Sozialgericht Aurich
v. 27.05.2009, Az.: S 8 KR 66/08
Kostenübernahme für die Inanspruchnahme eines Gebärdendolmetschers bei ärztlichen Untersuchungen; Notwendigkeit eines Gebärdendolmetschers bei Vorliegen einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit
Bibliographie
- Gericht
- SG Aurich
- Datum
- 27.05.2009
- Aktenzeichen
- S 8 KR 66/08
- Entscheidungsform
- Gerichtsbescheid
- Referenz
- WKRS 2009, 50020
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGAURIC:2009:0527.S8KR66.08.0A
Rechtsgrundlagen
- § 75 Abs. 5 SGG
- § 10 SGB I
- § 17 Abs. 2 SGB I
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 28.01.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2008 wird aufgehoben. Die Beigeladene wird verpflichtet, die durch die Verwendung der Gebärdensprache bei ärztlichen Untersuchungen entstehenden Kosten zu tragen. Die Beklagte und die Beigeladene haben der Klägerin gesamtschuldnerisch die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Kostenübernahme für die Verwendung der Gebärdensprache bei ärztlichen Untersuchungen.
Die 1981 in Polen geborene und dort aufgewachsene Klägerin war bei der Beklagten bis zum 30.09.2008 als Bezieherin von Arbeitslosengeld II krankenversichert. Aufgrund eines Wohnortwechsels ist sie seit dem 01.10.2008 bei der Beigeladenen krankenversichert. Die Klägerin leidet seit ihrer Geburt an einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit. Sie wurde im Februar 2006 linksseitig mit einem Cochlea-Implantat (CI) versorgt. Nachdem die Beklagte in der Vergangenheit die Kosten für einen Gebärdendolmetscher übernommen hatte, holte sie aus Anlass ihr zur Erstattung vorgelegter Rechnungen vom 23.07. und 14.08.2007 ein nach Aktenlage erstattetes Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 01.11.2007 ein. Darin heißt es, nach den vorliegenden Unterlagen des E. habe die Klägerin nach linksseitiger CI-Versorgung und erfolgter Rehabilitation ein situatives auditives Sprachverständnis für Polnisch entwickelt, das sie im Alltag mit Lippenlesen kombiniere. Es sei für die Klägerin somit möglich, auf Polnisch zu kommunizieren. Die beantragte Kostenübernahme für einen Gebärdensprachdolmetscher sei vor diesem Hintergrund aus sozialmedizinischer Sicht nicht nachvollziehbar. Bei der Klägerin habe ein Behinderungsausgleich ihrer Gehörlosigkeit durch die CI-Versorgung stattgefunden. Sie sei auch motiviert und engagiert, die deutsche Sprache zu erlernen. Bis sie auch auf Deutsch komplexere Zusammenhänge verstehen könne, sei jedoch lediglich ein Dolmetscher für die Übersetzung vom Deutschen ins Polnische nötig. Daraufhin teilte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 23.11.2007 mit, dass die Kosten für einen Gebärdendolmetscher letztmalig übernommen würden. Anspruchsvoraussetzung für die Kostenübernahme sei, dass es sich um einen schwerhörigen Menschen handele, dessen Restgehör trotz Hörhilfe nicht zur Sprachaufnahme ausreiche (auf beiden Ohren mindestens ein Hörverlust von 80 %). Nach der Stellungnahme des MDK sei die Notwendigkeit eines Gebärdendolmetschers nicht erkennbar. Es könnten somit zukünftig Kosten für einen Gebärdendolmetscher nicht übernommen werden.
Mit Schreiben vom 28.01.2008 beantragte die Klägerin im Hinblick auf vorgesehene Arztbesuche am 05.02.2008 erneut die Kostenübernahme für einen Gebärdendolmetscher, da sie zum Verständnis auf Gebärden angewiesen sei. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid vom 28.01.2008 unter Hinweis auf den vorangegangenen Bescheid ab.
Hiergegen legte die Klägerin unter Vorlage einer Bescheinigung des F. vom 10.02.2008 Widerspruch ein. Darin heißt es, die Klägerin sei derzeit noch nicht in der Lage, deutsche lautsprachige Mitteilungen rein auditiv sowie unter Zuhilfenahme von Lippenlesen zu verstehen. Ihr situatives auditives Sprachverständnis gelte nur für die polnische Sprache. Um komplexe deutsche lautsprachige Mitteilungen zu verstehen, sei sie nach wie vor auf die Hilfe eines Gebärdensprachdolmetschers angewiesen. Nachdem der MDK in einer Stellungnahme vom 28.02.2008 keine neuen medizinischen Gesichtspunkte gesehen hatte, wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16.04.2008 als unbegründet zurück. Die Krankenkasse habe mit dem CI die Behinderung ausgeglichen und danach für fast zwei Jahre die notwendige Rehabilitation zur Eingewöhnung übernommen. Bei den jetzt vorgetragenen Problemen handele es sich im Kern nicht mehr um ein "gehör-technisches Defizit", sondern um ein "sprachlich-inhaltliches Problem". Dieses Problem trete auch bei gesunden Menschen ohne Hörschädigung auf und führe auch dort nicht zu einem Leistungsanspruch aus der Krankenversicherung.
Mit der am 14.05.2008 erhobenen Klage macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, sie könnte trotz des CI auch in Polen nicht ohne Gebärdendolmetscher komplexere Sachverhalte verstehen. Sie bräuchte für Arztbesuche oder Behördengänge genauso wie in Deutschland einen Gebärdendolmetscher. Trotz der Operation sei sie zu 100% hörbehindert. Sie gehe daher nur noch in Notfällen zum Arzt, da sie nur die Hälfte von dem, was gesagt werde, verstehe. Dieses reiche bei Arztbesuchen nicht aus. Hier müsse sie auch komplexere Zusammenhänge hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Situation verstehen können. Im Übrigen sie die Gebärdensprache für sie die angenehmere Form der Kommunikation.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,
- 1.
den Bescheid vom 28.01.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2008 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte, hilfsweise die Beigeladene, zu verurteilen, die durch die Verwendung der Gebärdensprache entstehenden Kosten zu tragen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Bescheide für zutreffend und beruft sich auf ein weiteres von ihr eingeholtes MDK-Gutachten vom 24.06.2008, welches ebenfalls nach Aktenlage erstattet worden ist.
Die Beigeladene beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt vor, es seien erhebliche Zweifel verblieben, ob bei der Klägerin nach erfolgter CI-Versorgung die vom Gesetz geforderte Schwerhörigkeit vorliege. Die Klägerin habe nach der Versorgung mit dem Implantat ein situatives Sprachverständnis für Polnisch entwickelt. Lediglich das Sprachverständnis für Deutsch sei begrenzt. Komplexere medizinische Zusammenhänge würden oft auch von nicht hörgeschädigten Menschen nicht verstanden, insbesondere wenn sie nicht in ihrer Muttersprache formuliert würden.
Die Klägerin ist in einem Erörterungstermin am 26.03.2009 unter Hinzuziehung einer Dolmetscherin der polnischen Sprache persönlich gehört worden. Auf die Sitzungsniederschrift wird insoweit Bezug genommen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Prozessakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte gemäß § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten vorher gehört worden sind.
Die zulässige Klage ist begründet.
Die Beklagte hat die Kostenübernahme für einen Gebärdendolmetscher bei Arztbesuchen mit den angefochtenen Bescheiden zu Unrecht abgelehnt. Nachdem die Klägerin nunmehr bei der Beigeladenen krankenversichert ist, war diese gemäß § 75 Abs. 5 SGG zur Leistung zu verpflichten.
Anspruchsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 17 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I). Danach haben hörbehinderte Menschen das Recht, bei der Ausführung von Sozialleistungen, insbesondere auch bei ärztlichen Untersuchungen und Behandlungen, Gebärdensprache zu verwenden. Die für die Sozialleistung zuständigen Leistungsträger sind verpflichtet, die durch die Verwendung der Gebärdensprache und anderer Kommunikationshilfen entstehenden Kosten zu tragen. Diese Vorschrift räumt hörbehinderten Menschen ausdrücklich ein subjektiv-öffentliches Recht auf Verwendung der Gebärdensprache ein. Sie konkretisiert § 10 SGB I, wonach behinderte Menschen zur Förderung ihrer Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe ein Recht auf die Hilfe haben, die notwendig ist, um (unter anderem) die Folgen der Behinderung zu mildern, eine möglichst selbstständige oder selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern sowie Benachteiligungen aufgrund der Behinderung entgegenzuwirken.
Das Recht auf Verwendung der Gebärdensprache setzt nach dem eindeutigen Wortlaut des § 17 Abs. 2 S. 1 SGB I lediglich voraus, dass eine Hörbehinderung vorliegt. Dieses ist bei der Klägerin zweifellos der Fall. Da der Begriff der Hörbehinderung in § 17 Abs. 2 S. 1 SGB I nicht definiert ist, muss auf die allgemeine Definition der Behinderung in § 2 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) zurückgegriffen werden. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Davon ausgehend liegt bei der Klägerin eine körperliche Behinderung in Form einer Hörbehinderung vor, da in Folge einer körperlichen Regelwidrigkeit (Fehlfunktion des Gehörorgans) eine Funktionsbeeinträchtigung besteht und eine sprachliche Verständigung über das Gehör nur mit Hörhilfen möglich ist. Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass die Klägerin mit einem CI versorgt worden ist. Denn dabei handelt es sich lediglich um eine Hörhilfe, die an die Funktion des gesunden Organs nicht annähernd heranreicht. Hinzu kommt, dass lediglich eine einseitige CI-Versorgung erfolgt ist, die insbesondere ein ausreichendes Sprachverständnis im Störschall nicht ermöglicht. Hierfür ist grundsätzlich eine beidseitige CI-Versorgung erforderlich (vgl. Stellungnahme zur CI-Versorgung des F. vom 15.02.2008). Demgemäß wird auch in dem MDK-Gutachten zur beidseitigen CI-Versorgung vom 18.03.2008 eine Versorgung auch des rechten Ohrs befürwortet, um eine erweitere Kommunikation im Sinne eines verbesserten auditiven Sprachverständnisses und eines, wenn auch nur geringen, Richtungshörens zu ermöglichen. In dem Gutachten wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch mit einer beidseitigen CI-Versorgung ein mit einem nicht hörgeschädigten Menschen vergleichbares Gehör bei weitem nicht erzielt werden könne. Nach alledem gehört die Klägerin unabhängig von der Frage, welche Hörleistungen durch die einseitige CI-Versorgung tatsächlich erreicht worden sind, zweifellos weiterhin zum Personenkreis der hörbehinderten Menschen.
Als hörbehinderter Mensch hat die Klägerin nach dem eindeutigen Wortlaut des § 17 Abs. 2 S. 1 SGB I das Recht, bei ärztlichen Untersuchungen die Gebärdensprache zu verwenden. Die Krankenkasse ist verpflichtet, die entstehenden Kosten zu tragen. Die Inanspruchnahme dieses Rechts setzt entgegen den Richtlinien der Beklagten (Bl. 5/6 der Verwaltungsakte) nicht voraus, dass eine Gehörlosigkeit oder aber eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit mit einem Hörverlust von mindestens 80% auf beiden Ohren vorliegt. Ebenso wenig setzt das Gesetz voraus, dass dem Betroffenen ohne die Verwendung der Gebärdensprache die Wahrnehmung seiner sozialen Rechte nicht oder nicht vollständig möglich ist. Vielmehr hat es der Gesetzgeber bei der Ausführung von Sozialleistungen, insbesondere bei ärztlichen Untersuchungen und Behandlungen, der Entscheidung des hörbehinderten Menschen überlassen, ob er die Gebärdensprache verwendet. Dieses zeigt auch ein Vergleich mit der ergänzenden Vorschrift des § 57 SGB IX, der für hörbehinderte Menschen oder Menschen mit besonders starker Beeinträchtigung der Sprachfähigkeit "aus besonderem Anlass" Hilfen zur Förderung der Verständigung mit der Umwelt vorsieht. Diese Vorschrift verlangt ausdrücklich, dass für die Sprachmittlungshilfe durch einen Dritten ein Bedarf besteht. Ein Anspruch auf Hilfen nach dieser Vorschrift besteht somit dann nicht, wenn auch ohne diese eine ausreichende Verständigung möglich ist. Diese Voraussetzung ist allerdings in der hier einschlägigen Vorschrift des § 17 Abs. 2 SGB I, die speziell für die Ausführung von Sozialleistungen gilt, gerade nicht normiert. Vor diesem Hintergrund verbietet sich auch ein Rückgriff auf das allgemeine krankenversicherungsrechtliche Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V), zumal dieses nur für die Leistungen der Krankenversicherung gilt, während hier ein Verfahrensrecht bei der Ausführung von Leistungen in Rede steht.
Nach alledem kann das Recht hörbehinderter Menschen auf Verwendung der Gebärdensprache bei Arztbesuchen nur dort eine Grenze finden, wo dieses Recht missbräuchlich in Anspruch genommen wird. Dieses könnte etwa dann angenommen werden, wenn eine Kommunikation auch ohne Gebärdensprache problemlos möglich ist oder - was vorliegend in Betracht käme - die Verständigungsprobleme allein auf fehlende Sprachkenntnisse zurückzuführen sind. Ein solcher Sachverhalt liegt hier allerdings nach dem Ergebnis der persönlichen Anhörung der Klägerin im Erörterungstermin am 26.03.2009 nicht vor. Danach treten - auch bei Verwendung der Muttersprache der Klägerin - weiterhin erhebliche Kommunikationsschwierigkeiten auf, die angesichts der fortbestehenden Hörbehinderung der Klägerin auch zu erwarten waren. Auch in dem MDK-Gutachten vom 26.06.2008 wird der Klägerin eine fortbestehende Einschränkung der Kommunikationsfähigkeit zugestanden. Die Einschätzung des MDK, dass es einem polnischen Dolmetscher möglich sein sollte, in ruhiger Umgebung auch komplexe Zusammenhänge so zu schildern, dass die Klägerin diese bei gegebener Möglichkeit des Lippenlesens auch verstehen könne, erscheint zwar nachvollziehbar. Damit ist aber lediglich belegt, dass die Klägerin mit einem polnisch sprechenden Arzt einfacher kommunizieren könnte. Da aber unabhängig von der Verwendung der polnischen oder der deutschen Sprache eine deutliche Beeinträchtigung der Kommunikationsfähigkeit vorliegt, ist die Klägerin nach § 17 Abs. 2 S. 1 SGB I ohne weiteres berechtigt, bei Arztbesuchen die Gebärdensprache zu verwenden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG. Nachdem sowohl die Beklagte als auch die Beigeladene die Kostenübernahme abgelehnt haben, erscheint es sachgerecht, ihnen die außergerichtlichen Kosten der Klägerin gesamtschuldnerisch aufzuerlegen.