Sozialgericht Hannover
Urt. v. 11.07.2022, Az.: S 58 U 134/18

Bibliographie

Gericht
SG Hannover
Datum
11.07.2022
Aktenzeichen
S 58 U 134/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 59294
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Fundstelle

  • PflR 2023, 315-318

Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 09. März 2018 und des Widerspruchsbescheides vom 15. Juni 2018 verpflichtet, die Kosten für Sexualassistenz des Klägers im Rahmen eines persönlichen Budgets zu übernehmen und eine entsprechende Zielvereinbarung zu treffen.

Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung eines persönlichen Budgets für die Inanspruchnahme von Sexualbegleitung.

Der 1983 geborene Kläger erlitt am 27. Dezember 2003 auf dem Heimweg von seiner Berufsausbildungsstätte einen Verkehrsunfall. Auf der Bundesstraße zwischen H. und I. fuhr er in einem Kurvenbereich mit seinem Pkw auf ein Stauende zu und streifte die Mittelleitplanke, wodurch sich sein Fahrzeug quer zur Fahrbahn stellte. Anschließend wurde sein Fahrzeug von einem nachfolgenden Pkw in die Fahrerseite getroffen und gegen ein weiteres Fahrzeug geschleudert. Dabei zog sich der Kläger u.a. eine Subarachnoidalblutung und ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit nachfolgender Ataxie und Sprachstörungen zu. Die stationäre Erstversorgung erfolgte in der Neurochirurgie der Universitätsklinik J.. Am K. 2004 wurde der Kläger zur Frührehabilitation mit noch vegetativer Dysregulation, apallischem Syndrom (Wachkoma) und ausgeprägter spastischer Tetraparese (Lähmung aller Extremitäten) in das Neurologische Rehabilitationszentrum Greifswald verlegt und von dort Ende August 2004 mit noch schwerem hirnorganischem Psychosyndrom in die Rehaklinik L.. Am 15. April 2005 wurde der Kläger von dort nach Hause entlassen mit weiterhin bestehenden hochgradigen Funktionsbeeinträchtigungen und der Hilfebedürftigkeit in allen Alltagsverrichtungen wie An- und Ausziehen, Körperpflege und Nahrungsaufnahme. Im Anschluss erfolgte teilstationäre Behandlung in der Klinik für neurologische Rehabilitation M. und seit N. ambulante Heilbehandlung.

Die Rechtsvorgängerin der Beklagten erkannte den Unfall als Arbeitsunfall an und gewährt dem Kläger seit 16. September 2006 wegen der Folgen des Arbeitsunfalls eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 vH (Bescheid vom 14. November 2006). Das zuständige Versorgungsamt hat ferner einen Grad der Behinderung von 100 und die Merkzeichen „aG“, „G“, „H“ und „B“ festgestellt.

Im Januar 2016 beantragte der Kläger durch seinen Vater bei der Beklagten die Kostenübernahme von monatlich vier Besuchen einer Sexualbegleiterin. Es stehe dafür ein Netzwerk von Sexualbegleitungen, deren Mitarbeiterinnen zertifiziert seien, zur Verfügung. Der Kläger sei ein junger und vitaler Mann, der psychisch darunter leide, seine Sexualität nicht ausleben zu können. Mit Bescheid vom 22. März 2016 gewährte die Beklagte dem Kläger zunächst als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ein persönliches Budget für Sexualbegleitung durch besonders geschulte Dienstleisterinnen für den Zeitraum März 2016 bis Februar 2017 in Höhe von 720 Euro monatlich und schloss mit dem Kläger einen entsprechenden Budgetvertrag. Mit weiterem Bescheid vom 18. Januar 2017 bewilligte die Beklagte diese Leistung für weitere zwölf Monate bis Februar 2018.

Den Folgeantrag des Klägers aus November 2017 auf Gewährung eines weiteren persönlichen Budgets ab März 2018 lehnte die Beklagte jedoch mit Bescheid vom 9. März 2018 ab. Dem Kläger sei es wegen der Folgen des Arbeitsunfalls bisher nicht möglich gewesen, eine intime Beziehung mit einem anderen Menschen einzugehen. Zur Befriedigung seines Sexualtriebs nehme er daher die Dienste von Prostituierten in Anspruch. Es bestehe aber keine gesetzliche Grundlage, die hierdurch entstehenden Kosten als Leistung der gesetzlichen Unfallversicherung zu übernehmen. Leistungen zur Befriedigung des Sexualtriebs fielen nicht unter den Bereich der Heilbehandlung oder Pflege, weil es sich nicht um die Behandlung einer Krankheit bzw. nicht um Hilfe bei gewöhnlich regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens eines Menschen handele. Es handele sich auch nicht um Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, weil die Befriedigung sexueller Bedürfnisse durch den Einsatz Prostituierter nicht die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft ermögliche oder erleichtere. Denn die Sexualkontakte fänden ausschließlich statt in einem von der Außenwelt abgesonderten, geschützten Intimbereich. Es sei nicht ersichtlich, wie dem Kläger die Sexualkontakte mit Prostituierten gesellschaftliche Kontakte erleichtern sollten.

Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein und machte geltend, nach Sinn und Zweck des § 26 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) sei Sexualbegleitung als Element der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu betrachten. Mit Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 2018 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Auch nach Rechtsprechung des Bayrischen Verwaltungsgerichtshofs aus dem Jahr 2006 seien Maßnahmen zur Befriedigung von sexuellen Bedürfnissen nicht geeignet, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu fördern oder zu erleichtern.

Der Kläger hat am 20. Juni 2018 Klage erhoben. Er ist der Ansicht, nach Sinn und Zweck der Teilhabe von Behinderten müsse die Sexualbegleitung als Element der Teilhabe gesehen werden, weil ein sexuelles Leben und damit auch Sexualbegleitung zu den elementaren Aktivitäten der Teilhabe gehöre. Es handele sich um ein menschliches Bedürfnis und ein zentrales Element der interpersonellen Interaktionen und Beziehungen sowie des sozialen Lebens. Ferner sei das im Rahmen des Budgetvertrags verfolgte Ziel der Förderung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung und Ausleben der eigenen Sexualität grundrechtlich von Art. 2 und Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz geschützt. Bei der Auslegung und Weiterentwicklung des Teilhaberechts behinderter Menschen sei zudem die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen heranzuziehen. Danach sei das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung geschützt. Schließlich sei der Aspekt des sich als „Mannfühlens“ in Gestalt eines Sexuallebens Bestandteil des Pflegebedarfs.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 9. März 2018 und des Widerspruchsbescheides vom 15. Juni 2018 zu verpflichten, die Kosten für seine Sexualassistenz im Rahmen eines Persönlichen Budgets zu übernehmen und eine entsprechende Zielvereinbarung zu treffen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf die Begründung der angefochtenen Bescheide.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten (20 Bände) verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der geheimen Beratung waren.

Entscheidungsgründe

Die auf Gewährung eines persönlichen Budgets gerichtete kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage(§ 54 Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG) ist zulässig und begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Leistungen zur Sozialen Teilhabe und Gewährung eines persönlichen Budgets für die Inanspruchnahme von Sexualbegleitung.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem persönlichen Budget nicht um eine eigenständige Leistung handelt, sondern gemäß § 29 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) um eine besondere Form der Leistungsausführung. Dies bedeutet, dass der Anspruch nicht auf diese Vorschrift gestützt werden kann, sondern es bedarf einer Anspruchsgrundlage aus dem materiellen Leistungsrecht (BSG, Urteil vom 30.11.2011 - B 11 AL 7/10 R).

Materiell-rechtliche Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers ist §§ 26 Abs. 1, 29, 39 Abs. 1 SGB VII, § 76 SGB IX. Danach haben Versicherte unter Beachtung des SGB IX Anspruch auf Heilbehandlung einschließlich Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Sozialen Teilhabe, auf ergänzende Leistungen, auf Leistungen bei Pflegebedürftigkeit sowie auf Geldleistungen.

Bei der streitgegenständlichen Sexualbegleitung handelt es sich zunächst weder um Heilbehandlung einschließlich Leistungen zur medizinischen Rehabilitation noch um Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder um Leistungen zur Pflege. Dies ist offenkundig und bedarf keiner weiteren Ausführungen.

Die Sexualbegleitung stellt aber eine Leistung zur Sozialen Teilhabe (bis 30.6.2020 „Teilhabe in der Gemeinschaft“) im Sinne des § 76 SGB IX dar. § 39 Abs. 1 SGB VII verweist zwar zunächst nur auf § 64 Abs. 1 Nr. 2-6, Abs. 2 und §§ 73, 74 SGB IX und damit auf die hier nicht einschlägigen Leistungen für Beiträge und Beitragszuschüsse, für Reisekosten und Haushaltshilfe bzw. Kinderbetreuungskosten. Die Regelung macht aber deutlich, dass die Rehabilitation darauf gerichtet ist, nicht nur die gesundheitliche und berufliche Wiedereingliederung zu bewirken, sondern die Eingliederung in die Gesamtheit zwischenmenschlicher Ordnungen und Beziehungen zu erreichen. Ein Verweis auf die Vorschriften im SGB IX zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (Soziale Teilhabe) findet sich zudem in § 26 Abs. 1 SGB VII, so dass der fehlende Bezug in § 39 Abs. 1 SGB VII als Redaktionsversehen zu werten ist (vgl. Römer in Hauck/Noftz, SGB VII Kommentar, Lfg I/20-III/20, K § 39 Rn. 8) und auch die §§ 76 ff SGB IX zu berücksichtigen sind.

Als Leistungen zur sozialen Teilhabe werden diejenigen Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen oder erleichtern, § 76 Abs. 1 S. 1 SGB IX. Leistungen der sozialen Rehabilitation sehen Maßnahmen vor, die zum Bestandteil der persönlichen Lebensführung gehören, die Verbesserung der Lebensqualität bewirken sowie elementare Grundbedürfnisse befriedigen. Im leistungsrechtlichen Sinn kann also allgemein von sozialer Teilhabe und Rehabilitation gesprochen werden, wenn die Maßnahmen in der Verbesserung der Lebensqualität und in der Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse ihren Schwerpunkt haben; darüber hinaus müssen nach dem Gesetzeswortlaut des § 76 SGB IX diese Leistungen geeignet und erforderlich sein, um die gesellschaftliche Integration des konkreten Menschen mit Behinderung zu ermöglichen oder zu sichern (Luthe in jurisPK-SGB IX, 3. Aufl. 2018 Stand 9.11.2020 § 76 Rn. 17).

Der Kläger ist - was zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig ist - aufgrund der Verletzungsfolgen nicht in der Lage, eine partnerschaftliche Beziehung zu einer Frau aufzubauen und seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Sexualbegleitung ohne Zweifel ihren Schwerpunkt in der Verbesserung der Lebensqualität des Klägers und der Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse und damit eines elementaren Grundbedürfnisses.

Darüber hinaus ist die Sexualbegleitung entgegen der Ansicht der Beklagten auch geeignet, eine gleichberechtigte Teilhabe des Klägers am Leben in der Gemeinschaft zu erleichtern. Die Sexualbegleitung fällt zwar nicht unter die ausdrücklich in § 76 Abs. 2 SGB IX genannten Leistungen. Diese Aufzählung ist aber nur bespielhaft und nicht abschließend („insbesondere“). Es handelt sich um einen offenen Leistungskatalog, Art und Umfang der Leistungen zur sozialen Teilhabe hängen von den Umständen des Einzelfalls sowie dem als erreichbar angesehenen Rehabilitationsziel ab (Römer in Hauck/Noftz a.a.O., K § 39 Rn. 8a). Insofern kann auch die Feststellung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages nicht überzeugen, in der offenbar aus der Tatsache, dass § 76 Abs. 2 und § 78 SGB IX Leistungen der Sexualassistenz nicht erwähnen, geschlossen wird, die gesetzlichen Regelungen zu Teilhabe würden keine Kostenübernahe vorsehen (Sachstand Sexualassistenz für Menschen mit Behinderung, WD 6-3000-052/18 S. 4; Axmann in RdH 3/2020, S. 129 ff).

Die Sexualbegleitung ist auch geeignet und erforderlich, um die gesellschaftliche Integration des Klägers zu ermöglichen. Dem steht entgegen der Ansicht der Beklagten nicht entgegen, dass die Sexualkontakte ausschließlich in einem von der Außenwelt abgesonderten und geschützten Intimbereich stattfinden und keine Kontakte nach außen vermitteln und dies auch gar nicht das Ziel der Sexualbegleitung darstellt. Die von dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vertretene entgegenstehende Auffassung (Urteil vom 10.5.2006 – 12 BV 06.320) - der sich die Beklagte angeschlossen hat -, ein Anspruch auf Ganzkörpermassagen zur Befriedigung des sexuellen Bedürfnisses bestehe nicht, „weil die Befriedigung eines sexuellen Bedürfnisses (…) nicht die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft“ ermögliche oder erleichtere, weil die Massagen ausschließlich in einem von der Außenwelt abgesonderten, geschützten Intimbereich stattfänden und keinerlei Kontakte nach außen vermittelten, trifft nach Ansicht des Gerichts so pauschal nicht zu und ist auch nicht auf andere Bereiche der Sexualassistenz zu übertragen. Der Bereich der Sexualität ist ein relevanter Aspekt des sozialen Lebens. Sexuelle Bedürfnisse zählen zu den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen und können daher im Rahmen von Teilhabeprozessen auch indirekt eine große Rolle spielen (vgl. Rosenow in Fuchs, Ritz, Rosenow SGB IX Kommentar, 7. Aufl. 2021, § 113 Rn. 54). Die persönliche Entwicklung, das seelische Befinden und das Selbstbewusstsein eines Menschen wird erheblich beeinflusst durch die selbstbestimmte Sexualität, die damit Voraussetzung ist für eine wirksame und gleichberechtigte Teilhabe und soziale Eingliederung des Menschen mit Behinderung. Und weil der Normzweck der Leistungen zur Teilhabe gerade nicht beschränkt ist auf die Erleichterung gesellschaftlicher Kontakte, sondern auch die Förderung der ganzheitlichen persönlichen Entwicklung und der Erleichterung einer möglichst selbständigen und selbstbestimmen Lebensführung (§ 4 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX) erreicht und dadurch die Teilhabe am „Leben in der Gemeinschaft“ ermöglicht werden soll, stellt die Sexualbegleitung im Fall des Klägers eine geeignete Leistung zur Integration in die Gesellschaft dar. Denn von dem Begriff der persönlichen Lebensführung ist auch die Sexualität als elementares Grundbedürfnis erfasst. Die Leistungen zur sozialen Teilhabe reduzieren sich folglich nicht darauf, Kontakte zur Außenwelt zu knüpfen oder Hilfsmittel zur Bewältigung der Anforderungen des täglichen Lebens bereitzustellen, sondern sie sollen auch das gestörte seelische Befinden des behinderten Menschen verbessern und sein Selbstbewusstsein stärken (Römer in Hauck/Noftz a.a.O. K § 39 Rn. 8a). Nach Ansicht der Kammer ist es daher verfehlt, den Kontakt mit anderen Menschen in der Öffentlichkeit als Voraussetzung für die gesellschaftliche Integration eines Menschen mit Behinderung zu fordern. Auch im privaten und vertrauten Bereich, wie hier im Rahmen der Sexualität, ist sicherzustellen, dass die soziale Teilhabe des behinderten Menschen nicht eingeschränkt wird.

Andere geeignete Mittel zu Ermöglichung einer selbstbestimmten Sexualität des Klägers als die Inanspruchnahme von Sexualbegleitung sind gegenwärtig nicht zu erkennen.

Die Notwendigkeit des Abschlusses einer Zielvereinbarung zwischen Kläger und Beklagter zur Umsetzung des Persönlichen Budgets ergibt sich aus § 29 Abs. 4 SGB IX.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.