Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 02.10.2024, Az.: 3 ORs 18/24

Begriff der anvertrauten Interessen iSd § 356 Abs. 1 StGB und Wegfall der rechtfertigenden Pflichtenkollision bei Bevorzugung eines Mandanten im Falle eines Interessenkonflikts

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
02.10.2024
Aktenzeichen
3 ORs 18/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 25365
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2024:1002.3ORS18.24.00

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hildesheim - 25.01.2024 - AZ: 18 NBs 11 Js 21630/21 (3/23)

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Zwar beurteilen sich die anvertrauten Interessen im Sinne von § 356 Abs. 1 StGB nach dem Inhalt des dem Rechtsanwalt erteilten Auftrags, der maßgeblich vom Willen der Partei gestaltet wird. Beruhen die Feststellungen hierzu aber auf einer Beweiswürdigung, die einseitig auf die Sichtweise der Auftraggeber abstellt, kann dies rechtsfehlerhaft sein. Denn das Anvertrautsein einer Angelegenheit erfordert auch die Annahme des Auftrags durch den Rechtsanwalt, wobei diese ausdrücklich oder durch schlüssige Erklärung erfolgen kann.

  2. 2.

    Vertritt ein Rechtsanwalt mehrere Gläubiger und bevorzugt, nachdem ein Interessenkonflikt zwischen ihnen zu Tage getreten ist, einen der Gläubiger vor den anderen, so scheidet eine rechtfertigende Pflichtenkollision aus. Denn darin läge ein Wertungswiderspruch zu Sinn und Zweck des § 356 Abs. 1 StGB, der das Vertrauen der Allgemeinheit in die Zuverlässigkeit und Integrität der Rechtsanwaltschaft schützt. Außerdem bestehen bei einer solchen Sachlage keine gleichrangingen Pflichten gegenüber verschiedenen Mandanten; vielmehr hat die Pflicht zur Niederlegung aller Mandate Vorrang.

In der Strafsache
gegen G. R. B.,
geboren am ...,
wohnhaft ...,
- Verteidiger: Rechtsanwalt G., M.,
Rechtsanwalt Prof. Dr. N., B. -
wegen Parteiverrats
hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht XXX, den Richter am Oberlandesgericht XXX und den Richter am Oberlandesgericht XXX am 2. Oktober 2024 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 7. kleinen Strafkammer des Landgerichts Hildesheim vom 25. Januar 2024 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Hildesheim zurückverwiesen.

Gründe

I.

Durch Urteil des Amtsgerichts Hildesheim vom 8. November 2022 wurde der Angeklagte wegen Parteiverrats zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 200 Euro verurteilt. Auf die hiergegen eingelegte Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Hildesheim mit Urteil vom 25. Januar 2024 die Tagessatzhöhe auf 150 Euro herabgesetzt und das Rechtsmittel im Übrigen als unbegründet verworfen.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Der Angeklagte war als Rechtsanwalt damit beauftragt, in dem am 1. Dezember 2020 vor dem Amtsgericht Hildesheim eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der T. P. GmbH die Interessen der Gläubigerinnen M. H. GmbH und M. P. GmbH & Co. KG zu vertreten und deren Forderungen durchzusetzen. Der Angeklagte gewann den Eindruck, dass der Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin der Insolvenzmasse Vermögensteile vorenthielt und dass der vorläufige Insolvenzverwalter und der vorläufige Gläubigerausschuss ihre Funktionen nicht ordnungsgemäß ausübten. Der Angeklagte wollte deshalb in der auf den 24. Februar 2021 anberaumten Gläubigerversammlung eine Neubesetzung des Gläubigerausschusses erreichen.

Um über die dafür notwendige Anzahl an Stimmen zu verfügen, benötigte der Angeklagte Vollmachten von weiteren Gläubigern. Er nahm deshalb über einen ihm bekannten Rechtsanwalt, der ebenfalls Gläubiger in dem Insolvenzverfahren vertrat, Kontakt zu dessen Mandanten H. auf, der wiederum weitere Gläubiger kannte. Diesem teilte der Angeklagte mit, dass er zwei Gläubigerinnen in dem Insolvenzverfahren gegen die T. P. GmbH vertrete und bereit sei, auch andere Gläubiger über die den Gläubigerausschuss betreffenden Sachverhalte zu informieren. Der Ablauf des Insolvenzverfahrens solle überwacht werden, damit alles korrekt ablaufe.

Dem Wunsch des Angeklagten entsprechend gab H. diese Informationen u.a. an die Gläubiger K. und J. weiter. Daraufhin fand zwischen dem Gläubiger K. und dem Angeklagten ein Telefonat statt, in welchem der Angeklagte die gegenüber H. gemachten Angaben wiederholte. Am 26. Januar 2021 sandte K. dem Angeklagten eine E-Mail, in der er auf den Verdacht einer Verkürzung der Insolvenzmasse und das Ziel einer höheren Quote Bezug nahm, seine Forderungen gegen die Insolvenzschuldnerin darlegte und den Angeklagten darum bat "zu prüfen, inwieweit ich mich an die Kollegen, die Herr H. aktiviert hat, anzuhängen und Ihnen ein Mandat zu erteilen, bei der Gläubigerversammlung unsere Interessen, eine deutlich bessere Quote zu erreichen, zu vertreten" (sic!). Weiter bat er den Angeklagten darum, "über die entstehenden Kosten" informiert" zu werden.

Der Angeklagte antwortete darauf mit E-Mail vom 16. Februar 2021, dass er nunmehr Rücksprache mit seinen Mandanten gehalten habe und K. anbieten könne, dass er ihn und seine Stimmrechte in der Gläubigerversammlung vertrete. In dieser Gläubigerversammlung wolle er "eventuell bewirken, dass der Gläubigerausschuss zum Teil neu besetzt wird, damit die Kontrollfunktion des Gläubigerausschusses effektiv zur Mehrung der Insolvenzquote wahrgenommen wird". Kosten werde er K. nicht berechnen. Gerne könne K. ihn dazu anrufen, insbesondere, wenn er "weitere Anweisungen oder Fragestellungen mit auf den Weg geben" wolle. Im Anhang der E-Mail übersandte der Angeklagte die Datei einer Vollmacht, welche K. im Falle seines Einverständnisses unterschreiben und zurücksenden möge. Als Gegenstand des Auftrags bezeichnete die Vollmacht: "Vertretung in Gläubigerversammlungen im Insolvenzverfahren über das Vermögen der T. P. GmbH". Die Vollmacht ermächtigte "zur allgemeinen Vertretung in vorbenannter Sache" sowie zur Prozessführung in allen Instanzen.

Mit einer weiteren E-Mail vom 16. Februar 2021 teilte der Angeklagte dem Gläubiger H. mit, dass er bereit sei, noch andere Gläubiger in der Gläubigerversammlung am 24 Februar 2021 in H. zu vertreten. In dieser Gläubigerversammlung wolle er "eventuell bewirken, dass der Gläubigerausschuss zum Teil neu besetzt wird, damit die Kontrollfunktion des Gläubigerausschusses effektiv zur Mehrung der Insolvenzquote wahrgenommen wird". Kosten werde er "dem Gläubiger für die Vertretung" nicht berechnen, weil er "schon von (s)einen Mandanten (M. H. GmbH und M. P. GmbH & Co. KG) bezahlt werde". Gerne könne ihn "der potentielle Vollmachtgeber" hierzu anrufen, "um nähere Details zu erfahren und insbesondere um weitere Anweisungen oder Fragestellungen mit auf dem Weg zu geben". Dieser E-Mail war ebenfalls die vorbeschriebene Vollmacht als Datei angehängt.

Die Nachricht des Angeklagten leitete H. noch am gleichen Tag per E-Mail an die Gläubiger K. und J. weiter. J. nahm Kontakt zu dem Rechtsanwalt auf, den er bereits mit der Vertretung seiner Interessen im Insolvenzverfahren beauftragt hatte. Da dieser keine speziellen Kenntnisse im Insolvenzrecht hatte und auch nicht beabsichtigte, an der Gläubigerversammlung teilzunehmen, erhob er keine Einwände. J. erkundigte sich daraufhin telefonisch bei dem Angeklagten, ob es zutreffe, dass er im Falle einer Erteilung der Vollmacht für seine Leistungen kein Honorar verlangen würde. Das bejahte der Angeklagte. J. und K. entschlossen sich noch am 16. Februar 2021, das Angebot des Angeklagten anzunehmen. Sie unterschrieben jeweils die Vollmachten und übermittelten sie dem Angeklagten. Dabei gingen beide Gläubiger davon aus, dass der Angeklagte ihre Interessen in der anstehenden Gläubigerversammlung in vollem Umfang und in engagierter Weise vertreten werde, sodass ihre jeweiligen Forderungen gegen die Insolvenzschuldnerin möglichst umfangreich durchgesetzt werden. Dessen war sich der Angeklagte bewusst. Er überprüfte vor der Gläubigerversammlung nicht, ob die von den Gläubigern K. und J. angemeldeten Forderungen berechtigt waren. Er hielt diesbezüglich weder Rücksprache mit den Gläubigern noch forderte er hierüber Unterlagen an.

Am 24. Februar 2021 meldete der Angeklagte vorab per E-Mail beim Amtsgericht Hildesheim seine Teilnahme an der Gläubigerversammlung als Vertreter von insgesamt sieben Gläubigern, darunter die M. H. GmbH, die M. P. GmbH & Co. KG sowie die Gläubiger J. und K., an und fügte als Anhang die Dateien der unterschriebenen Vollmachten bei. Im Berichtsteil der Gläubigerversammmlung wurde auf Initiative des Angeklagten die M. H. GmbH als weiteres Mitglied in den Gläubigerausschuss aufgenommen. Im Prüfungsteil der Gläubigerversammlung bestritt der Angeklagte für die M. P. GmbH & Co. KG diverse angemeldete Forderungen. Darunter befanden sich auch die Forderungen des Gläubigers K. in Höhe von insgesamt 56.031,29 Euro und des Gläubigers J. in Höhe von insgesamt 60.834,01 Euro. Dazu reichte der Angeklagte eine selbst erstellte Tabelle zur Insolvenzakte, in welcher als Grund für das Bestreiten der Forderungen ausgeführt wurde, dass die jeweilige Dokumentation der Forderungsmitteilung keine Schlüssigkeit der geltend gemachten Forderung erbringe, weil "der Dreiklang aus Rechtsgrundlage, Nachweis der Leistung oder Mitteilung des Falls des § 103 Abs. 1 Insolvenzordnung und Abrechnung der Leistung nicht vollständig dargelegt" sei.

Der Insolvenzverwalter hatte die Hauptforderungen K. und J. nicht bestritten, lediglich Zinsen und Rechtsanwaltsgebühren. Ohne die Handlung des Angeklagten wären die Hauptforderungen der Gläubiger K. und J. in die Insolvenztabelle aufgenommen worden und diese hätten insoweit Zahlungstitel erlangt. Im Juni 2021 nahm der Angeklagte das Bestreiten hinsichtlich der Forderung K. zu 75 % und der J. zu 60 % zurück. Die vollständige Rücknahme erfolgte hinsichtlich J. im März 2023, hinsichtlich K. im November 2023.

2. Der Angeklagte hat sich dahingehend eingelassen, dass die von ihm verwendeten Vollmachten zwar weit gefasst gewesen seien, weil er Standardvollmachten verwendet habe. Er habe aber mit den Gläubigern K. und J. vereinbart, dass die Vollmachten nur im Rahmen einer Neubesetzung des Gläubigerausschusses in der am 24. Februar 2021 stattfindenden Gläubigerversammlung vor dem Amtsgericht Hildesheim Gültigkeit haben sollten. Es habe zu keinem Zeitpunkt ein Mandatsverhältnis zwischen ihm und den Gläubigern K. und J. gegeben. Im Prüfungsteil der Gläubigerversammlung sei es seine Aufgabe gewesen, als Rechtsanwalt die Interessen seiner Mandantinnen M. H. GmbH und M. P. GmbH & Co. KG zu vertreten und alle angemeldeten Forderungen, die nicht schlüssig dargelegt worden seien, zu bestreiten.

3. Das Landgericht ist hingegen zu der Überzeugung gelangt, dass der Angeklagte mit einer umfassenden Vertretung der Interessen der Gläubiger K. und J. ohne Beschränkung auf die Neubesetzung des Gläubigerausschusses beauftragt worden war. Diese Überzeugung hat es auf die Aussagen der Zeugen K. und J., die Aussage der Zeugin B., die als Rechtspflegerin die Gläubigerversammlung leitete, sowie die Inhalte der Vollmachten und ausgetauschten E-Mails gestützt.

4. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner form- und fristgerecht eingelegten Revision. Er beanstandet das Verfahren und rügt die Verletzung materiellen Rechts.

5. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision als offensichtlich unbegründet zu verwerfen (§ 349 Abs. 2 StPO).

II.

Die Revision ist zulässig und hat in der Sache - zumindest vorläufigen - Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils (§ 349 Abs. 4 StPO) und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

Das Urteil hält der Nachprüfung auf die zulässig erhobene Sachrüge nicht Stand. Eines näheren Eingehens auf die - allerdings unbegründeten - Verfahrensrügen bedarf es daher nicht.

1. Das Urteil kann keinen Bestand haben, weil die Beweiswürdigung einen durchgreifenden Rechtsfehler aufweist.

a) Aus dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) folgt mit dem Ausschöpfungsgebot die Verpflichtung des erkennenden Gerichts, den gesamten beigebrachten Verfahrensstoff erschöpfend zu würdigen. In den schriftlichen Urteilsgründen muss es dies erkennen lassen. Umstände, die geeignet sind, die gerichtliche Entscheidung wesentlich zu beeinflussen, dürfen nicht stillschweigend übergangen werden, sondern müssen in eine umfassende Gesamtwürdigung einbezogen werden (BGH, Urteil vom 26. April 2017 - 5 StR 445/16, juris; LR-StPO/Sander, 27. Aufl., § 261 Rn. 72 ff.).

b) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Sie lassen eine Gesamtschau aller festgestellten Indizien vermissen.

Das Landgericht hat seine Überzeugung maßgeblich auf die Aussagen der Zeugen K. und J. und mit diesen in Einklang stehende Passagen aus den verwerteten Urkunden gestützt. Die Feststellungen zum Umfang der anvertrauen Angelegenheit entsprechen danach der Sichtweise der Auftraggeber. Zwar beurteilen sich die anvertrauten Interessen nach dem Inhalt des dem Rechtsanwalt erteilten Auftrags, der maßgeblich vom Willen der Partei gestaltet wird (BGH, Beschluss vom 21. November 2018 - 4 StR 15/18, juris). Die Urteilsgründe lassen indes besorgen, dass das Landgericht nicht ausreichend in den Blick genommen hat, dass das Anvertrautsein einer Angelegenheit im Sinne des § 356 Abs. 1 StGB auch die Annahme des Auftrags durch den Rechtsanwalt erfordert, die ausdrücklich oder durch schlüssige Erklärung erfolgen kann (vgl. LK-StGB/Gillmeister, 13. Aufl., § 356 Rn. 98 mwN). Dies wiederum setzt voraus, dass die Vorstellungen beider Seiten vom Umfang des Auftrags sich auch decken.

Das Landgericht hat im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt, es sei davon überzeuget, dass "dem Angeklagten am 24. Februar 2021 bewusst gewesen ist, dass er von den Zeugen K. und J. hinsichtlich der Wahrnehmung ihrer Interessen in der Gläubigerversammlung umfänglich beauftragt worden ist und die Zeugen darauf vertraut haben, dass er in der Gläubigerversammlung alles dafür tun wird, um ihre Forderungsansprüche abzusichern und durchzusetzen" (S. 21 UA). Dies hat das Landgericht offensichtlich aus den Inhalten der Kommunikation und der Vollmachten geschlossen, ohne dies explizit darzulegen. Die von dem Angeklagten behauptete Beschränkung des Auftrags hat das Landgericht als widerlegt angesehen, weil die Zeugen K. und J. sowie die Rechtspflegerin B.r bekundet haben, dass der Angeklagte ihnen gegenüber nichts in dieser Richtung geäußert habe.

Feststellungen dazu, welche Vorstellungen der Angeklagte bei Annahme des Auftrags über dessen Umfang hatte sowie ob und - wenn ja - wann sich diese geändert haben, hat das Landgericht nicht getroffen. Es hat auch nicht festgestellt, ob die Forderungsanmeldungen der Gläubiger K. und J. tatsächlich unschlüssig waren und wann und auf welche Weise der Angeklagte Kenntnis davon erlangt hat. Unklar bleibt deshalb, ob der Angeklagte nach Überzeugung des Landgerichts von Beginn an über seine wahren Absichten getäuscht haben soll oder ob er zu Beginn noch von einer gleichgerichteten Interessenlage aller Gläubiger ausging und erst nach Annahme des Auftrags Kenntnis von der Unschlüssigkeit der Forderungen und einem damit bestehenden Interessengegensatz zwischen den von ihm vertretenen Gläubiger hatte.

Die nicht festgestellten Umstände der Kenntniserlangung von der Unschlüssigkeit der Forderungen könnten aber wiederum Bedeutung haben für die Feststellungen zur inneren Tatseite. So könnte etwa die festgestellte Tatsache, dass der Angeklagte vor der Gläubigerversammlung nicht überprüfte, ob die von den Gläubigern K, und J, angemeldeten Forderungen berechtigt waren, auch den Schluss begründen, dass der Angeklagte dies unterließ, weil er die Durchsetzung dieser Forderungen als nicht von seinem Auftrag umfasst ansah. Diese naheliegende Möglichkeit hat das Landgericht nicht in seine Erwägungen einbezogen. Ebenso könnte der festgestellte Umstand, dass der Angeklagte die Zeugen K. und J. nicht ausdrücklich auf Beschränkungen des Auftrags hinwies, seine Ursache darin haben, dass er diese Frage nach der vorangegangenen E-Mail-Kommunikation bereits als geklärt ansah. So hat das Landgericht zwar besonderes Gewicht auf die Formulierung aus der E-Mail des Angeklagten vom 16. Februar 2021 an den Gläubiger K. gelegt: "Ich kann Ihnen anbieten, dass ich Sie und Ihre Stimmrechte in der Gläubigerversammlung vertrete". Es hat aber nicht gewürdigt, dass der Angeklagte in einer E-Mail vom selben Tag an H. formulierte: "Kosten werde ich dem Gläubiger für die Vertretung nicht berechnen, weil ich schon von meinem Mandanten (M. H. GmbH und M. P. GmbH & Co. KG) bezahlt werde". Sowohl der Umstand, dass der Angeklagte hier zwischen "dem Gläubiger" und "meinem Mandanten" differenzierte, als auch der, dass er kein Honorar verlangte, obwohl gemäß Vorb. 3.3.5. Abs. 2 VV RVG für die Vertretung mehrerer Insolvenzgläubiger, die verschiedene Forderungen geltend machen, die Gebühren jeweils gesondert entstehen, könnte dagegen sprechen, dass er einen Auftrag zur bestmöglichen Durchsetzung der Forderungen K. und J. annehmen wollte. Auch die unterschiedliche Bezeichnung der anvertrauten Angelegenheiten in den Vollmachten der Gläubiger K. und J. einerseits ("Vertretung in Gläubigerversammlungen im Insolvenzverfahren über das Vermögen der T. P. GmbH") im Vergleich zu den Vollmachten der M. H. GmbH und M. P. GmbH & Co. KG ("Insolvenz der T. P. GmbH" und "Allgemeine Beratung") eröffnet zumindest die Möglichkeit der Deutung in Richtung der Einlassung des Angeklagten.

Das Landgericht hat die vorstehenden Indizien, die gegen einen Vorsatz des Angeklagten sprechen könnten, zwar festgestellt. Es hat diese aber nicht erkennbar in seine Gesamtwürdigung einbezogen und sich nicht wertend mit ihnen auseinandergesetzt. Zwar kann die in den Urteilsgründen dargestellte Beweiswürdigung ihrer Natur nach nicht in dem Sinne erschöpfend sein, dass alle irgendwie denkbaren Gesichtspunkte und Würdigungsvarianten ausdrücklich abgehandelt werden. Eine solche Erörterung überstiege die Möglichkeiten und Ressourcen der Gerichte, ohne dass jemals absolute Vollständigkeit erreicht werden könnte; sie ist daher von Rechts wegen nicht zu verlangen. Die Urteilsgründe müssen aber deutlich machen, dass das Tatgericht naheliegende erhebliche Beweistatsachen nicht übersehen oder unvertretbar gewertet hat (BGH, Urteil vom 15. Dezember 2021 - 3 StR 441/20, StV 2022, 486 mwN). Welche Erörterungen hiernach geboten sind, wird auch durch das konkrete Vorbringen der Verfahrensbeteiligten, vor allem die Verteidigung des Angeklagten beeinflusst (vgl. LR-StPO/Sander aaO Rn. 75 mwN). Von der Gesamtwürdigung dürfen einzelne Beweisanzeichen auch nicht deshalb ausgeschlossen werden, weil sie keinen zwingenden, sondern nur einen möglichen Schluss zulassen (BGH, Beschluss vom 21. September 1993 - 4 StR 413/93, StV 1994, 6; LR-StPO/Sander aaO Rn. 72).

2. Vor diesem Hintergrund kann der Senat nicht ausschließen, dass das Landgericht bei einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung unter Einbeziehung aller be- und entlastenden Indizien in die vorzunehmende Gesamtwürdigung zu anderen Feststellungen gelangt wäre. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Hildesheim zurückzuverweisen.

3. Für die neue Verhandlung wird auf Folgendes hingewiesen:

a) Sollte das neue Tatgericht nicht zu der Feststellung gelangen, dass der Angeklagte einen Mandatsvertrag zur umfassenden Vertretung der Interessen der Gläubiger K. und J. im Insolvenzverfahren eingegangen ist, wird es zu prüfen haben, ob das Bestreiten der Forderungen auch im Falle eines auf die Ausübung der Stimmrechte in der Gläubigerversammlung beschränkten Mandats ein pflichtwidriges Dienen i.S.d. § 356 Abs. 1 StGB darstellt.

Von Bedeutung könnte in diesem Zusammenhang sein, dass die Entscheidung über die erstmalige Einsetzung eines Gläubigerausschusses oder die Beibehaltung des vorläufigen Gläubigerausschusses zwar zweckmäßigerweise schon im Berichtstermin (§ 158 InsO) erfolgen sollte, aber auch noch zu jedem anderen Zeitpunkt während des gesamten Verfahrens getroffen werden kann (vgl. Gerhardt in: Jaeger, InsO, § 68 Rn. 5 mwN).

Weiter wird in den Blick zu nehmen sein, dass gemäß § 29 Abs. 2 InsO der Berichtstermin und der Prüfungstermin verbunden werden können. Welche Anordnung das Amtsgericht insoweit im Eröffnungsbeschluss getroffen hat, ist bislang nicht festgestellt worden. Zwar haben auch bei einer Verbindung von Berichts- und Prüfungstermin die Themen des Berichtstermins in dem einheitlichen Termin in der zeitlichen Abfolge Vorrang vor der Prüfung und Feststellung von Forderungen. Hierbei ergeben sich jedoch Überschneidungen, die im Hinblick auf die Nachteile von Entscheidungen aufgrund nur vorläufiger Stimmrechte vorherige Abstimmungen sinnvoll erscheinen lassen (Schilken in: Jaeger, InsO, § 29 Rn. 11). Denn das Stimmrecht ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1 InsO an diejenigen Forderungen gekoppelt, die angemeldet und weder vom Insolvenzverwalter noch von einem stimmberechtigten Gläubiger bestritten worden sind. Die Gläubiger, deren Forderungen bestritten werden, behalten ihr Stimmrecht gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 InsO allerdings, soweit sich in der Gläubigerversammlung der Verwalter und die erschienenen stimmberechtigten Gläubiger über das Stimmrecht einigen. Es findet also noch in der Gläubigerversammlung eine Verhandlung über das Stimmrecht statt, wobei in der anschließenden Abstimmung über das Stimmrecht auch der Inhaber der bestrittenen Forderung stimmberechtigt ist (h. M.; vgl. AG Hamburg, Beschluss vom 12. September 2005 - 67e IN 246/04, ZInsO 2005, 1002, mit zust. Anm. Kind/Herzig EWiR 2006, 175; Gerhardt in: Jaeger, InsO, § 77 Rn. 10; Uhlenbruck/Knof, InsO, 15. Aufl., § 77 Rn. 19, K. Schmidt InsO/Jungmann, 20. Aufl., § 77 Rn. 8; jew. mwN).

Ein Bestreiten der Forderungen der Gläubiger K. und J. hatte hiernach Auswirkungen auf den Bestand der Stimmrechte, die auszuüben der Angeklagte bei dieser Sachverhaltsvariante übernommen hätte. Dieser Zusammenhang könnte - auch aus Sicht des Angeklagten - eine Verknüpfung der Themen des Berichts- und des Prüfungstermins bewirkt haben, die den Angeklagten selbst im Falle der Annahme einer Beschränkung seines Auftrags auf den Berichtsteil dazu verpflichtet hätte, den Gläubigern K. und J. auch nach Beendigung des Berichtsteils und des damit verbundenen Auftrags weiterhin zum Erhalt ihrer Stimmrechte zu dienen. Denn die rechtliche Gebundenheit des Anwalts an seinen Auftraggeber dauert über die Beendigung des Auftrags hinaus fort (BGH, Beschluss vom 21. November 2018 - 4 StR 15/18, BGHR StGB § 356 Abs. 1 Pflichtwidrigkeit 3 mwN).

b) Im Falle der Feststellung einer der vorstehend aufgezeigten Varianten der Erfüllung des Tatbestands des § 356 StGB käme eine Rechtfertigung oder Entschuldigung aufgrund einer Pflichtenkollision nicht in Betracht.

Denn darin läge ein Wertungswiderspruch zu Sinn und Zweck des § 356 Abs. 1 StGB; dieser schützt nicht in erster Linie den nur mittelbar erfassten Auftraggeber vor Schaden oder einer Gefährdung seiner Interessen, sondern das Vertrauen der Allgemeinheit in die Zuverlässigkeit und Integrität der Rechtsanwaltschaft (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 2001 - 2 BvR 1373/00, NJW 2001, 3180). Das strafbewehrte Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen würde aber leerlaufen, wenn ein Verstoß dagegen anschließend aufgrund der Annahme einer "Pflichtenkollision" als gerechtfertigt oder entschuldigt angesehen werden könnte.

Abgesehenen davon wäre eine unabwendbare Konfliktsituation, entweder durch das Bestreiten der Forderungen die Pflichten gegenüber den Gläubigern K. und J. oder durch das Unterlassen des Bestreitens die Pflichten gegenüber den Gläubigerinnen M. H. GmbH und M. P. GmbH & Co. KG zu verletzen, nicht festzustellen. Denn es besteht bei dieser Sachlage die vorrangige Pflicht zur Mandatsniederlegung. Im Falle eines dem Rechtsanwalt bewussten Interessenwiderstreits innerhalb der von ihm vertretenen Gruppe der Gläubiger ist es dem Rechtsanwalt nicht nur berufsrechtlich (§ 43a Abs. 4 BRAO), sondern auch durch die Vorschrift des § 356 Abs. 1 StGB strafbewehrt untersagt, das Verfahren weiter durch anwaltliches Tätigwerden in die eine oder andere Richtung zu fördern (vgl. BGH, Beschluss vom 21. November 2018 - 4 StR 15/18, BGHR StGB § 356 Abs. 1 Pflichtwidrigkeit 3). Widerstreitende Interessen liegen zwar nicht schon dann vor, wenn ein Rechtsanwalt sich gegenüber mehreren Gläubigern verpflichtet, Forderungen gegen ein und denselben Schuldner durchzusetzen, auch wenn der Erfolg des einen Gläubigers den Misserfolg des anderen Gläubigers, der nicht mehr zum Zuge kommt, bedeuten kann. Bevorzugt der Rechtsanwalt aber den einen vor dem anderen Gläubiger, liegen Pflichtverletzungen im Rahmen des jeweiligen Mandatsverhältnisses vor (vgl. BGH, Urteil vom 7. September 2017 - IX ZR 71/16, NJW-RR 2017 1459). Tritt ein Interessenkonflikt offen zu Tage, weil aus den ehemals gleichgerichteten Interessen widerstreitende Interessen werden, ist der Rechtsanwalt nach § 3 Abs. 4 BORA verpflichtet, alle Mandate niederzulegen (vgl. BGH, Urteil vom 10. Januar 2019 - IX ZR 89/18, NJW 2019, 1147, 1150; Offermann-Burckart, AnwBl 2019, 602, 603; Hirtz, NJW 2019, 2265, 2266).

Schließlich scheidet die Rechtfertigung durch eine Pflichtenkollision aus, wenn der Täter diese selbst vorwerfbar herbeigeführt hat (BGH, Beschluss vom 9. August 2005 - 5 StR 67/05, NJW 2005, 3650). Eine solche vorwerfbare Herbeiführung der Pflichtenkollision käme im vorliegenden Fall in Betracht, wenn auch das neue Tatgericht feststellen sollte, dass der Angeklagte vor Annahme der Aufträge der Gläubiger K. und J. nicht überprüft hat, ob deren Forderungsanmeldungen schlüssig waren. Denn hierdurch hätte er rechtzeitig feststellen können, ob die vordergründig gemeinsamen Interessen der Gläubiger gegenüber der Insolvenzschuldnerin durch widerstreitende Interessen der Gläubiger untereinander überlagert werden, die einer gemeinsamen - sei es auch nur partiellen - Vertretung aller Gläubiger entgegenstehen.

c) Im Falle eines erneuten Schuldspruchs wird das Tatgericht im Rahmen der Strafzumessung auch die dem Angeklagten drohenden berufsrechtlichen Konsequenzen, die möglicherweise bis zu einem befristeten Vertretungsverbot oder sogar bis zu einer Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft reichen, zu berücksichtigen haben (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Februar 1991 - 3 StR 13/91, BGHR StGB § 356 Abs. 1 Rechtssache 1).