Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 18.09.2024, Az.: 1 Ws 186/24 (StrVollz)

Antrag eines in der Sicherungsverwahrung befindlichen Verurteilten auf Abgeltung der verbleibenden Freistellungstage

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
18.09.2024
Aktenzeichen
1 Ws 186/24 (StrVollz)
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 22961
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2024:0918.1WS186.24STRVOLLZ.00

Verfahrensgang

vorgehend
LG Göttingen - 13.06.2024 - AZ: 52 StVK 28/23

In der Strafvollzugssache
des M.-R. F.,
geboren am ...,
zurzeit im Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen,
- Antragstellers und Beschwerdegegners -
gegen die Justizvollzugsanstalt R.,
vertreten durch die Anstaltsleiterin,
- Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin -
wegen Freistellungstagen
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle nach Beteiligung des Zentralen juristischen Dienstes für den niedersächsischen Justizvollzug und Gewährung rechtlichen Gehörs für den Antragsteller durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht XXX, den Richter am Oberlandesgericht XXX und den Richter am Oberlandesgericht XXX am
18. September 2024 beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen vom 13. Juni 2024 wird aufgehoben.

  2. 2.

    Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an dieselbe Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.

  3. 3.

    Der Streitwert wird für beide Instanzen auf bis zu 500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller befand sich bis zum 20. März 2023 bei der Antragsgegnerin im Vollzug der Sicherungsverwahrung und übte dort eine von ihr angebotene Arbeit aus. Am 20. März 2023 wurde er aufgrund einer Überweisung gemäß § 67a Abs. 2 StGB in das Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen verlegt. Nach den Feststellungen der Strafvollstreckungskammer wurde ihm die bevorstehende Verlegung am 14. März 2023 bekanntgegeben. Zu diesem Zeitpunkt verfügte er über jedenfalls zehn Freistellungstage gemäß § 41 Nds. SVVollzG, von denen er vier Tage noch vor seiner Verlegung in Anspruch nehmen konnte. Eine Inanspruchnahme der übrigen Tage war wegen der Verlegung nicht mehr möglich. Der Antragsteller beantragte deshalb eine finanzielle Abgeltung der übrigen Tage. Dieser Antrag wurde von der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 31. Mai 2023 abgelehnt.

Mit Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 14. Juni 2023 verfolgt der Antragsteller sein Ziel der Abgeltung der verbleibenden Freistellungstage weiter. Er ist der Ansicht, dass er zehn Freistellungstage durch seine Arbeit bis zum 4. Dezember 2022 erworben habe und weitere fünf Freistellungstage durch seine Arbeit vom 5. Dezember 2022 bis 20. März 2023. Da er wegen der kurzfristigen Bekanntgabe der Verlegung nur vier Freistellungstage habe nehmen können, stehe ihm für die übrigen Tage ein finanzieller Ausgleich zu.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer den Bescheid der Antragsgegnerin vom 14. Juni 2023 aufgehoben und die Antragstellerin zur Neubescheidung verpflichtet, "soweit darin die Fortzahlung des Arbeitsentgelts für die Zeit der bis zur Verlegung in den Maßregelvollzug nicht in Anspruch genommenen Freistellungstage abgelehnt wurde". Zur Begründung hat die Strafvollstreckungskammer ausgeführt, dass der Antragsteller gemäß § 41 Abs. 4 Satz 1 Nds. SVVollzG einen Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts habe, der durch die Verlegung nicht erloschen sei.

Hiergegen wendet sich die Antragsgegnerin mit ihrer Rechtsbeschwerde, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Sie ist der Ansicht, dass § 41 Abs. 4 Nds. SVVollzG keine Rechtsgrundlage für eine Abgeltung nicht in Anspruch genommener Freistellungstage darstelle und auch eine analoge Anwendung von § 7 Abs. 4 BurlG nicht in Betracht komme.

II.

Die Rechtsbeschwerde hat (jedenfalls vorläufig) Erfolg.

1.

Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 116 Abs. 1 StVollzG zulässig und führt zur unbeschränkten Nachprüfung des angefochtenen Beschlusses. Nach der Formulierung des Aufhebungsantrages erfolgt die Anfechtung zwar nur, soweit die Justizvollzugsanstalt zur finanziellen Abgeltung der bis zur Verlegung in den Maßregelvollzug nicht in Anspruch genommenen Freistellungstage verpflichtet wird. Darin liegt aber keine Beschränkung auf einzelne Beschwerdepunkte, denn in der Sache hat die Strafvollstreckungskammer nur über diese Abgeltung entschieden; sie hat weder eine darüber hinaus gehende Verpflichtung der Antragsgegnerin ausgesprochen noch den Antrag teilweise abgelehnt.

3.

Die zulässig erhobene Sachrüge deckt einen durchgreifenden Rechtsfehler im angefochtenen Beschluss auf und der Senat kann aufgrund der bisherigen Feststellungen nicht ausschließen, dass die Strafvollstreckungskammer deshalb im Ergebnis zu Unrecht einen Anspruch des Antragstellers bejaht hat.

a) Entgegen der Auffassung der Strafvollstreckungskammer ergibt sich ein Anspruch des Antragstellers nicht aus § 41 Abs. 4 Satz 1 Nds. SVVollzG. Die Beschwerdeführerin weist insoweit zutreffend darauf hin, dass die Vorschrift lediglich die Entgeltfortzahlung während einer tatsächlich in Anspruch genommenen Freistellung von der Arbeit regelt. Ein Abgeltungsanspruch für nicht in Anspruch genommene Freistellungstage - wie etwa in § 7 Abs. 4 BUrlG, § 8a NEUrlVO und § 40 Abs. 1 NJVollzG geregelt - ist im Nds. SVVollzG hingegen nicht vorgesehen.

Eine Anwendung von § 7 Abs. 4 BUrlG auf die Arbeit des Antragstellers ist ausgeschlossen, weil er nicht in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis zur Antragsgegnerin stand und die Arbeit im Vollzug anderen Zwecken dient als die privatrechtliche Erwerbsarbeit (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 30. Januar 2015 - 2 Ws 484/14 (Vollz) -, Rn. 10 - 11, juris; OLG Hamburg, Beschluss vom 5. Dezember 2016 - 3 Ws 48/16 Vollz -, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 4. März 2016 - 2 Ws 570/15 -, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 4.März 2016 - 2 Ws 570/15 -, juris). Eine analoge Anwendung der außerhalb des Nds. SVVollzG geregelten Abgeltungsansprüche kommt ebenfalls nicht in Betracht, denn §§ 41, 42 Nds. SVVollzG bilden insoweit einen abschließenden Regelungskomplex, in dem der Gesetzgeber Abgeltungsansprüche bewusst nicht vorgesehen hat (vgl. LT-Drs. 16/4873, S. 61).

b) Nach den bisherigen Feststellungen ist aber nicht ausgeschlossen, dass sich ein Anspruch des Antragstellers aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ergibt.

aa) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ergibt sich aus Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG, dass ein Arbeitnehmer Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für nicht genommene Urlaubstage hat (EuGH, Urteil vom 6. November 2018 - C-684/16 -, juris, Rn. 22). Dieser Anspruch wird nicht bereits dadurch ausgeschlossen, dass der Arbeitnehmer den entsprechenden Urlaub nicht beantragt hat; der Arbeitgeber muss den Arbeitnehmer vielmehr klar und rechtzeitig über den drohenden Verfall eines Urlaubsanspruchs belehren (EuGH, Urteil vom 6. November 2018 - C-619/16 -, juris). Der Richtlinie kommt für diesen Anspruch im Verhältnis zwischen dem Arbeitnehmer und staatlichen Behörden unmittelbare Wirkung zu, auch soweit sie nicht in nationales Recht umgesetzt wurde (EuGH, Urteil vom 6. November 2018 - C-684/16 -, juris, Rn. 63 ff.; EuGH, Urteil vom 6. November 2018 - C-619/16 -, juris, Rn. 22; Franzen/Roth, EuZA 2019, 143, beck-online).

Der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne der Richtlinie 2003/88/EG ist unionsrechtlich auszulegen. Als "Arbeitnehmer" ist jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (EuGH, Urteil vom 26. März 2015 - C-316/13 -, Rn. 27, juris; BAG, Urteil vom 25. Juli 2023 - 9 AZR 43/22 -, Rn. 33, juris). Der Arbeitnehmereigenschaft steht es nicht entgegen, dass ein Beschäftigungsverhältnis nach nationalem Recht ein Rechtsverhältnis sui generis ist oder es auch der Förderung eines Beschäftigten dient und an dessen eingeschränkte Leistungsfähigkeit angepasst ist (EuGH, Urteil vom 26. März 2015 - C-316/13 -, Rn. 31, juris). Erst wenn sich eine Tätigkeit als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt, ist der Beschäftigte nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht als Arbeitnehmer anzusehen (EuGH, Urteil vom 26. März 2015 - C-316/13 -, Rn. 39, juris).

bb) Hieran gemessen erscheint es möglich, dass der Antragsteller in Bezug auf seine Arbeit im Vollzug der Sicherungsverwahrung als Arbeitnehmer im Sinne der Richtlinie 2003/88/EG anzusehen ist und ihm deshalb ein Ausgleichsanspruch aus Art. 7 der Richtlinie zusteht. Der besondere öffentlich-rechtliche Charakter und der auf eine Erreichung der Vollzugsziele gemäß § 2 Nds. SVVollzG gerichtete Zweck der Arbeit stehen dem nach den dargestellten Maßstäben nicht vornherein entgegen, zumal die Arbeit im Vollzug der Sicherungsverwahrung gemäß § 37 Nds. SVVollzG freiwillig ist (zum abweichend ausgestalten Strafvollzug vgl. OLG Frankfurt, Beschl. v. 6.4.2021 - 3 Ws 13/21, Rn. 23, beck-online).

Eine eigene Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft ist dem Senat aber auf der Grundlage des angefochtenen Beschlusses nicht möglich, weil die Strafvollstreckungskammer keine Feststellungen zur Tätigkeit des Antragstellers getroffen hat.

Die Sache ist deshalb zur neuen Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen (§ 119 Abs. 4 Satz 3 StVollzG). Sie wird die Feststellungen zur Art der Tätigkeit nachzuholen und zu prüfen haben, ob die vom Betroffenen erbrachten Leistungen einen gewissen wirtschaftlichen Nutzen haben und als auf dem Beschäftigungsmarkt üblich angesehen werden können (EuGH, Urteil vom 26. März 2015 - C-316/13 -, Rn. 40-42, juris). Gegebenenfalls wird sie außerdem Feststellungen dazu treffen, ob der Antragsteller auf eine den Anforderungen des Europäischen Gerichtshof entsprechenden Weise über den drohenden Verfall der Freistellungstage informiert wurde. Sofern die Strafvollstreckungskammer daraufhin erneut einen Ausgleichsanspruch bejaht, wird sie auch auszusprechen haben, wie viele Freistellungstage auszugleichen sind.

III.

Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf §§ 1 Nr. 8, 63 Abs. 3, 65 GKG.