Rechtsmittel ist zulässig und begründet.
1.
In der Sache richten sich die Beschwerde (erkennbar) und die weitere Beschwerde (ausdrücklich) gegen die Nichtdurchführung der Haftprüfung durch das Amtsgericht. Wenn der Strafprozessordnung auch eine reine Untätigkeitsbeschwerde fremd ist, so unterliegt die Unterlassung einer von Amts wegen oder auf Antrag zu treffenden gerichtlichen Entscheidung doch grundsätzlich der Anfechtung, sofern die unterlassene Entscheidung selbst oder deren Ablehnung anfechtbar ist und der Unterlassung die Bedeutung einer endgültigen Ablehnung und nicht einer bloßen Verzögerung der zu treffenden Entscheidung zukommt (BGH, NJW 1993, 1279 m.w.N.).
Dem Unterlassen einer Haftprüfung kommt zwar nicht die Bedeutung einer - anfechtbaren - Entscheidung über die Fortdauer der Haft gleich. Die darin zu sehende - regelmäßig nicht angreifbare - Verzögerung stellt aber praktisch eine Rechtsverweigerung dar, die in Ansehung der damit verbundenen Einschränkung des besonders gewichtigen Grundrechts auf Freiheit die Zulässigkeit der Untätigkeitsbeschwerde als außerordentliches Rechtsmittel zur Durchsetzung der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ausnahmsweise erfordert (vgl. auch OLG Hamburg ,Beschl. vom 4.11.02 - 3 Vollz (Ws) 100/02).
Dieses außerordentlichen Rechtsbehelfs bedürfte es nur dann nicht, wenn "auf den ersten Blick" erkennbar wäre, dass der Angeklagte mit seinem Antrag auf Haftprüfung ohne Erfolg sein wird. Dafür mag zwar einiges sprechen, unabweisbar ist eine solche Prognose jedoch nicht.
2.
In der Sache selbst liegt es auf der Hand, dass das Amtsgericht den gesetzlichen Vorgaben des § 118 Abs. 5 StPO nicht genügt hat. Danach ist eine mündliche Haftprüfung unverzüglich durchzuführen; keinesfalls darf sie ohne Zustimmung des Gefangenen länger als 2 Wochen ab Eingang des Haftprüfungsantrages verzögert werden.
Der Angeklagte war der JVA Braunschweig nach seiner Festnahme am 01.09.04 zugeführt worden. Seinem am 09.09.04 eingegangen Antrag auf mündliche Haftprüfung hätte das Amtsgericht, das noch am selben Tag eine Verlegung des Hauptverhandlungstermins abgelehnt hatte, unverzüglich entsprechen können. Statt dessen hat es - vermutlich im Hinblick auf den für den 14.10.04 anberaumten Hauptverhandlungstermin - zugewartet und die Durchführung des am 23.09.04 unter Verstoß gegen § 118 Abs. 5 StPO erst auf den 04.10.04 anberaumten Haftprüfungstermins durch die etwa zeitgleich erteilte Zustimmung zur Verlegung des Angeklagten in die JVA Hagen unmöglich gemacht.
Im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Freiheitsrechts muss eine etwaige Überlastung des zuständigen Richters als Verzögerungsgrund - auch unter Berücksichtigung des Gebots der besonders zügigen Bearbeitung von Haftsachen und der Rücksichtnahme auf terminliche Schwierigkeiten des Verteidigers - letztlich unberücksichtigt bleiben, solange der Gefangene einer sich daraus ergebenden Verzögerung nicht zustimmt. In diesem Zusammenhang kann nicht übersehen werden, dass der Abteilungsrichter grundsätzlich zwar selbst über die Reihenfolge der Bearbeitung der ihm zugewiesenen Verfahren zu befinden hat, er aber unter Berücksichtigung des Gewichts der betroffenen Rechtsgüter Prioritäten setzen und ggf. das Präsidium des Gerichts um Unterstützung bitten muss. Soweit die Terminslage des Verteidigers eine unverzügliche Durchführung der Haftprüfung nicht zulässt und der Gefangene einer Verzögerung nicht zustimmt, überwiegt sein Interesse an einer zügigen Klärung der Haftfrage dem Interesse an der Mitwirkung eines bestimmten Verteidigers.
3.
Der Senat ist gehindert, über die Fortdauer der Haft selbst zu entscheiden; er hat das Amtsgericht daher lediglich anzuweisen, nunmehr in die entsprechende Prüfung einzutreten und so der gesetzlichen Regelung des § 118 Abs. 5 StPO Geltung zu verschaffen. Insoweit ist anerkannt, dass von einer Entscheidung nach § 309 Abs. 2 StPO abzusehen ist, wenn die erste Instanz in die Sachprüfung nicht eingetreten ist oder ein Verfahren gewählt hat, das mit einer ordnungsgemäßen Justizgewährung unvereinbar ist (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl., § 309, Rdnr. 8; Karlsruher Kommentar, StPO 5. Aufl., § 309, Rdnr. 11). Beide Fälle sind hier gegeben.
III.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 Abs. 1 StPO analog.
Tröndle
Hoeffer