Sozialgericht Hannover
Urt. v. 14.09.2022, Az.: S 20 KA 56/20
Indikationsstellung; sonstiger Schaden; Verordnungsregress; Wunschverordnung; Zuständigkeit der Prüfgremien nach § 106 ff. SGB V
Bibliographie
- Gericht
- SG Hannover
- Datum
- 14.09.2022
- Aktenzeichen
- S 20 KA 56/20
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2022, 59304
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 15 Abs 2 BMV-Ä
- § 48 Abs 1 BMV-Ä
- § 106b SGB 5
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die Verordnung eines (objektiv) nicht indizierten Arzneimittels kann als Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot die Festsetzung eines Verordnungsregresses rechtfertigen.
Es liegt kein Fall des sonstigen Schadens im Sinne des § 48 BMV-Ä vor, wenn dem Vertragsarzt eine fehlerhafte Indikationsstellung und eine darauf aufbauend unzulässige Verordnung vorgeworfen wird.
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen. Diese haben ihre Kosten selbst zu tragen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über einen Regress wegen der Verordnung von Palbociclib (Ibrance®).
Der Kläger ist Facharzt für Allgemeinmedizin und zur vertragsärztlichen Versorgung mit Sitz in J. zugelassen. Er verordnete zugunsten des Versicherten der Beigeladenen zu 2) Herrn K. am 17. Januar 2017, 9. Februar 2017, 14. März 2017 und 27. März 2017 Ibrance 125mg HKP 3*7 St., die nach Abzug von Rabatten zu Kosten der Beigeladenen zu 2) in Höhe von 20.470,08 EUR führten.
Die Beigeladene zu 2) beantragte gegenüber der L. M.) am 15. Juni 2018 die Festsetzung eines Regresses in Höhe von 20.470,08 EUR wegen eines sonstigen Schadens. Die Verordnungen seien offenbar auf Bitten des Versicherten ausgestellt worden. Es handele sich bei Ibrance um ein hochpreisiges Arzneimittel gegen Krebs. Dieses werde vorrangig von erfahrenen Gynäkologen, Onkologen und Fachkliniken verordnet. Der Leistungserbringer habe angegeben, dass sich der Patient mit der Behauptung vorgestellt habe, er habe männlichen Brustkrebs und würde einen entsprechenden Arztbericht nachreichen. Dies sei jedoch nie erfolgt. Der Versicherte sei langjähriger Patient des Klägers. Eine passende Krebsdiagnose finde sich jedoch nicht im Versicherungsverlauf. Lediglich im Zusammenhang mit den hier streitigen Verordnungen habe der Kläger „C50.9 Bösartige Neubildung: Brustdrüse nicht näher bezeichnet“ angegeben. Die in den Fachinformationen empfohlene Blutbildkontrolle habe der Kläger nicht abgerechnet. Ihm sei vorzuwerfen, dass er Verordnungen ausgestellt habe, ohne sich zuvor vom Krankheitszustand überzeugt zu haben.
Diesen Antrag leitete die N. am 19. Juni 2018 an den Kläger mit der Bitte um Stellungnahme weiter. Der Kläger hat über seinen Rechtsanwalt eine Stellungnahme eingereicht. Der Versicherte sei seit Mai 2014 als Patient mit diversen chronischen Leiden bekannt. Es bestehe ein besonderes Vertrauensverhältnis. In der Vergangenheit habe es keinen Anlass gegeben, an der Glaubwürdigkeit der Person oder dem Wahrheitsgehalt der Angaben des Patienten zu zweifeln. Der Patient habe sich am 17. Januar 2017 vorgestellt, die Diagnose Brustkrebs durch einen Facharzt für Onkologie sowie die Therapieempfehlung Ibrance behauptet und weiter angegeben, dass die Verordnung wegen eines bevorstehenden Urlaubs des Onkologen durch den Hausarzt erfolgen solle. Die dann vom Kläger vorgenommene körperliche Untersuchung habe beim Abtasten der Brust eine deutliche Verhärtung ergeben. Auch die weiteren Verordnungen seien dann nach vorheriger körperlicher Untersuchung erfolgt. Auch habe er dem Versicherten empfohlen, nach den jeweiligen Behandlungszyklen ein großes Blutbild anfertigen zu lassen. Die Behandlungszyklen mit Behandlungspausen seien von ihm bei seinen Verordnungen beachtet worden. Letztlich fehle es aber auch an der Kausalität der behaupteten Pflichtverletzung. Entscheidend sei hier eine Pflichtverletzung der abgebenden Apotheke. Nach § 17 Abs. 5 Satz 2 Apothekenbetriebsordnung sei eine Abgabe ausgeschlossen, wenn sich aus der Verordnung sonstige Bedenken ergäben. Solche Bedenken hätte die abgebende Apotheke hier haben müssen, da ein onkologisches Spezialmittel von einem Hausarzt verordnet wurde, es sich um die Behandlung von Brustkrebs bei einem Mann handelt und der G-BA einen Zusatznutzen verneint. Die Apotheke hätte daher Rücksprache halten müssen.
Die Krankenkasse hat ihren Antrag aufrechterhalten. Die Ausführungen zu einer Haftung der Apotheke seien nicht nachvollziehbar. Selbst wenn von dort eine Nachfrage erfolgt wäre, hätte der Kläger die Auskunft gegeben, dass die Verordnung so für den Patienten ausgestellt worden wäre.
Die N. setzte nach Einschaltung der Beratungskommission gegenüber dem Kläger mit Bescheid vom 13. November 2018 einen Regress in beantragter Höhe fest.
Gegen diese Entscheidung erhob der Kläger Widerspruch. Er wiederholt seinen bisherigen Vortrag. Der Patient sei engmaschig gesehen und die Behandlung ordnungsgemäß im Rahmen von Arzt-Patienten-Kontakten überwacht worden. Der Kläger habe keinerlei Zweifel an der Diagnose gehabt. Von ihm könne trotz des fehlenden Facharztberichts nicht der Abbruch einer onkologischen Behandlung verlangt werden.
Der Beklagte hat den Bevollmächtigten des Klägers mündlich angehört. Dieser gab an, dass ein Retaxierungsverfahren durchgeführt worden sei und der Schaden beglichen wurde. Der Patient habe eine Blutentnahme seinerzeit verweigert.
Den Widerspruch wies der Beklagte mit Bescheid vom 24. März 2020 (Beschluss vom 26. November 2019) als unbegründet zurück. Der Kläger habe für einen sonstigen Schaden im Sinne des § 48 Abs. 1 BMV-Ä einzustehen, da er bei seinen Verordnungen die Vorgaben des § 15 Abs. 2 BMV-Ä schuldhaft verletzt habe. Verordnungen dürften danach nur ausgestellt werden, wenn sich der Vertragsarzt zuvor persönlich vom Krankheitszustand des Patienten überzeugt hat oder der Zustand aus einer laufenden Behandlung bekannt ist. Der Kläger habe hier keine Informationen zu der angeblichen Krebserkrankung eingeholt. Er habe selbst kein Blutbild angefertigt. Er habe sich auch nicht vorab einen entsprechenden Facharztbrief vorlegen lassen. Die Einleitung und Durchführung einer Krebstherapie ohne jegliche Laborwerte stelle nach Ansicht des Ausschusses einen Behandlungsfehler dar. Das bloße Abtasten der Brust und die Empfehlung an den Patienten, ein Blutbild einzuholen, sei im Rahmen der hier veranlassten hochpreisigen Therapie völlig unzureichend. Es gäbe auch keinen Anhaltspunkt für die Durchführung einer Retaxierung. Das Präparat sei grundsätzlich verordnungsfähig. Auch rechtfertige der Verweis des Arztes auf die Verantwortlichkeiten der abgebenden Apotheke keine Reduzierung des Regresses. Die Verantwortung für die ausgestellten Verordnungen liege nach § 29 Abs. 1 Satz 1 BMV-Ä allein beim Vertragsarzt.
Gegen diese Entscheidung erhob der Kläger am 30. März 2020 Klage. Der Kläger verweist vollumfänglich auf seinen Vortrag im Verwaltungsverfahren. Der Beklagte hätte konkrete Feststellungen zu einem möglichen Retaxierungsverfahren treffen müssen und dazu die Apotheke befragen müssen. Ob und inwieweit die gestellte Krebsdiagnose eine medizinische Fehleinschätzung war, sei nicht im Rahmen des sonstigen Schadens durch den Beklagten zu bewerten. Gegenstand der Wirtschaftlichkeitsprüfung sei nicht die Feststellung von Behandlungsfehlern. Sollte in einem parallel geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft eine Straftat festgestellt werden, bliebe kein Raum mehr für seine Haftung. Er habe die ihm als Hausarzt zur Verfügung stehenden diagnostischen Maßnahmen ergriffen. Er dürfe aufgrund des langjährigen Vertrauensverhältnisses auch auf die gemachten Patientenangaben vertrauen. Die Fachinformationen enthielten kein Verordnungsverbot für Allgemeinmediziner und auch kein Verordnungsverbot ohne vorheriges Blutbild. Es könne auch nicht richtig sein, dass jegliche ärztliche Fehlinterpretation einen Verstoß gegen § 15 Abs. 2 BMV-Ä darstelle. Vielmehr sei der Anwendungsbereich auf Fälle beschränkt, in denen der Vertragsarzt den Krankheitszustand des Patienten nicht kenne.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 24. März 2020 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte verweist auf seine Widerspruchsbegründung. Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen den behandelten Patienten habe keine Auswirkungen auf die Bewertung des Fehlverhaltens des Klägers. Dieser habe ohne vorherige medizinische Abklärung Wunschverordnungen ausgestellt, obwohl es sich um eine bei Männern ungewöhnliche Erkrankung handele. Auch wenn dem Versicherten durch die unzureichenden Untersuchungen des Klägers kein Gesundheitsschaden entstanden seien sollte, liege dennoch ein unwirtschaftliches Verhalten vor.
Die beigeladene Krankenkasse hat auf Nachfrage des Gerichts mitgeteilt, dass für die hier streitigen Verordnungen kein Retaxierungsverfahren gegenüber der Apotheke eingeleitet worden sei. Im Übrigen verweist sie auf die Fachinformationen. Dort werde eine Behandlung durch einen in der Anwendung von Krebstherapeutika erfahrenen Arzt empfohlen. Zudem werde empfohlen, vor Beginn der Behandlung und zu Beginn jedes Zyklus sowie am 15. Tag der ersten zwei Behandlungszyklen eine Kontrolle des großen Blutbildes durchzuführen.
Zum weiteren Sach- und Streitstand wird auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang und den Inhalt der Gerichtsakte ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die als Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) statthafte und im Übrigen zulässige Klage ist unbegründet.
Die Kammer hat in der Besetzung mit je einem Vertreter der Vertragsärzte und Psychotherapeuten sowie der Krankenkassen verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG -).
Der Beklagte hat gegenüber dem Kläger im Ergebnis zu Recht einen Regress wegen der Verordnung von Palbociclib festgesetzt.
Rechtsgrundlage für die Festsetzung von Regressen in Bezug auf Arzneimittel ist hier § 106 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3, § 106b SGB V i.V.m. § 6 Abs. 1j, § 30 der Vereinbarung zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit in der vertragsärztlichen Versorgung gemäß § 106 SGB V ab dem Jahr 2017 (Prüfvereinbarung). Nach § 106b Abs. 1 SGB V wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung mit ärztlich verordneten Leistungen ab dem 1. Januar 2017 anhand von Vereinbarungen geprüft, die von den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit den Kassenärztlichen Vereinigungen zu treffen sind. Auf Grundlage dieser Vereinbarungen können Nachforderungen wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise nach § 106 Absatz 3 SGB V festgelegt werden. Die Partner der Gesamtverträge in Niedersachsen haben in der Prüfvereinbarung u.a. Einzelfallprüfungen wegen unzulässiger Verordnungen aufgrund von Verstößen gegen Richtlinien des Bundesausschusses gem. § 92 SGB V sowie Prüfungen in Fällen des „sonstigen Schadens“ nach § 48 BMV-Ä vorgesehen.
Das Gericht geht hier – anders als der Beklagte – nicht davon aus, dass der zur Prüfung gestellte Sachverhalt nach den Vorgaben des sonstigen Schadens im Sinne des § 48 BMV-Ä zu beurteilen ist. Gleichwohl besteht hier eine Regresspflicht, da der Kläger unzulässige Verordnungen ausgestellt hat.
Der Beklagte hat den zur Prüfung gestellten Sachverhalt zu Unrecht nach den Vorgaben des sonstigen Schadens beurteilt. Nach § 48 Abs. 1 BMV-Ä obliegt den Prüfgremien die Feststellung des sonstigen durch einen Vertragsarzt verursachten Schadens, der einer Krankenkasse „aus der unzulässigen Verordnung von Leistungen, die aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen sind, oder aus der fehlerhaften Ausstellung von Bescheinigungen" entsteht. Zu diesem sonstigen Schaden zählen unter anderem Folgekosten der Krankenkassen in anderen Bereichen, die durch das Verhalten des Arztes (z.B. ein Behandlungsfehler oder eine falsche Bescheinigung) ausgelöst werden. Ein solcher Fall steht hier nicht zur Beurteilung. Denn die antragstellende Krankenkasse macht nicht geltend, dass ihr durch die streitigen Verordnungen Folgekosten entstanden sind. Vielmehr verlangt sie die unmittelbar durch die Verordnung entstandenen Kosten als Schadensersatz.
Indes ist der sonstige Schaden nicht auf die o.g. typischen Fälle beschränkt. Vielmehr kann es auch außerhalb der typischen Konstellationen Fallgestaltungen geben, die dem sonstigen Schaden nach den bundesmantelvertraglichen Vorschriften zuzuordnen sind. Abzugrenzen sind diese insbesondere von den Fällen der unzulässigen Verordnungen. Dazu zählen Verordnungen von Leistungen, die durch das Gesetz oder Richtlinien aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen sind. Unter den sonstigen Schaden fallen hingegen Verordnungen, bei denen Fehler in Frage stehen, welche die Art und Weise ihrer Ausstellung betreffen (dazu insgesamt: BSG, Urteil vom 29. Juni 2011 – B 6 KA 16/10 R). Hier streiten die Beteiligten nicht über die Art und Weise der Ausstellung. Vielmehr steht zwischen den Beteiligten die inhaltliche Ausrichtung der Verordnungen im Streit (vgl. BSG, Urteil vom 20. März 2013 - B 6 KA 17/12 R Rn. 21). Dem Kläger wird vorgeworfen, dass er aufgrund einer unzureichenden Befunderhebung zu einer fehlerhaften Indikationsstellung gelangt ist und aufgrund dieser Indikationsstellung eine nicht notwendige und damit unwirtschaftliche Verordnung ausgestellt hat.
Unabhängig davon wäre die Festsetzung eines sonstigen Schadens durch den Beklagten hier auch nach § 50 BMV-Ä ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind Schadenersatzansprüche, welche eine Krankenkasse aus eigenem oder übergeleitetem Recht gegen einen Vertragsarzt wegen des Vorwurfs der Verletzung der ärztlichen Sorgfalt bei der Untersuchung oder Behandlung erhebt, nicht Gegenstand der Verfahren vor den Prüfungseinrichtungen oder den Schlichtungsstellen § 50 Satz 1 BMV-Ä. Diese Regelung in der o.g. Form knüpfte an eine Entscheidung des BSG zu Schadensersatzansprüchen aufgrund von Behandlungsfehlern an (vgl. dazu Weinrich in Liebold/Zalewski, Kassenarztrecht, § 50 BMV-Ä H50-3). Danach kann aus der Verletzung von Regeln der ärztlichen Kunst der betroffenen Krankenkasse – unabhängig vom Bestehen privatrechtlicher Ansprüche des Versicherten – ein öffentlich-rechtlicher Schadensersatzanspruch zustehen (BSG, Urteil vom 22. Juni 1983 – 6 RKa 3/81).
Die hier streitigen Verordnungen waren unzulässig. Der Beklagte war daher zu einer Regressfestsetzung nach den Vorgaben des Verordnungsregresses berechtigt.
Dabei kommt es für die Entscheidung des Gerichts hier nicht entscheidend darauf an, dass die geschädigte Krankenkasse den zur Beurteilung gestellten Sachverhalt als sonstigen Schaden bewertet und ihren Antrag gegenüber der Prüfungsstelle entsprechend überschrieben hat (vgl. etwa: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28. August 2019 – L 3 KA 110/16). Auch steht der Rechtmäßigkeit der Entscheidung nicht entgegen, dass der Beklagte seine Regressfestsetzung auf eine unzutreffende rechtliche Grundlage gestützt hat. Zwar sind im Rahmen der Begründungspflicht (§ 35 SGB X) die wesentlichen Gründe für die getroffene Entscheidung anzugeben. Die Begründungspflicht verlangt jedoch allein die Angabe der Gründe, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben. Auf die inhaltliche Richtigkeit der gegebenen Begründung kommt es im Rahmen der Verfahrensfehlerhaftigkeit des Verwaltungsakts nicht an (Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 35 SGB X Rn. 13 (Stand: 21. Mai 2021)). Auch in materiell-rechtlicher Hinsicht ergibt sich aus der unzutreffenden Abgrenzung von Verordnungsregress und sonstigen Schaden keine Rechtswidrigkeit der angegriffenen Entscheidung. Insoweit handelt es sich nach der Rechtsprechung des BSG lediglich um eine unzutreffende Wertung, die rechtlich folgenlos bleibt (BSG, Urteil vom 25. Januar 2017 – B 6 KA 7/16 R, Rn. 19; BSG, Urteil vom 21. März 2018 – B 6 KA 31/17 R, Rn. 33).
Grundsätzlich können Versicherte eine Versorgung mit vertragsärztlich verordneten Fertigarzneimitteln, die nach den Regelungen des Arzneimittelrechts einer Zulassung bedürfen, nur beanspruchen, soweit für das Arzneimittel eine das jeweilige Indikationsgebiet betreffende Zulassung vorliegt (BSG, Urteil vom 18. Mai 2004 – B 1 KR 21/02 R, Rn. 14; Urteil vom 19. Oktober 2004 – B 1 KR 27/02 R, Rn. 20; Urteil vom 8. November 2011 – B 1 KR 19/10 R, Rn. 11). Ohne eine der arzneimittelrechtlichen Zulassung entsprechende Indikation besteht grundsätzlich auch kein Versorgungsanspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse. Spiegelbildlich liegt in der Verordnung von solchen Präparaten daher ein unwirtschaftliches Verhalten (vgl. BSG, Urteil vom 5. Mai 2010 – B 6 KA 6/09 R; Urteil vom 13. Oktober 2010 – B 6 KA 48/09 R). Die Verschreibung eines nicht indizierten Medikaments stellt einen Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot dar (Lauf/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, 5. Aufl. § 56 Rn. 3).
Dabei ist nicht allein deshalb von einem Einsatz innerhalb der Zulassung auszugehen, weil der Kläger im Rahmen der Erstverordnung die Diagnose „C50.9 Bösartige Neubildung: Brustdrüse nicht näher bezeichnet“ gestellt hat. Denn diese Diagnose müssen die Prüfgremien bei ihrer Prüfung der Zulässigkeit der Verordnungen nicht notwendigerweise zugrunde legen. Die Überprüfung der Wirtschaftlichkeit in der vertragsärztlichen Versorgung kann durch die Prüfgremien auch anhand einer Überprüfung der Erkrankung des Patienten (vgl. BSG, Urteil vom 8. April 1992 - 6 RKa 27/90) bzw. anhand der vorliegenden Behandlungsunterlagen durchgeführt werden (vgl. BSG, Urteil vom 8. April 1992 – 6 RKa 27/90, Rn. 38 juris). Feststellungen zur Wirtschaftlichkeit/Unwirtschaftlichkeit sind zwar grundsätzlich Entscheidungen über einen Tatsachenzusammenhang, die nicht aufgrund sinnlicher Wahrnehmung getroffen werden können, sondern die eine Wertung erfordert. Diese beruht dann auf ärztlichen Erfahrungssätzen, nämlich Regeln, die sich auf eine spezifische ärztliche Sach- und Fachkunde stützen. Für die Beantwortung der Frage, ob eine Behandlung dem Wirtschaftlichkeitsgebot entspricht, bedeutet das, dass grundsätzlich nur Hilfstatsachen ermittelt werden können, aus denen auf der Grundlage von ärztlichen Erfahrungssätzen die Wertentscheidung über die Wirtschaftlichkeit/Unwirtschaftlichkeit einer Behandlung abzuleiten ist. Daneben erkennt die Rechtsprechung aber auch Fallkonstellationen an, in denen sich die Unwirtschaftlichkeit unmittelbar selbst aus Tatsachen ergibt (BSG, Urteil vom 8. April 1992 – 6 RKa 27/90, Rn. 31 juris). Maßgeblich für die Beurteilung eines indikationsgerechten Arzneimitteleinsatzes ist damit nicht die subjektive Vorstellung des die Arzneimittelverordnung ausstellenden Leistungserbringers. Die Zulässigkeit von Arzneimittelverordnungen beurteilt die Rechtsprechung vielmehr anhand der Frage, ob für die beanstandete Verordnung zum Ausstellungszeitpunkt eine Leistungspflicht der Krankenkassen bzw. ein Versorgungsanspruch des Versicherten bestand (BSG, Urteil vom 5. November 2008 – B 6 KA 63/07 R Rn. 16 ff). Dabei wird die Wirtschaftlichkeit von Leistungen nach einem objektiven Maßstab geprüft. Das Wirtschaftlichkeitsgebot der §§ 12, 70 Abs. 1 Satz 2 SGB V verlangt, dass die Leistungen zweckmäßig, d.h. nach den anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst objektiv geeignet sein müssen, zur diagnostischen Klärung des Krankheitsbildes beizutragen oder – als therapeutische Leistungen – der Heilung oder Besserung einer Krankheit oder der Linderung von Beschwerden zu dienen (BSG, Urteil vom 1. März 1979 – 6 RKa 4/78). Für die Bestimmung der krankenversicherungsrechtlichen Leistungspflicht ist daher zunächst nicht maßgeblich, welche Diagnose zum Zeitpunkt der Verordnung gestellt wurde, sondern welche Diagnose tatsächlich zum Verordnungszeit vorgelegen hat (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 10. September 2020 – L 8 KR 687/18). Davon geht auch das BSG in seiner Entscheidung vom 30. Oktober 2013 (Aktenzeichen: B 6 KA 2/13 R) dem Grunde nach aus. Maßgeblich für die Zulässigkeit einer Verordnung ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt deren Ausstellung (BSG, aaO, Rn. 12 und 16 juris). Jedoch verlangt das BSG einschränkend:
„Soweit sich die behandelnden Ärzte aber auf dem Wissensstand der jeweiligen Zeit, unter Ausschöpfung der ihnen praktisch möglichen Diagnostik sowie nach Auswertung der vorhandenen Befunde für einen bestimmten Therapieweg entschieden und auf der Basis dieser Entscheidung sachgerecht therapiert haben, ist, wenn zur Behandlung dieser Erkrankung die vorgenommenen Arzneiverordnungen zulässig waren, kein Raum für einen Regress.“ Dies gelte jedoch nicht für den Fall, dass der geprüfte Leistungserbringer auf der Grundlage einer unvollständigen Diagnostik entschieden hat oder auf der Grundlage des Sachverhalts eine „offensichtlich fernliegende Diagnose“ gestellt hat (BSG, aaO Rn. 18; ebenso für Verdachtsdiagnosen: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 29. September 2021 – L 3 KA 24/17).
Für die Kammer steht hier zweifelfrei fest, dass der Kläger unter Berücksichtigung der seinerzeitigen Erkenntnislage eine offensichtlich fernliegende Diagnose gestellt hat. Das von ihm im Prüfverfahren vorgetragene Abtasten der Brust und die dabei festgestellte Verhärtung stellt keine belastbare Grundlage für die Stellung der Diagnose C50.9 dar. Der Kläger hat sich auch nicht unter Ausschöpfung der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten für eine sachgerechte Therapie entschieden. Insoweit kommt es nicht entscheidend darauf an, ob der Kläger selbst aufgrund seiner Kenntnisse, Fähigkeiten und der vor Ort zur Verfügung stehenden apparativen Ausstattung zu einer nach den Vorgaben der Interdisziplinäre S3-Leitlinie für die Früherkennung, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms in der Lage war. Ist er zu einer nach den Regeln der ärztlichen Kunst notwendigen Diagnostik nicht in der Lage, hat er sich vor Einleitung einer entsprechenden Therapie die notwendigen Informationen unter Heranziehung anderer Leistungserbringer zu verschaffen. Der Kläger darf sich insbesondere angesichts des hier im Raum stehenden Erkrankungsbildes nicht blind auf Angaben des Versicherten verlassen. Er hat schließlich auch auf Basis seiner Entscheidung nicht sachgerecht therapiert. Insbesondere hat er auf die nach den Fachinformationen vorgeschriebene Kontrollen des Blutbildes ohne medizinisch nachvollziehbaren Grund verzichtet.
Durch die Ausstellung der hier gerügten Verordnungen ist der beigeladenen Krankenkasse ein Schaden entstanden. Insoweit kann sich der Kläger nicht auf ein mögliches Fehlverhalten der beteiligten Apotheke oder eine möglicherweise bestehende Betrugsabsicht des Versicherten berufen. Im Vertragsarztrecht ist danach kein Raum, einen Verstoß gegen Gebote und Verbote, die nicht bloße Ordnungsvorschriften betreffen, durch Berücksichtigung eines hypothetischen alternativen Geschehensablaufs als unbeachtlich anzusehen; denn damit würde das vertragsarztrechtliche Ordnungssystem relativiert (BSG, Urteil vom 20. März 2013 – B 6 KA 17/12 R Rn. 36 f.). Der eingetretene Schaden beruht zudem auch wesentlich auf dem Verhalten des Klägers. Ein Verschulden ist im Rahmen von Verordnungsregresses nicht zu prüfen. Nichts anderes gilt im Ergebnis auch für den Verweis des Klägers auf ein durchgeführtes Retaxierungsverfahren. Insoweit hat die beigeladene Krankenkasse auf Nachfrage des Gerichts eine Retaxierung der hier streitigen Verordnungen verneint. Das Gericht hat keine Zweifel an der Richtigkeit dieser Auskunft, zumal der Kläger für seine gegenteilige Behauptung keinerlei Nachweise vorgelegt hat.
Der Kläger kann der Regressfestsetzung auch nicht mit Erfolg § 50 BMV-Ä entgegenhalten. Denn diese Vorschrift erfasst ausschließlich die Ansprüche aus dem sonstigen Schaden im Sinne des § 48 BMV-Ä. Der hier bestehende Ersatzanspruch stützt sich jedoch auf eine Verletzung der §§ 106 ff. SGB V. Von der dort geregelten obligaten Zuständigkeit der N. und des O. können die P. und der Q. im Rahmen des BMV-Ä nicht abweichen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm §§ 155 Abs. 1, 159 Satz 2, 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen waren auch nicht dem Kläger oder der Staatskasse aufzuerlegen. Gründe für eine solche Billigkeitsentscheidung (§ 162 Abs. 3 VwGO) waren weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.